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Einblick in die Hölle

Antonio Lobo Antunes fährt mit dem Auto nach Lissabon. Er beginnt im Algarve. Und damit beginnt auch der Roman. Man darf den Ich-Erzähler des Romans, der auch manchmal in der dritten Person von sich erzählt, Antonio Lobo Antunes nennen, weil "Einblick in die Hölle" ein autobiografischer Roman ist. Wie einst der Autor, so ist auch sein Held Psychiater in der Irrenanstalt Miguel Bombarda in Lissabon. Ist er zuvor als Militärarzt im angolanischen Krieg gewesen, schreibt er nun nebenbei Romane.

Christoph Schmitz | 04.08.2003
    Ich dachte an den Todeskampf der Taube in Tomar, allein auf dem Dach gegenüber der Messe, die mir jeden Abend, wenn ich mich an den Tisch im Zimmer setzte, um den langen Roman zu schreiben, den ich nie veröffentlichen würde, den ich nie veröffentlichen werde und von dem sich all meine Romane nähren, magerer, zerzauster, erschöpfter, vom Juniatem und vom Fieber durchschauert vorkam.

    Außerdem heißt der Erzähler des Romans auch wirklich Antonio Lobo Antunes, der nach einem ärztlich verordneten Urlaub an der Südküste zurück in die Hauptstadt fährt, einen Tag und eine Nacht lang, durch den Algarve, den Alentejo, die Sümpfe um Lissabon, durch Landschaften, die sich ihm wie lebendige Träume aufdrängen...

    Er hatte den Samen der Dunkelheit im Körper gefühlt wie die schwarzen Glimmersteine in der Provinz Beira, und er dacht, Es wird früh dunkel in mir, dachte, Wenn sie mir den Bauch auf einem Operationstisch aufschneiden und nach der Leber oder der Galle oder dem Magen suchen, werden sie anstelle der Eingeweide die Stille verlassener Landgüter vorfinden, die Unruhe der Hunde, die aufschreckend den Morgen rufen.

    Vor allem aber drängen sich Erinnerungen auf, an die gescheiterten Beziehungen zu Frauen, an seine beiden Töchter, an die psychiatrische Klinik Miguel Bombarda und den Krieg, Szenen und Bilder von einem brutalen Kampf einer erschöpften Kolonialmacht, die ihre Soldaten in der Hitze Afrikas verfaulen läßt und ihre Feinde traktiert, wie es die Metzger der Alfama nicht blutiger hätte verrichten können.

    Ihr hättet vorsichtiger sein sollen, riet freundschaftlich der Mann von der Geheimpolizei, während er die von Wunden übersäten Körper betrachtete. Es gibt Möglichkeiten, die Dinge so zu machen, daß keine Spuren bleiben. Ein Elektroschock hinterläßt keine Spuren. Schlagt sie auf die Fußsohlen. Die Wirkung ist die gleiche, und man sieht nichts.

    Den qualvollen Einblick in die Hölle bekommt Antunes nicht nur im Krieg, sondern auch in der Lissaboner Psychiatrie. Hervorgerufen wird die Qual weniger angesichts der verwirrten Geister, sondern angesichts der Verhältnisse, unter denen die Kranken leben müssen. In Schmutz und Gestank vegetieren sie in einem maroden Gebäude vor sich hin. Der Gleichgültigkeit, dem Hohn, der Selbstherrlichkeit und Willkür des Pflegpersonals und der Ärzte sind sie ausgeliefert. Lästige Verwaltungsmasse sind sie, allenfalls tauglich als Material für diverse aus New York und Wien importierter neuer psychologischer Theorien und Therapien...

    Der da ist zwanghaft, der da Phobiker, der da Phalliker, der da unreif, der da ein Psychopath: Sie klassifizieren, beschriften, wühlen, fummeln, verstehen nichts, erschrecken, weil sie nichts verstehen, und lassen zischen den vergammelnden Gaumen, auf den geschwollenen, von Blutgerinnseln und Schorf bedeckten Zungen, zwischen den von Stickstoff lilafarbenen Leichenflecken auf den Lippen endgültige, lächerliche Sätze heraus.

    Einblick in die Hölle ist Antunes’ Abrechnung mit einer verluderten Psychiatrie im Portugal der 70er Jahre. Aber weder die Klinik, noch der Krieg, die Kinder nicht, die Frauen nicht und auch nicht die Landschaft sind es, die den Roman ausmachen. Es ist die Sprache. Die Sprache ist Nummer eins, dann kommt lange nichts, und frühestens auf Platz vier, der ja so gut wie nichts mehr zählt, die Geschichte. Dieser Roman strapaziert die Sprache aufs Äußerte. Dieser frühe Roman von 1983 ist eine Teilchenbeschleuniger, der seinen Erzählstoff beständig auf Lichtgeschwindigkeit trimmt und in Metaphernenenergie umwandelt, ein Stillaboratorium, in dem Antuness spätere Textgetalten in den reifen Romanen der 90er Jahre schon deutlich zu erkennen sind: die verwegene Bildsprache, die refrainartigen Wiederholungen einzelner Sätze und ganzer Passagen, die musikalische Montage verschiedener Stimmen, Zeiten und Orte auf engstem Raum. "Einblick in die Hölle" ist somit der Roman, von dem der Erzähler sagt, daß sich alle anderen von ihm nährten, die frühe gewaltsame Erruption eines überbordenden Sprachtalents.

    Im leeren Wagen auf dem Weg nach Santana wirkten die Ränder des Gebirges, die fast senkrecht ausgehoben waren, wie beschlagene Spiegel, in denen der Abend sein gelbliches, dickes, von den reglos stehenden Büschen umgebenes Gesicht abzeichnete. Die Landschaft begann die Konsistenz des grauen Papiers einer von der tropfenden, bläulichen Kerze der Sonne beleuchteten Weihnachtskrippe in der Kirche anzunehmen.

    Alles barock, groß, großartig mitunter– mit nur einem Nachteil: Dieser Roman ist nicht lesbar. Die Glut seines Erzählens verzehrt ihn selbst. Seine Sprachenergie strahl kein Licht mehr aus, sondern absorbiert es. Der Rausch des Schreibens springt nicht auf den Leser über. Die Metaphernhaufen stören sich gegenseitig, wodurch keine mehr zur Geltung kommt. Die Bilderwut erstickt das Erzählen und das Lesen. Erst am Schluß findet der Roman zu einer Klarheit, nämlich wenn der Erzähler seine eigene Einweisung in die Psychiatrie imaginiert und auf seinem Weg durch die Hölle die Qualen des Systems erduldet. Für die Spezialisten der deutsche Antunes-Exegese mag das Verlagsprojekt, alle Texte von Antunes, auch die frühen der 80er Jahre, von der überragenden Maralde Meyer-Minnemann ins Deutsche zu bringen, von Bedeutung sein. Für uns Leser ist es das nicht. Trotz einiger gelungener Passagen in "Einblick in die Hölle". Ein guter Text für die Forschung, ein schlechter für die Lektüre. Uns genügen die Antuness ab den 90er Jahren. Und wir warten lieber auf den nächsten ganz neuen, "Was werd ich tun, wenn alles brennt", der ja schon im September erscheinen wird.