Reihe: Dramaturginnen der ARD

Lina Kokaly: Ich bin ein Serienjunkie

09:47 Minuten
Auf dem Bild ist die Hörspieldramaturgin Lina Kokaly zu sehen. Sie lächelt freundlich in die Kamera.
Die Hörspieldramaturgin Lina Kokaly © Benjamin Eichler
Von Raphael Smarzoch · 30.04.2019
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Lina Kokaly, Hörspieldramaturgin bei Radio Bremen, ist auf der Suche nach ungewöhnlichen Geschichten und neuen Möglichkeiten, sie im Hörspiel darzustellen. Im seriellen Erzählen sieht sie das Potential, komplexe Stories zu entwerfen. Gleichzeitig bringt diese Erzählform neue Herausforderungen mit sich.
Lina Kokaly Fragebogen
Lina Kokaly: Ich bin Lina Kokaly und ich arbeite bei Radio Bremen. Da betreue ich Hörspielserien.
Frage: Können Sie sich noch an ihr erstes Hörspiel erinnern, das Sie gehört haben?
Kokaly: Ich bin Kassetten-Kind und ich bin tatsächlich mit Hörspielen aufgewachsen wie Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg, also genau die Hörspiele, die ich jetzt auch mit meiner Tochter höre.
Frage: Was fasziniert Sie am Hörspiel?
Kokaly: Es zählt immer die Geschichte, die muss mich überzeugen, und die Geschichte muss natürlich auch spannend erzählt sein. Das gilt hier noch viel mehr als im Film, weil im Film da kriege ich auch große Bilder und große Bilder können durchaus über dramaturgische Schwächen hinwegtäuschen. Das Hörspiel, da muss es immer passen. Die Geschichte geht über alles.
Frage: Was macht ein zeitgenössisches Hörspiel aus?
Kokaly: Wir haben das Netz jetzt und wir haben damit Podcast. Ich denke, dieses zeitgemäße Hörspiel muss sich nicht mehr an so einer klassischen, einer klassischen Stundenuhr, die wir aus den Hörfunkwellen kennen, halten. Die Geschichte, die kann jetzt so lange erzählt werden wie es für die Geschichte am besten ist. Also auch kürzer sein, mal länger sein, je nachdem eben. Man kann die Folge jeweils so lange machen wie es für die Dramaturgie am sinnvollsten ist.
Frage: Was muss ein gelungenes Hörspiel bei seinen Zuhörern auslösen?
Kokaly: Da ist meine Antwort so profan, dass ich ein bisschen befürchte, mich lächerlich zu machen, aber letztendlich muss man sich gut unterhalten fühlen und darf sich nie langweilen.
Frage: Was muss eine gute Hörspiel-Dramaturgin können?
Kokaly: Sie muss eine gute Geschichte erkennen können. Das ist unfassbar schwierig manchmal, weil gerade auch Exposés, die man häufig vorher bekommt, einen bestimmten Charakter haben und der nicht unbedingt die Serie oder das Hörspiel an sich schon kompakt einfangen kann.
Frage: Welches Potential steckt im Hörspiel, das noch nicht ausgeschöpft wurde?
Kokaly: Meine Meinung ist, dass wir viel mehr spannende Stoffe brauchen. Wir haben schon viele historische Stoffe, das finde ich auch gut, aber es kann auch gerne mal etwas anderes sein! Und wir haben auch viele Krimis, auch Krimis mag ich gern. Ich habe gar nichts gegen Krimis, aber ich vermisse Mistery. Ich vermisse Fantasy. Ich vermisse so ein bisschen ein Spiel mit verschiedenen Genres, und was wir auch ganz viel haben im Hörspiel sind Roman-Adaptionen. Auch da habe ich gar nichts gegen, aber wir brauchen auch mehr Urstoffe.
Lina Kokaly, Hörspieldramaturgin
Kokaly: Ich bin ein Serienjunkie. Total. Mir liegt das serielle Erzählen sehr. Ich habe mich von Anfang an schon, im Studium hat mich die Dramaturgie von Fortsetzungsgeschichten fasziniert.
