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Ein vollendeter Pessimist

Die Aufgeblasenheit und Selbstüberschätzung des Ichs in der westlichen Literatur zu entlarven, war eines der zentralen Anliegen des Philosophen E.M. Cioran. Sein Biograph Patrice Bollon nennt Cioran einen "vollendeten Pessimisten", dem sich die Welt in all ihrer Tragik und Herrlichkeit darbietet. Beherrscht war Cioran nicht von der Angst vor dem Tod, sondern vor dem Leben.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 04.08.2006
    "Meine Bücher, mein Werk ... Das Groteske dieser Possessiva! ... Alles ist in die Brüche gegangen, seitdem die Literatur aufgehört hat, anonym zu sein. Die Dekadenz geht auf den ersten Autor zurück."

    In diesen Worten umreißt der Philosoph E.M. Cioran eines seiner zentralen Anliegen: die Aufgeblasenheit und Selbstüberschätzung des Ichs in der westlichen Literatur zu entlarven. Wenn ihn sein Biograph Patrice Bollon in seiner kenntnisreichen Studie, unter dem treffenden Titel "Der Ketzer", mit diesen Worten zitiert, dann kann er dies auch durch seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Cioran als eine authentische Aussage belegen.

    "In seinen Augen war nichts Düsteres oder Verquältes zu erkennen, vielmehr die Belustigung, die ihm das ewige Schauspiel der Welt und ihrer Seltsamkeiten bereitete, und eine an innere Abgeklärtheit grenzende Gelöstheit ... Er hatte sogar etwas eher Südländisches, ja beinahe Orientalisches an sich ... Cioran äußerte sich stets so, als wäre er einfach ein gewisser Cioran, ein begnadeter Plauderer - und nur nebenbei ein Schriftsteller und Denker."

    Immer gehe man, so behauptete er, durch das Ich zugrunde, das man sich zulege. Einen Namen tragen heiße, auf eine ganz bestimmte Art von Zusammenbruch Anspruch zu erheben. Mit diesen Worten hatte der 1911 in Siebenbürgen geborene und 1995 in Paris gestorbene Philosoph und Schriftsteller E.M. Cioran sein großes Buch "Dasein als Versuchung" eingeleitet. Und diese Erfahrung durchzieht auch, in unendlichen Variationen, sein gesamtes Werk. Dieses ist eine Manifestierung einer bis ins äußerste Extrem getriebenen Infragestellung des Ich, einer Unausgeglichenheit, einer Verzweiflung und eines fundamentalen Gefühls des vehementen Scheiterns. Bereits die Titel seiner Bücher - "Auf den Gipfeln der Verzweiflung" oder etwa "Vom Nachteil, geboren zu sein" - legen davon unmissverständlich Zeugnis ab. Unablässig befinde er sich, so hat er immer wiederholt, in ungeheuerlichen Turbulenzen und erlebe den Niedergang so euphorisch wie eine Erleuchtung.

    " Ich persönlich habe den Eindruck, ich bin aus der Hand Gottes gefallen."

    Einmal aus der Hand Gottes und aus der Kindheit gefallen, habe für ihn in Paris - dieser, wie Cioran sagt, "faszinierenden Hölle", wo "jeder Mensch zu einem Gespenst" werde - der Sturz ins Unglück begonnen. Der Tod habe sich daraufhin als quälende Zwangsvorstellung in sein Leben eingenistet.

    " Wir hatten einen Garten an einem Friedhof. Ich war mit dem Totengräber sehr befreundet. Ich spielte mit den Schädeln und Knochen Fußball. Die Idee des Todes war eine Zwangsvorstellung. Ich habe immer geglaubt, das kann auch von diesem Friedhof kommen. Die Rache der Toten gegen mich."

    Bollon nennt Cioran einen "vollendeten Pessimisten", dem sich die Welt in all ihrer Tragik und Herrlichkeit darbietet. Beherrscht war Cioran nicht von der Angst vor dem Tod, sondern vor dem Leben.

    "So weit meine Erinnerung reicht, kam es mir immer unergründlich und beängstigend vor. Meine Unfähigkeit, mich darin einzugliedern. ... Ich verabscheue es, Einfluss auszuüben, und will doch, gerade dank meiner Unwirksamkeit, eine bedeutende Persönlichkeit sein."

    Das Geheimnis seiner Unwirksamkeit bestehe darin, dass er zwar ein Besessener sei, aber einer, der zur Kategorie der "Zerstreuten" gehöre. Er habe keine Illusion anzubieten, und seine Botschaften seien "klarsichtig bis zur Zerstörung".

    Einzig durch seine Raserei, meint Cioran, gehöre er unserer Epoche an. Er habe all seine Leidenschaften bekämpft und versucht, dennoch Schriftsteller zu bleiben. Aber dies sei nahezu unmöglich, da der Schriftsteller darauf angewiesen sei, seine Leidenschaften zu schützen und zu züchten, sie anzustacheln und zu übertreiben.

