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Einblick in eine Eliteinstitution

Anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des Thomanerchors in Leipzig haben die Dokumentarfilmer Paul Smaczny und Günter Atteln den Chor ein Jahr begleitet. In "Die Thomaner" erhält der Zuschauer in Einblick in die Eliteinstitution, die wert auf Disziplin, Ordnung und Fleiß legt.

Von Kirsten Liese | 11.02.2012
    Vormittags Schule, nachmittags Chorproben sowie Einzelunterricht in Gesang und Klavier: Der Tagesablauf der Thomaner ist straff geregelt. Und selbstverständlich wird auch erwartet, dass die Jungen neben diesem Pensum gewissenhaft ihre Hausaufgaben machen, sich auf die anstehenden Proben vorbereiten und üben.

    Ein Jahr lang haben Paul Smaczny und Günter Atteln die Knaben mit der Kamera begleitet. Ihr Film "Die Thomaner" gibt Einblick in eine Eliteinstitution, die den Kindern viel bietet, aber auch hohe Leistungsansprüche stellt. Zum Erfolgsrezept zählen dabei auch preußische Tugenden und Werte, die in anderen pädagogischen Einrichtungen schon zu Fremdwörtern geworden sind: Disziplin, Ordnung und Fleiß.
    "Ich mach denen immer klar: Wir haben eine besondere Aufgabe, der müssen wir uns stellen, wollen wir uns stellen, und die ist auch großartig, die macht auch viel Arbeit, aber ich versuche eben immer wieder deutlich zu machen, ihr seid an einer großen Sache beteiligt und beteiligt euch wirklich auch groß."

    Schon bei der Aufnahmeprüfung müssen sich die Kandidaten hohen Anforderungen beim Vorsingen und in der Gehörbildung stellen. Es erstaunt, was für enorme Talente sich darunter finden. Welch ein Kontrast zu den Jugendlichen, die musikalisch nicht annähernd so gerüstet im RTL-Fernsehen Superstars werden wollen! Fast hätte man angenommen, dass es solche vorbildlichen, klassikorientierten Kinder und Jugendlichen gar nicht mehr gibt.

    Nach bestandener Prüfung sind die Eltern der Auserwählten mit ihrem Einfluss weitgehend abgeschnitten, die Thomaner wachsen in einem Internat auf. Für manch einen Neuankömmling bedeutet der Umzug eine schwere psychische Belastung:

    "Gestern musste ich zweimal weinen, ich hatte großes Heimweh."

    Solche offenen, persönlichen Bekenntnisse seitens der Kinder gibt es nicht viele im Film. Allerdings ist es auch kaum verwunderlich, dass sie vor der Kamera etwas befangen wirken. Dass nur die Besten an den attraktiven Konzertreisen in ferne Länder teilnehmen dürfen, ist sicherlich ein harter Schlag für so manchen. Aber wer würde das schon offen zugeben? Und was sollen sie schon hinsichtlich ihrer Einstellung zur Kirche sagen, wenn die Erzieher durchblicken lassen, dass eine religiöse Einstellung von Vorteil ist?

    "Die Hälfte der Jungen kommt aus nicht kirchlichem Elternhaus, das muss ich so akzeptieren. Viel bedeutsamer ist für mich geworden, dass im Laufe der Thomanerzeit viele sich taufen lassen."

    Mit Blick auf den 800. Geburtstag der legendären Thomaner strebten die Regisseure gewiss eine liebenswerte Hommage an. Dieses Anliegen merkt man dem Film deutlich an, er transportiert überzeugend die Faszination, die von dem weltberühmten Chor und seinen grandiosen Wiedergaben der Bachschen Chorwerke ausgeht.

    Ein Fehler ist das nicht, auch wenn man sich ein wenig wundert, dass die Geschichte des traditionsreichen Chors kaum berührt wird. Der besondere kindliche Charme einiger ausgewählter Jungen ist ein Geschenk für den Film, dessen Kraft vor allem in der Musik liegt.

    Nur bleiben spannende Fragen offen: Wie kommen die Thomaner mit anderen Gleichaltrigen außerhalb ihres Mikrokosmos zu Recht? Wie erleben sie ihre Pubertät? Und was für eine Zukunft erwartet sie nach dem Abitur, wenn sie den Elfenbeinturm verlassen? Ehemalige hätten darauf antworten können, kommen aber nicht zu Wort. So gesehen ist "Die Thomaner" ein zwiespältiger Film mit Qualitäten aber auch Defiziten, musikalisch mitreißend, aber in psychosozialer Hinsicht auch unterbelichtet.