Alle Hörspiele, die Lina Kokaly bislang betreut hat, sind Serien gewesen. Im seriellen Erzählen sieht die Hörspieldramaturgin die Möglichkeit, Geschichten zu entwickeln, die anders sind. Das Format der Serie gibt dem Hörspiel mehr Erzählzeit. Dadurch ist es möglich, eine Story zu konzipieren, die stärker in die Tiefe geht und vielschichtiger ist. Das trifft auch auf die Charaktere zu, deren Gestaltung mehr Entwicklungsspielraum bekommt.
Kokaly: Ich möchte gerne wissen, wie sich Figuren entwickeln. Und was mir auch sehr gefällt, ist eine Dramaturgie, die häufig auf prägnante Einstiege setzt und auf Cliffhanger. Ich mag, dass einfach zwischendurch das Interesse extrem dadurch gesteigert wird, dass am Ende mich etwas schockiert.
Die Erzeugung von Sucht
Es geht darum, Sucht zu erzeugen, erläutert Lina Kokaly. Auch wenn diese Form des Erzählens nicht neu ist, man denke zum Beispiel an Fortsetzungsromane, sind es doch die heutigen Fernsehserien, die von großen Streaming-Diensten produziert und angeboten werden, die Kokalys Herangehensweise an die Entwicklung von Hörspiel-Stoffen maßgeblich beeinflussen und auch vor neue Herausforderungen stellen. Schließlich ist es möglich und sogar erwünscht, dass Hörer alle Folgen nacheinander konsumieren. Das sogenannte Binge-Watching, das Komaglotzen, wird zum Binge-Listening. Eine neue Hörgewohnheit, die bei der Entwicklung der Dramaturgie berücksichtigt werden muss.
Kokaly: Wie müssen wir Figuren, die eine Weile nicht aufgetaucht sind, wieder einführen? Dann muss man auch noch viel ausprobieren. Dadurch, dass wir die Nutzungsgewohnheiten noch gar nicht so gut kennen, müssen wir dort versuchen, unseren gesunden Menschenverstand zu bemühen und zu überlegen, wie wir das dramaturgisch bauen würden, bevor wir wirklich Statistiken haben, wo wir uns sicher sein können. Wenn ich Figur XY nach zwei Stunden wieder herhole, dann muss ich irgendeinen Marker haben, irgendein Auftreten oder sie muss so besonders angesprochen werden, dass ich mich daran erinnere, welche Funktion sie nochmal hatte. Da ist noch viel herauszufinden.
Mit diesen Fragen musste sich Lina Kokaly in der Hörspielserie "Der nasse Fisch" auseinandersetzen, deren Dramaturgie sie zusammen mit ihrem Kollegen Holger Rink entwickelte. Die Serie entstand in Kooperation mit dem WDR und RBB und basiert auf dem gleichnamigen Buch von Volker Kutscher, das wiederum Vorlage für die erfolgreiche TV-Serie "Babylon Berlin" war. Bei der Entwicklung des Hörspiels war es Kokaly wichtig, eine neue Interpretation der Geschichte zu konzipieren und den Stoff nicht einfach nur zu wiederholen.
Kokaly: Mal ganz konkret: Bei uns steht eine Leiche vom Seziertisch auf und singt. Das würde im Roman nicht funktionieren und das wäre auch in der TV-Serie unfreiwillig komisch und würde da so ein absurdes Element hineinbringen. Bei uns im Hörspiel fügt es sich. Man nimmt es hin. Es ist eine weitere Erzählebene, die dazu passt.
Hörbeispiel: "Der nasse Fisch"
Lina Kokaly verbringt ihre Kindheit in der arabischen Welt, bevor ihre Familie nach Deutschland emigriert. Sie wächst in Bethlehem auf. Ihren multikulturellen Background begreift die Hörspieldramaturgin nicht als Nachteil. Die Fähigkeit, sich in zwei unterschiedlichen Kulturen zurechtzufinden, hat einen positiven Einfluss auf ihre Arbeit.