    Bereits diese wenigen Selbstaussagen vermitteln einen Eindruck von der fast nicht zu bewältigenden Aufgabe, über einen derart radikal sich entziehenden und in Zuspitzungen vernarrten Denker wie Cioran eine Biographie zu schreiben. Patrice Bollon ist dies gut gelungen, weil er geduldig die biographischen Etappen dieses Lebens in feinfühligen Bezugnahmen zum Werk darstellt. Er geht bedächtig und nicht vorschnell wertend vor, nicht selbstverliebt, sondern eher erfüllt vom Glück, Cioran, diesen witzigen und spöttischen, selbstironischen und im Denken überaus geschmeidigen Freigeist gekannt zu haben. Es ist dem Suhrkamp Verlag, der den Großteil von Ciorans Werk verlegt hat, hoch anzurechnen, dass er einem solchen Außenseiter und aus Prinzip Gescheiterten in diesen Zeiten des Erfolgswahns, eine so umfängliche und überhaupt nicht reißerische Biographie gewidmet hat.

    Man kann Bollon nur zustimmen, wenn er betont, dass er Cioran vor allem im "immerwährenden Widerstreit mit sich selbst" erlebt habe und dass er gerade diesen Widerstreit zur Grundlage seines Denkens und, allgemeiner, des Daseins erhoben habe.

    Cioran war ein Schiffbrüchiger in einer ständigen geistigen Erregtheit, einer, dem das Scheitern wichtiger als der Tod war und der angesichts des Niedergangs von einer "zweiten Geburt" und seiner glücklichen Kindheit sprach!

    " Ich war sehr unglücklich im Leben, weil meine Kindheit so außerordentlich war... Ich war bestraft im Leben, weil ich so eine außergewöhnliche Kindheit hatte. Ich war ganz frei... Ich war bestraft, weil ich so eine Kindheit hatte... Ich musste bezahlen. Ich wollte dieses Dorf nie verlassen... Ich wollte das wilde Leben im Gebirge. Es begann mein Untergang. Der Sturz von der Kindheit in dieses Leben... Alles, was nicht intellektuell ist, gefällt mir ungeheuer. Meine Kindheit war die Vorzivilisation. Die Zivilisation war ein Sturz für mich, eine Katastrophe... Die Ironie ist, dass ich seit über 40 Jahren in Paris lebe. Die Ironie ist auch eine Strafe."

    Selbst ein Meister der Verneinung und ein "Höfling der Leere", wirkte er doch - und das betont auch Bollon - überaus stimulierend und lebensbejahend.

    " Theoretisch glaube ich nicht an die Nutzbarkeit des Schreibens oder dass man einen "Namen" hat oder nicht. Für mich war es meine Form von Gesundheit, mich dieser Gefühle des Bedrücktseins, als ein Mensch des Schiffbruches, auszudrücken. Ich bin sicher, dass ich nicht zugrunde gegangen bin nur, weil ich geschrieben, mich ausgedrückt habe. Wäre mir das nicht geblieben, ich wäre bestimmt zugrunde gegangen."

    Als der Philosophiestudent E.M. Cioran 1937 von Rumänien nach Paris ging, suchte er nicht das Strahlende dieser westlichen Kulturmetropole, sondern die "Nachtseiten der Dinge" - wenn auch, wie er sagte, verführt vom ruchvollen Glanz dieser "Stadt der Huren und Bordelle": der Aufbruch eines sich schon früh als unstet und nutzlos begreifenden Geistes.

    Patrice Bollon zeigt in seiner Biographie, wie wenig Cioran sich bemühte, als "Philosoph" zu reden.

    "Die Philosophie ist für ihn gleichbedeutend mit einem 'Lebensstil', dank dem es jedem gelingen muss, 'sich eine eigene Persönlichkeit aufzubauen' ... Seine Rolle ... beschränke sich darauf, bei seinen Gesprächspartnern eine 'metaphysische Angst' hervorzurufen, die er als das 'wahre Denken' definiert."

    Ein zurückgezogen lebender Literat und Denker außerhalb akademischer Fakultäten, einer, der alle Denkpositionen in großzügiger, subjektiver Manier eines besessenen Gedankenspielers verwarf, verspottete, verdrehte; ein um sein Können und Versagen wissendes Genie wider Willen, ein großstädtischer Einsiedler und lustvoller Asket.

    Denkend entzog er sich der Festlegung seiner Beziehungen durch die Verteidigung des Widerspruchs und durch das Prinzip der Ironie und Selbstironie. Selbst seine Verzweiflung hat nie etwas Kategorisches. Sie ist Bestandteil eines Lebens-, Sprach- und Denk-Experiments und verweist stets auf das Existieren als eines "ungeheuren Phänomens". So schreibt denn auch Bollon zu Recht:

    "Die große, durch schrankenlose Klarsicht bewirkte Entzauberung der Welt wird bei Cioran von einer Reihe von nebensächlichen, örtlichen, heimlichen, gebrochenen Wiederverzauberungen begleitet, die aber auf lange Sicht tatsächlich einen Daseinsgrund errichten, der sehr viel tragfähiger ist als die alte Illusion."

