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Einblicke in das Seelenleben eines charismatischen SPD-Politikers

Jahrzehntelang war er Willy Brandts engster politischer und persönlicher Weggefährte. Zum 100. Geburtstag des großen Sozialdemokraten schildert Egon Bahr in "Das musst du erzählen" jetzt ganz ohne Voyeurismus und doch sehr persönlich die gemeinsamen Jahre.

Von Frank Capellan | 13.05.2013
    Eines stellt Egon Bahr ganz klar: Die kurz nach Erscheinen seines Buches geäußerte Kritik, er habe nicht genügend aus dem Nähkästchen geplaudert, berührt ihn nicht. Ihm sei stets bewusst gewesen, betont der 91-Jährige heute, was er erzählen darf und was nicht:

    "Ja, natürlich hätte ich noch Internas oder Persönlichstes ausbreiten können, aber, das ist indiskret, und ich finde, dass sowohl die Lebenden als auch die Toten Anspruch haben, so behandelt zu werden, dass man sich gegenseitig in die Augen blicken kann!"

    Voyeurismus wird von Bahr nicht bedient. Wer etwas von Frauengeschichten oder über Trinkgelage des Kanzlers erfahren möchte, der kann sich die Lektüre sparen. Und dennoch: Bahrs Erinnerungen geben sehr wohl Einblicke in das Seelenleben des Regierungschefs. Etwa, als er Brandts Selbstzweifel im Sommer 1972 beschreibt. "Ich habe keine Lust mehr!" habe er ihm damals offenbart. Brandt vermutete Intrigen gegen ihn, sprach von der Unzufriedenheit der Fraktion, und klagte über den liberalen Vizekanzler.

    Scheel habe er wegen der Korinthenkackerei seines Ministeriums darauf hinweisen müssen, dass der Kreml kein Amtsgericht sei. Er wolle aufhören: "Ich bin gescheitert mit meiner Art, die eben keine Befehle erteilt und Menschen wie Menschen behandelt". Sein Wunsch, "Schluss zu machen und den ganzen Kram hinzuschmeißen", war zum Glück unerfüllbar, weil der Bundespräsident auf Reisen war.

    Weil er die Außenpolitik seiner Partei gestalten wollte, war Egon Bahr in die SPD eingetreten, für ihn stand fest: Die deutsche Einheit würde es allein mit den Sozialdemokraten geben. Das engagierte Auftreten Brandts hatte ihm stets imponiert, etwa wenn der Chef pathetisch formulierte:

    "… dass der Tag nun doch näher rückt, an dem hier in Berlin wieder zusammengefügt sein wird, was zusammengehört!"

    Mit dem Mauerbau aber steht für Egon Bahr endgültig fest: Nur wer die Teilung akzeptiert, wird sie irgendwann auch überwinden können. Zum Architekten der Entspannungspolitik wird er 1963, als er bei einer Tagung der Evangelischen Akademie im bayerischen Tutzing einige Anregungen gibt, unter der Überschrift "Wandel durch Annäherung" - und Brandt damals damit ungewollt in den Schatten stellt:

    Auf dem Weg nach München gab ich das Manuskript Brandt. Er las es, brummte, gab es zurück und sagte: Okay! Wir waren beide überrascht, dass mein kleiner Diskussionsbeitrag wie eine politische Bombe einschlug und, zum unverhohlenen Missfallen Brandts, seine große Rede nicht die gebührende Beachtung fand.

    Bahr wird schnell zur Stütze Brandts, als der in der Großen Koalition Außenminister wird. Das Bündnis mit den Christdemokraten ist beiden zuwider, groß der Schock, als die SPD bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 weit hinter den Erwartungen zurückbleibt und deutlich hinter der Union liegt. Herbert Wehner, damals Minister für gesamtdeutsche Fragen, drängt darauf, die Große Koalition fortzuführen – Willy Brandt aber greift zur Macht, die FDP steht als Koalitionspartner bereit. Voller Bewunderung schreibt Bahr heute über diesen Moment:

    Um den notwendigen Abstand zu einer sachlich abgewogenen Position zu finden, würde ich mehr Zeit brauchen, als Willy zur Verfügung hat. Ich bin nicht so robust.

