Andrzej Leder: "Polen im Wachtraum"

Kollektives Verharren im Opferstatus

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Buchcover "Polen im Wachtraum" von Andrzej Leder
Durch den Mord an drei Millionen polnischen Juden habe es für Katholiken große Aufstiegsmöglichkeiten in Polen gegeben, schreibt der Psychoanalytiker Andrzej Leder. © Fibre Verlag Osnabrück
Von Martin Sander · 01.07.2019
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In Polen gab es von 1939 bis 1956 einen radikalen Umbruch, von dem breite Bevölkerungsschichten profitierten. Doch diese hätten sich nicht als Gewinner, sondern vielmehr als Opfer und von fremden Mächten besetzt gefühlt, schreibt der Psychotherapeut Andrzej Leder.
In der aktuellen polnischen Geschichtsforschung spielt Andrzej Leder eine Sonderrolle. Leder, 1960 in Warschau geboren, arbeitet am Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er hat aber auch Medizin studiert und ist als Psychotherapeut tätig.
Sein 2014 im Original erschienener Essay, der nun unter dem Titel "Polen im Wachtraum" auf Deutsch vorliegt, wurde in Polen intensiv und kontrovers diskutiert. Kein Wunder, denn Leder legt darin die polnische Gesellschaft kollektiv auf die Couch und stellt bis dahin nicht bekannte Diagnosen: Die Polen hätten eine nicht nur beispiellose, sondern auch bis heute nachwirkende Revolution erlebt, ohne diese verarbeiten zu können oder zu wollen.

Das Bürgertum war ausgelöscht

Laut Leder hat sich in Polen zwischen 1939 und 1956 ein radikaler sozialer Umbruch vollzogen. Das Besondere daran: Fremde Mächte trugen die Verantwortung. Die deutschen Besatzer hätten im Zweiten Weltkrieg durch die Ermordung von drei Millionen polnischen Juden zugleich den größten Teil des polnischen Bürger- und Kleinbürgertums ausgelöscht. Dadurch hätten sie bis dahin unvorstellbare Aufstiegsmöglichkeiten für die katholischen Polen geschaffen.
Nach Kriegsende habe dann eine unter dem Diktat der Sowjetunion durchgeführte Landreform der zuvor mächtigen Klasse der Gutsbesitzer das Rückgrat gebrochen. So seien neue Chancen für Millionen von Landarbeitern, häufig Analphabeten, entstanden. Leder interessiert, wie sich die fremdbestimmte Revolution auf das politische Denken und Handeln der Betroffenen, vor allem der Begünstigten langfristig auswirkt.

Lähmung bis in die Gegenwart

Der Warschauer Geschichtspsychologe ist davon überzeugt, dass sich die Nutznießer der von Fremden initiierten Revolution ihrer Rolle in den Umwälzungen nie bewusst wurden. Vielmehr hätten sie die Revolution, so Leder in seinem Essay, als Wachtraum erlebt.
Ein großer Teil der polnischen Bevölkerung hätte von den sozialen Umbrüchen profitiert, diesen Umstand aber nie reflektiert. Stattdessen hätten sie sie sich als kollektives Opfer fremder Herrscher, der Deutschen und der Sowjets, empfunden, ein Bewusstsein, das sich über Generationen verfestigt habe.
Das Verharren im Opferstatus und die unverarbeitete eigene Rolle in den Umbrüchen lähmen die Gesellschaft bis in die Gegenwart, so Leders These. Dadurch werde ein reifes zivilgesellschaftliches Handeln stark beeinträchtigt.
Andrzejs Leders Buch zeigt am polnischen Beispiel eindrücklich, was auch in anderen vormals sozialistischen Gesellschaften im mittleren und östlichen Europa bis in die Gegenwart nachwirkt – nicht zuletzt im Osten Deutschland.
"Polen im Wachtraum", mit einer nützlichen Einführung des deutschen Historikers Felix Ackermann, erweist sich als sprachlich anspruchsvolle, allemal packende Lektüre zu einem historischen Thema von hoher Aktualität.

Andrzej Leder: Polen im Wachtraum. Die Revolution 1939 – 1956 und ihre Folgen
Aus dem Polnischen von Sandra Ewers. Mit einer Einführung von Felix Ackermann
Fibre Verlag, Osnabrück 2019
256 Seiten, 28 Euro

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