    "Das Leben als Fluch" - kein Schriftsteller hat je diese Erfahrung mit einer solchen Leidenschaft und einem Funkeln in den Augen wie Cioran vorgetragen und in einer schlackenlosen Poesie und metaphysischen Schärfe formuliert. Er hat die Erfahrung des Ungeheuerlichen und Unheimlichen auch genossen, und er hat mit dem Schrecken einen so vertrauten Umgang gepflegt, dass er ihn zu seinem Freund machen konnte.

    Cioran liebte das Herausgeschleuderte, den eruptiven, ersten Entwurf, aber auch das definitive Resultat. Eigentlich sei er gar kein Schriftsteller, sondern nur so ein Fragment-Mensch, der in Widersprüchen gelebt hat.

    " Ich habe immer in Widersprüchen gelebt und nicht darunter gelitten. Wäre ich ein Systematiker gewesen, hätte ich lügen müssen. Ich habe das Unlösbare angenommen. Ich habe eine gewisse Wollust des Unlösbaren... Ich habe nie zu glätten versucht. Ich habe nie ein Ziel gehabt."

    In fast täglichen und nächtlichen Fingerübungen hat sich Cioran über die Unfähigkeit zu leben (beziehungsweise den "Nachteil" und den "Irrtum geboren zu sein") hinwegzuretten versucht, hat Phasen des Nichtschreibenkönnens ausgehalten: mit dem Entwurf von Essays, mit Skizzen und Beobachtungen zum Denken, zur Philosophie, Mystik und Musik, zur Langeweile, Schlaflosigkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens. Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört auch die vor einigen Jahren heftig attackierte rechte Gesinnung, die ein Frühwerk Ciorans - "Verklärung Rumäniens" - seitenweise prägt.

    Cioran kommt in seinen Tagebüchern selbst darauf zu sprechen: Die Frage der Verantwortung wird von ihm immer wieder schonungslos angesprochen. An einer zentralen Stelle sagt er von sich, er sei "in der Seele ein Deserteur", einer, der die Verantwortung flieht; alles, was die Menschen als "ernste Angelegenheiten" sehen, komme ihm unwahrscheinlich und unnütz vor, leidenschaftlich könne er sich nur für Gott und das "unendlich Schäbige" interessieren.

    "Wenn ich mich gnadenlos unter die Lupe nehme: der Hauptzug meiner Natur ist die Flucht vor der Verantwortung, die Angst, irgendeine und sei es nur geringe, zu übernehmen. Ich bin in der Seele ein Deserteur."

    Mit großer Sachlichkeit und Einfühlsamkeit hat Patrice Bollon diesen heiklen Punkt mehrfach in seiner Biographie angesprochen, zitiert auch Cioran mit erschreckenden Aussagen zum jüdischen Volk, zu Hitler und dessen "messianischen Odem". Sein Fazit aber lautet:

    "Das lange Schweigen Ciorans verweist darauf, dass ihm die Tragweite seines Irrtums und dessen Zusammenhänge mit seinem im Entstehen begriffenen Werk sehr lange gleichsam unbewusst blieben ... Cioran wäre ohne seine ärgerlichen Ausführungen vielleicht einfach nicht er selbst geworden. Hat er sich doch im Widerstand gegen sie gestaltet. Durch sie hat er die Notwendigkeit einer 'therapeutischen' Lebenskunst erkannt - was für ihn das höchste Ziel des Denkens darstellte: geheilt zu werden, vor allem von sich selbst ..."

    Bollon zitiert Cioran einmal mit den Worten, dass er sich von der Philosophie verabschiedet habe, da sich ihre Betreiber selbst jenseits von Ergriffenheit, Schwäche und Trauer darstellen würden. In der Tatsache, dass ihr Leben fast immer gut ausgegangen sei, liege das stärkste Argument gegen die Philosophie. Im Gespräch sagte Cioran lachend:

    " Die Leute, die ich gerne habe, die müssen nicht wie ich denken, aber irgendwie müssen sie verstört sein, nicht unbedingt stark, aber bis zu einem gewissen Grad. Die Leute, die ich gerne habe, das waren immer Leute, die irgendwie ihr Leben verfehlt haben, die irgendwie misslungen sind als Wesen."

    Er sei, bemerkt er einmal, der "Skeptiker vom Dienst einer untergehenden Welt", heillos verstrickt in Täuschungen und Enttäuschungen - aber das sei gut so für die Welt; schon der Symmetrie willen müsse es diejenigen geben, die zum Scheitern neigen und sich von allen Ausprägungen der Grausamkeit inspirieren lassen.


    Patrice Bollon:
    "Cioran, der Ketzer"
    (Suhrkamp Verlag)