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"Ein wunderbarer Roman über die Bundesrepublik in den frühen 50er-Jahren"

Ursula Krechel habe in ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Landgericht" die Geschichte eines jüdischen Richters, der nach zehn Jahren 1948 aus der Emigration zurückkehrt, "auf sehr aufregende Art und Weise" aufbereitet, sagt die Literaturkritikerin Maike Albath. Krechels Ästhetik habe "etwas sehr, sehr zeitgenössisches".

Maike Albath im Gespräch mit Karin Fischer | 09.10.2012
    Karin Fischer: Die Schriftstellerin Ursula Krechel ist für ihren Roman "Landgericht" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Ihr Thema: Die Rückkehr aus dem Exil nach dem Zweiten Weltkrieg:

    O-Ton Ursula Krechel: "Das Exil ist ein Menschheitsthema, von der Austreibung aus dem Paradies, vom Propheten des Exils Ezechiel, von Ovid, der ins Exil gejagt worden ist, und die Härte des ausgestoßen seins. Die Härte, sich neu definieren zu können, auch das Glück zum Teil, sich neu definieren zu können, interessierten mich sehr und ich habe mir sozusagen Richard Kornitzer, meinen Helden, wie einen Nachbarn, wie jemanden, der implantiert ist in eine kleinbürgerliche Situation, vorgestellt, und das ist offenbar sehr fruchtbar gewesen."

    Fischer: Das Schöne an Bestenlisten ist, dass man sich so gut über sie streiten kann. Warum es wer nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat und ob eventuell zu viel Suhrkamp dort vorkommt, darüber raunte in den letzten Wochen der Literaturbetrieb. Erst gestern noch beschwerte sich Volker Hage, Literaturredakteur des "Spiegel", lautstark über das Fehlen von Ralph Dohrmanns erstem Roman "Kronhardt" in der Auswahl und hielt es für noch unverständlicher, dass Ursula Krechel mit ihrem Buch "Landgericht" auf der Shortlist gelandet sei. Das sei "eine verquälte Hybridform", so sein Urteil, und der Roman stilistisch eine Katastrophe. Nun wurde gestern Abend Ursula Krechel für dieses Werk mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, und die Frage an meine Kollegin, die Literaturkritikerin Maike Albath, war: finden Sie den Roman preiswürdig, und wenn ja, warum?

    Maike Albath: Absolut! Es ist ein großartiger Roman über die sehr beklemmende Nachkriegszeit in Deutschland und über den Zynismus der Bundesrepublik. Es geht ja um einen jüdischen Richter, der nach zehn Jahren 1948 aus der Emigration zurückkehrt, Richard Kornitzer, und der die Bundesrepublik mit aufbauen will, der überzeugt ist von dem, was die Bundesrepublik auch durch das Grundgesetz jetzt schaffen will, und dann merkt, es herrscht im Verwaltungsapparat eine große Kontinuität und er kann überhaupt nicht das einklagen, was er einklagen möchte. Er war zehn Jahre lang getrennt von seiner Familie, also auch eine sehr tragische Geschichte, und Ursula Krechel bereitet diese Geschichte auf sehr aufregende Art und Weise auch in formaler Form auf.

    Fischer: Sie hat dafür Akten studiert und sie hat Briefe sortiert und daraus ihr Material gewonnen, dazu selbst gesagt, es sei eine Art "Wiederaneignung von Geschichte" in anderem Zusammenhang. Es gibt ja einige Titel auf der Shortlist, die Bücher sind, die von der deutschen Nachkriegsgesellschaft handeln.