    Mit einer Fortsetzung der Großen Koalition hätte es die Einheit vielleicht nie gegeben, urteilt Bahr. "Unsere Entspannungs- und Ostpolitik wäre Planspiel geblieben." So aber überschlagen sich die Ereignisse. Egon Bahr bereitet Gespräche in Moskau, Warschau und Ost-Berlin vor. Er pflegt den so wichtigen "Kanal in den Osten", dessen Grundpfeiler das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und Sowjet-Chef Leonid Breschnew ist:

    "Die beiden haben sich auf Anhieb verstanden. Wein, Weib und Gesang hätten sie beide nicht abgelehnt. Und wenn der Arzt gesagt hätte, ihr müsst vorsichtiger sein, hätten beide sofort beschlossen, wir hören auf zu singen."

    Bahrs Respekt vor seinen Gegenübern jenseits des Eisernen Vorhangs durchzieht seine Erinnerungen. Die Ostverträge, die die Teilung erträglicher machen, bilden den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn, den Tiefpunkt beschreibt Egon Bahr im Kapitel mit dem schlichten Titel "Wehner". Es ist der 7. Mai 1974: Zunächst hatte Willy Brandt die Spitzel-Affaire um den Kanzleramtsreferenten Günter Guillaume durchstehen wollen, doch dann entschließt er sich doch noch zum Rücktritt und erklärt sich seiner Fraktion:

    "Die Fraktionssitzung geriet zu einer überwältigenden Sympathie-Kundgebung für Willy Brandt. Sonderminister Egon Bahr, jahrzehntelang politischer Weggefährte Willy Brandts, konnte keine Hand zum Beifall rühren und rang um Fassung, als der Fraktionschef die Solidarität der Partei mit ihrem Vorsitzenden bekundete."

    Tatsächlich kommen Egon Bahr damals die Tränen, als Herbert Wehner einen Strauß roter Rosen für Willy Brandt hochhält und in den Saal brüllt:

    "Wir lieben ihn alle ... und stehen hinter ihm!"

    Bahr traut seinen Augen und Ohren nicht ob dieser Heuchelei. Heute ist er davon überzeugt: Wehner wollte den Weg freimachen für die Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Sein Intrigenspiel, Gespräche, die er auf eigene Faust mit Ostberlin führte, darin sieht Bahr den Grund für den Rücktritt Brandts, der enttarnte Stasi-Spion war demnach nur das auslösende Moment.

    "Der entscheidende Punkt war, dass Wehner in Moskau Brandt verleugnet hat, und wir haben über unseren direkten Kanal die Antwort bekommen: Das ist ein Verräter. Wehner und Honecker standen für die Fortsetzung der deutschen Teilung, solange es die beiden Männer gibt, während Brandt dafür gearbeitet hat, dass die deutsche Einheit zustande kommt und die europäische Teilung überwunden wird."

    Willy Brandt und Egon Bahr. Eine Freundschaft, wie sie in der Politik nur ganz selten vorkommt. "Der Freund", nicht "mein Freund", schreibt Bahr heute. Als Distanzierung will er das nicht verstanden wissen.

    "Ich hätte das Buch nie angefangen, wenn ich nicht einen Brief bekommen hätte, etwa eine Woche nach seinem Tod, von seinem Sohn Lars, der hätte sich von seinem Vater verabschiedet, wie es sich gehöre, und gefragt: 'Wer waren Deine Freunde?' Und die Antwort war: 'Egon!'"

    Spät, aber nicht zu spät, so scheint es, hat Egon Bahr Gewissheit darüber bekommen, was dieser Brandt wirklich für ihn empfunden hat:

    "Das war für mich wie der höchste Orden, den ich hätte bekommen können!"

    Frank Capellan: Egon Bahr: Das musst du erzählen.
    Erinnerungen an Willy Brandt

    Propyläen Verlag, 240 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-549-07422-0