Kokaly: Ich glaube, dass es meine Sicht auf Themen schon ändert, dass ich zwei Kulturen sehr nahe bin. Ich glaube, es hilft um den Kopf frei zu haben und Stoffe so auszuwählen, dass sie mehr Menschen ansprechen. Ich bilde mir ein, Stücke, die ich mitbetreut habe, die exotisieren nicht überflüssig oder die gehen mit verschiedenen Identitäten selbstverständlicher um.
Die Analyse eines digitalen Lebensgefühls
Um Identität geht es auch in dem Hörspiel "Dreissig" der Journalistin Laura Naue. Nach ihrem dreißigsten Geburtstag beginnt sie sich zu fragen, was ihre Generation glücklich macht. In langen Gesprächen mit ihren Freunden geht sie auf die Suche nach dem Glück. Eine Suche, die gleichzeitig auch zu einer Analyse eines Lebensgefühls wird, das hauptsächlich online zum Ausdruck kommt.
Hörbeispiel: "Dreissig - Eine Suche nach dem Glück"
Kokaly: Viele werden 30, fühlen sich aber eigentlich noch so, als wäre noch nichts im Leben entschieden, überlegen nochmal, alles neu zu machen. Und dieses Lebensgefühl nehme ich ganz viel im Netz auf. Zum Beispiel gibt es ganz viele Memes, die sich damit beschäftigen wie das Lebensgefühl der 20-Jährigen aussieht, so zwischen 20 und 30. Es gibt ganz viel dieses, oh je, das sind alles nur First World Problems, aber ich schaffe es trotzdem nicht an die Fernbedienung ran. Und dieses Lebensgefühl ist für mich ein richtiges Phänomen. Ich empfinde das selber nicht. Ich war mit Mitte dreißig schon sehr gefestigt, in dem was ich wollte.
Mit Mitte dreißig blickt Lina Kokaly bereits auf ein Volontariat im Hörfunk und ein abgeschlossenes Literatur-Studium in Berlin zurück. Dieses Studium konfrontiert sie nicht nur mit neuen literarischen Eindrücken. Es bringt sie auch mit Menschen zusammen, die ihre Passion für Geschichten teilen und vermittelt ihr ebenfalls das theoretische Handwerk, Texte zu analysieren.
Kokaly: Man hat einmal wirklich Texte durchdrungen und ich glaube dieses Durchdringen von Texten hilft enorm. Wenn man dann bei einem neuen Text beurteilen muss, ist das wirklich fürs Hörspiel geeignet? Ist es wirklich gut? Ist es wirklich innovativ genug, als dass ich mich dem widmen möchte.
Wobei es Lina Kokaly wichtig hervorzuheben ist, dass ein bewährtes Setting auch interessante Resultate hervorbringen kann. Etwa wie in der Hörspielserie "Paartherapeut Klaus Kranitz". Darin geht es um einen ehemaligen Immobilienmakler, der als Paartherapeut zu arbeiten beginnt und die seltene Fähigkeit besitzt, Probleme seiner Kunden sofort zu durchdringen und mit ungewöhnlichen Methoden zu therapieren.
Hörbeispiel: "Paartherapeut Klaus Kranitz"
Alle Folgen der mehrteiligen Hörspielserie, die sich mittlerweile in der zweiten Staffel befindet, sind improvisiert. Es gibt kein Skript. Zu Beginn jeder Episode wurden lediglich Vorgespräche mit den Schauspielern geführt. Anschließend wurde aufgenommen. Auch das ist ein Markenzeichen von Lina Kokalys Arbeitsweise: das Experimentieren mit offenen Versuchsanordnungen und die damit einhergehende Bereitschaft, sich auf Unvorhergesehenes einzulassen.
Kokaly: Wir sind ein Risiko eingegangen und wir haben Sendestrecke zu füllen gehabt. Wir haben aber gedacht, dass das klappt, weil wir mit so viel Leidenschaft dran sind. Ich habe nur gute Erfahrungen damit gemacht tatsächlich, weil die Leute freuen sich, wenn man ihnen vertraut, die nehmen das wirklich sehr ernst. Wer verspielt schon so ein Vertrauen, dass er bekommt. Das passiert eigentlich nicht und gerade beim Paartherapeuten sind so lustige Dinge dabei rausgekommen, die hätten wir uns nicht ausdenken können.
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