    Albath: Ja, es geht um die 70er- und die 80er-Jahre, Clemens Setz zielt ganz auf die Gegenwart, also da ist eine relativ breite Vielfalt, auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen über die Gegenwart zu erzählen. Das hat mir sehr gefallen an der Shortlist. Mir hat Jenny Erpenbeck gefehlt, die ja auch ein breites Zeitpanorama aufspannt, aber an Ursula Krechel fand ich doch ganz außerordentlich, dass sie stilistisch etwas unternimmt, das es so noch nicht gab. Sie fügt diese dokumentarischen Materialien, auch Zitate aus Briefen, abschlägige Bescheide über Anträge ein in den Roman, ist aber dann wiederum sehr lyrisch, hat wunderbare Bilder, und das ist sehr, sehr überraschend und auch sehr mitreißend. Und sie ist eine großartige Psychologin. Es stimmt nicht, dass sie sich jetzt auf das Dokumentarische konzentrieren würde, sondern sie schafft es auch, uns ganz plastisch das Innenleben ihrer Figuren zu vermitteln, und da hat sie einen besonderen Griff auch auf die Frauenfiguren in diesem doch sehr deprimierenden Nachkriegsdeutschland.

    Fischer: Neben dem historischen Zugriff gibt es auch Bücher auf der Shortlist, die man sozusagen unter der Unterschrift "Selbstauskünfte" in gewisser Weise subsumieren könnte. Dazu gehört vielleicht Stephan Thomes Roman "Fliehkräfte", den man im Vorfeld immer als etwas leichte Kost bezeichnet hat.

    Albath: Solche Romane, die als leichtgängig gelten, haben ja dann immer eine sehr gute Chance, den Buchpreis zu bekommen. Ich fand, dass Stephan Thome Unrecht widerfahren ist in den Kritiken, die in den letzten Tagen veröffentlicht wurden, zum Beispiel in der "Literarischen Welt" und in der "Zeit". Es ist nämlich ein sehr, sehr tiefsinniger Roman, ein Gesellschaftsroman, Anknüpfung sicherlich an John Updike, Martin Walser, aber er erzählt eigentlich von misslingender Kommunikation. Es geht ja um einen Philosophen und um Sprechakt-Theorie, und da hat man Thome auch unterschätzt. Es ist ebenfalls ein großartiges Buch, das ich allen empfehle. Dennoch bin ich mit der Entscheidung der Jury sehr einverstanden. Es ist für mich die mutigste Entscheidung seit der Wahl von Kathrin Schmidt vor einigen Jahren, weil es eben eine ganz überraschende Ästhetik ist, die auch etwas sehr, sehr zeitgenössisches hat, und durch diese Entscheidung riskiert die Jury auch etwas.

    Fischer: 162 Bücher hat sie gesichtet und, hoffen wir jedenfalls, auch gelesen, im Kaisersaal des Frankfurter Römer wird der Deutsche Buchpreis seit 2005 zum Auftakt der Buchmesse feierlich verliehen, für den "besten deutschsprachigen Roman des Jahres". Ein bisschen vermessen ist dieser Anspruch aber doch schon?

    Albath: Der ist absolut vermessen und ist, glaube ich, auch mehr als eine Möglichkeit der Werbung zu verstehen des Börsenvereins. Aber die Kritiker machen sich davon frei und die Juroren. Das habe ich im vergangenen Jahr, als ich in der Jury war, auch so erlebt. Man versucht, wirklich über Qualität zu diskutieren, und die Shortlist war ja sehr gut auch in diesem Jahr, und aus diesem Grund, denke ich, davon hält man eigentlich als Literaturkritiker gar nichts, denn diese Entscheidung kann es nicht geben. Jeder Roman hat seine eigene Bedeutung und hat auch seine ganz eigene Qualität in der Art, wie Wirklichkeit aufbereitet wird. Man versucht natürlich, eine Entscheidung zu prägen, eine Entscheidung zu treffen, die zeigt, welches ein herausragender Roman ist und wo die deutsche Gegenwartsliteratur steht, und dass es jetzt auf diesen Roman gefallen ist in diesem Jahr, finde ich wirklich sehr, sehr gut. Das ist eine großartige Möglichkeit, mit dokumentarischem Material und Erzählerischem umzugehen, und es ist ein wunderbarer Roman über die Bundesrepublik in den frühen 50er-Jahren, wie wir ihn so noch nicht gelesen haben.

    Fischer: Die Literaturkritikerin Maike Albath über Ursula Krechels "Landgericht". Der Roman wurde gestern mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.