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Ein Utopist des Sports

Sein Verdienst, nach 15 Jahrhunderten die antiken Olympischen Spiele neu begründet zu haben, machte den französischen Aristokraten Pierre Baron de Coubertin weltberühmt. In seiner Heimat jedoch diskreditierte er sich durch seine Begeisterung für die Olympischen Spiele von Berlin 1936. Verarmt und isoliert starb Coubertin ein Jahr später im selbst gewählten schweizerischen Exil.

Von Stefan Fuchs | 02.09.2007
    "Das wichtigste Kennzeichen des olympischen Geistes in Antike wie Moderne ist, dass er eine Religion ist. Der Athlet formt seinen Körper durch Leibesübungen, wie ein Bildhauer eine Statue in Stein meißelt. Der Athlet der Antike ehrte die Götter, der Athlet der Moderne verherrlicht sein Vaterland, seine Rasse, seine Flagge. Ich habe deshalb die Erneuerung des olympischen Geistes von Anfang an mit der Wiederbelebung dieses religiösen Gefühls verbunden, das in der Gegenwart durch den Internationalismus und die Demokratie erweitert und umgeformt wurde, und das dennoch jenes ist, das die jungen Hellenen, die den Triumph durch ihre Muskeln im Sinn hatten, vor die Altäre des Zeus führte."

    Pierre de Coubertin ist am Ende seines Lebenswegs angekommen, als er sich im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1936 noch einmal über das Radio zu Wort meldet. In Berlin ist Hitler wild entschlossen, die XI. Olympiade zu einem überwältigenden Triumph des Nazi-Regimes zu machen, Beethovens Neunte und die Bildregie einer Leni Riefenstahl inklusive.

    Angesichts der monströsen Inszenierung in der Hauptstadt des Dritten Reiches wirkt Coubertins Vision des olympischen Geistes wie ein verirrtes Bruchstück des Klassizismus im grausamen Licht der Moderne. Eine Befriedung der Welt durch den zur Religion verklärten Sport, die Versöhnung von Körper und Geist im industriellen Zeitalter, am Vorabend des Weltkrieges sind das nur noch ohnmächtige Beschwörungen.

    "Eine willensschwache, stubenhockende Jugend will ich durch den Sport stählen, durch seine Gefahren, ja selbst durch seine Exzesse. Ihren Blick und ihr Verstehen will ich erweitern durch die Begegnung mit den unendlichen Horizonten der Sternen- und Planetenräume, der Geschichte, der Universalgeschichte vor allem. Denn diese wird durch den gegenseitigen Respekt, den sie erzeugt, zum Keim eines wirklichen weltweiten Friedens. Und all dies für alle, ohne Unterschied der Geburt, der sozialen Stellung, des Vermögens, des Berufs."

    Ein Jahr nach der ersten Olympiade, die zum totalen Medienspektakel geworden war, stirbt der Begründer der olympischen Bewegung der Neuzeit am 2. September 1937 verarmt im selbst gewählten Exil in Lausanne. Kurz zuvor scheitert eine Initiative, ihm den Friedensnobelpreis zuzuerkennen. Dass Coubertin sich von Hitlers Nazi-Spielen verführen ließ, hat man ihm in Frankreich nicht verziehen.

    Pierre de Frédy Baron de Coubertin ist ein authentisches Kind des späten 19. Jahrhunderts. 1863 als Sprössling einer aristokratischen Familie in Paris geboren, wird er von der traumatischen Niederlage Frankreichs im preußisch-französischen Krieg geprägt. "Dekadenz" ist das Schlagwort der Konservativen seiner Zeit, die einen moralischen und physischen Niedergang für die militärische Schwäche Frankreichs verantwortlich machen.

    Auf der anderen Seite des Ärmelkanals, bei den "muskulösen Christen" Großbritanniens dagegen, glaubt Coubertin die geeignete Therapie gefunden zu haben. Er besucht Rugby und Eton, lernt dort die unzähligen Ruder- und Fechtclubs kennen, die von den begeisterten Schülern selbst organisiert werden.

    "Ich entdeckte etwas Unerwartetes und Verborgenes, die Pädagogik durch den Sport, ein ganzes System geistiger und sozialer Bildung versteckt im Schulsport."

    Die Wunden, die die Moderne den Menschen schlug, durch die Kraft des Sports zu heilen, wird zur Obsession Pierre Coubertins. Ihr verschreibt er sein Leben, für sie opfert er sein Vermögen. Als ihm 1896 mit den Spielen in Athen die Neubegründung der olympischen Bewegung gelingt, ist das für ihn nur die erste Etappe auf einem langen Weg. Der Aristokrat mit dem ausschweifenden Schnurrbart, der gern selbst das Trikot des Läufers überstreift, befreit sich von den elitären, gelegentlich rassistischen Vorstellungen seiner Herkunft und fordert ein universelles Menschenrecht auf Sport:
    "Nichts ist erreicht, wenn es nur eine Minderheit erreicht. Das Vergnügen des Muskelspiels, das so viel Freude, Kraft, Ruhe und Reinheit spenden kann, muss in allen Erscheinungsformen, die es durch den Fortschritt der modernen Industrie erfahren hat, jetzt auch dem einfachsten Menschen offen stehen. Das ist der wahre, der demokratische Geist Olympias, dessen Grundstein wir heute legen."