Freitag, 29. März 2024

Archiv

"Ein Volksfeind" in Zürich
Dietmar Dath bearbeitet Ibsens Klassiker

Dietmar Dath nimmt in seiner "Volksfreund"-Inszenierung das Skelett des Ibsen-Stücks und füllt es mit Gegenwart. Das ist provokant, weil er die Mechanismen der heutigen Mediengesellschaft bloßlegt und angreift. Für das reiche und angepasste Zürich ist das starker Tobak.

Von Christian Gampert | 12.09.2015
    Es ist möglicherweise ein fragwürdiges Kompliment, wenn man über eine Inszenierung sagt, das Beste sei die Pause gewesen. Im Fall von Stefan Puchers Züricher"Volksfeind"-Einrichtung ist jedoch genau das der Fall, und diese Einschätzung ist absolut sympathisierend gemeint. Es gibt öde Strecken in dieser Aufführung, es gibt all den bei Pucher offenbar unvermeidlichen Schnickschnack, ständige Video-Verdoppelungen des Geschehens, Computersounds, nette Popsongs als Livemusik, zum Teil steht Familie Stockmann auf der Bühne herum wie bestellt und nicht abgeholt – aber dann kommt die (inszenierte) Pause, die sogenannte Volksversammlung. Stockmann, mit flackerndem Blick gespielt von dem großartigen Markus Scheumann, möchte seinen Untersuchungsbericht (der die Verseuchung des Grundwassers der Gemeinde beweist) zunächst online stellen, dann in einer Bürgerversammlung erläutern. Beides wird ihm verwehrt – mit den Argumenten eingeführter Gutmenschen-Ideologie: er sei ein Populist und verwirre die Menschen; er wolle die Demokratie abschaffen; und eine Kündigung des Fracking-Vertrags (in Zürich geht es nicht mehr um Fabrikrückstände, sondern um Fracking) habe unabsehbare wirtschaftliche Folgen.
    Diese zentrale Szene ist von Stefan Pucher nun wie ein Hammelsprung im Bundestag inszeniert: Wer den Ausführungen des verrückten Doktor Stockmann folgen möchte, der dürfe gern im Saal bleiben; die anderen im Publikum, die an der Basisdemokratie, der Bürgerversammlung teilnehmen wollen, mögen sich bitte ins Pausenfoyer begeben und mitdiskutieren.
    Die Folge ist ein Chaos, in dem der sonst so reflektierte Stockmann völlig ausrastet und die Fäulnis der Mediendemokratie mit starken Worten beklagt.
    "Eure Demokratie, das ist die Demokratie der Arschlöcher...Hier wird nicht nur Scheiße in den Boden gepumpt, sondern auch in die Köpfe."
    In der manipulierten Demokratie, in der (fast) alle einer Meinung sind und nur das Beste wollen, ist niemand schuld und niemand übernimmt Verantwortung. Keiner will die Wahrheit wissen, obwohl alle Fakten zugänglich sind.
    "Es ist alles Schwindel! Keiner ist es gewesen! Ich ersticke an der Transparenz dieser Gesellschaft!"
    Der sonst eher essayistisch tätige Dietmar Dath hat das Ibsen-Stück für Zürich bearbeitet und es konsequent in die Gegenwart versetzt: keine Gerberei-Rückstände verpesten nun das Wasser, sondern eine Ölfirma mit ihrem Fracking. Keine gleichgeschaltete Lokalzeitung hält der Stadtverwaltung mehr die Stange - es gibt nur noch ein Internetportal und superkritische Blogger, die im Prinzip alle das Whistleblowing befürworten, aber sehr schnell einknicken, als der Chef ihres Medienunternehmens Staatsraison verlangt. Und das Ganze spielt in einer grünalternativen Musterstadt, die auch gleich als großes Modell auf der Bühne steht und ständig abgefilmt wird.
    Dietmar Dath, dessen bisherige Theaterarbeiten an einer gewissen Theorielastigkeit und mangelnder Dramaturgie litten, nimmt quasi das Skelett des Ibsen-Stücks und füllt es mit Gegenwart. Das geht sehr gut, wenngleich die Blogger auf der Bühne eher wie brave Internatsschüler wirken - und der korrupte Bürgermeister von Robert Hunger-Bühler als plakativer zynischer Spießer gezeichnet ist, der je nach politischer Lage die Mütze wechselt, erst grün, dann wutrot.
    Provokant aber ist die Aufführung, weil Dietmar Dath die Mechanismen der heutigen Mediengesellschaft bloß legt und angreift. Für das reiche und angepasste Zürich ist das starker Tobak. Wirkliche Demokratie koste etwas, koste den Einzelnen etwas, das ist Dietmar Daths These. Stattdessen werden für kurzfristigen Profit die Frackingrechte verkauft, die Gemeinde kommt aus dem Vertrag nicht mehr heraus; und die Opposition wird geächtet. So funktioniert das. Das noble Züricher Schauspielhaus startet also aufgespeeded-politisiert in die neue Saison – hoffen wir mal, dass das so bleibt.