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Eindringlich erzählt

"Kellerkind" ist die wahre Geschichte des jüdischen Mädchens Sylvia Perlmutter. Während des Zweiten Weltkrieges verbrachte sie ihr Leben im Getto von Lodz. Viele Jahrzehnte hat sie geschwiegen, dann hat sie ihre Erinnerungen ihrer Nichte Jennifer Roy erzählt, einer amerikanischen Jugendbuchautorin.

Von Ute Wegmann | 11.10.2010
    (Auszug aus einem Interview mit Sylvia Perlmutter):

    "1939 marschierten die Deutschen in die Stadt Lodz in Polen ein. Sie zwangen alle Juden, in einem kleinen Teil der Stadt zu leben, einem sogenannten Getto. Sie zogen einen Stacheldrahtzaun darum und stellten Nazi-Wachposten auf, um sicherzugehen, dass auch alle in dem abgegrenzten Gebiet blieben. Im Getto von Lodz lebten 270.000 Menschen. Der Krieg endete 1945. Die Deutschen kapitulierten und das Getto wurde befreit. Von mehr als einer Viertelmillion Menschen waren nur noch 800 am Leben, darunter zwölf Kinder. Ich war eines dieser zwölf."
    Die Erzählung beginnt im Herbst 1939 und endet mit der Befreiung durch die Russen am 19. Januar 1945. Es gibt viele Geschichten über den Holocaust, aber selten ist es einer Autorin gelungen, derart authentisch den Ton einer Überlebenden wiederzugeben. Und zwar auf eine eindringliche und dennoch einfache Art und Weise, sodass das Buch für jüngere Kinder genauso gut lesbar ist wie für Erwachsene. Wir erleben, aus Sicht einer Zehnjährigen, den Alltag und Überlebenskampf im Getto.

    Farben des Gettos. "Papa und ich gehen Hand in Hand zu einem Haus, in dem er zu tun hat. In den Straßen drängen sich die Menschen und es ist ein Wunder, dass wir genug Luft zum Atmen haben. Während Papa mich weiterzieht, sehe ich braune Schuhe, braune Hosenbeine, braune Kleider, braune Straße. Ich sehe auf zu den braunen Häusern und der braunen Wolke aus Staub und Rauch, die am Himmel hängt. Helle Farben gibt es nicht im Getto, bis auf die gelben Sterne und die roten Pfützen aus Blut, um die wir vorsichtig herumgehen. 'Sie haben wieder geschossen', sagt Papa leise. Sein Gesicht ist grau."

    In fünf Teile gegliedert, folgt die Erzählung chronologisch den Ereignissen. Mit Überschriften versehene Abschnitte unterteilen die Kapitel in viele kleine Segmente, die jeweils einen Fokus setzen: Farben des Gettos, Der Zaun, Die Wache, Neue Ängste, Schlimme Nachrichten, Spiele, Essen, Verstecken, Neue Regeln. Der erste Teil rückt das Beobachten in den Vordergrund. Syvia versucht, die Stimmungen der Menschen, vor allem der Nazis, einzuordnen, um sich vor Gefahr zu schützen.

    Die Erwachsenen hier sagen "Lebt allein für den heutigen Tag, wer weiß, ob es uns morgen noch gibt!"
    Im zweiten Teil wird das kleine Mädchen zum ersten Mal mit dem Verschwinden eines geliebten Menschen konfrontiert. Ihre Freundin taucht nicht mehr auf. Ab sofort wird Syvia den ganzen Tag alleine zuhause verbringen müssen. Einsamkeit prägt das tägliche Erleben einer Sechsjährigen, die unentwegt Staub wischt, in den Staubbällchen Familien entdeckt und ihrer Fantasie freien Lauf lässt. Im Winter 1942 sind die Lebensmittel knapper denn je. Die Nazis versprechen den Eltern ein besseres Leben für ihre Kinder und deportieren sie. Syvias Vater ahnt das Schlimmste, versteckt sich mit seiner Tochter auf dem Friedhof. Lebendig begraben harren sie aus.

    Die Nazis haben eine neue Bekanntmachung verbreitet: Keine nächtlichen Durchsuchungen mehr! Keine Deportationen mehr. Das sind gute Nachrichten. Als ich davon höre, mache ich einen kleinen Tanz. Hopp, hopp, hopp und rundherum, nie mehr draußen verstecken! Hopp, hopp, hopp und rundherum, nie mehr in der gruseligen Dunkelheit sitzen. Heute Nacht kann ich in einem Bett mit meinen beiden Eltern schlafen. Hopp, hopp, hopp und rundherum. Dann erfahre ich die schlechte Nachricht und mein Tanz ist zu Ende. Die schlechte Nachricht: Die Durchsuchungen und Deportationen sind vorbei, weil alle Kinder weg sind. Alle? Fast alle.
    Syvia wird das Haus zwei Jahre lang nicht mehr verlassen können. Zwei Jahre größter Ängste und maximaler Eintönigkeit. Aber das ist nicht das Ende. Denn enden wird ihre Flucht in einem Keller.

    Man sollte denken, in einem Raum voller Kinder müsste es laut zugehen, aber nein, es ist meistens sehr still. Nach all den Monaten, in denen wir sehr wenig zu essen hatten und kaum an der Sonne waren, sind wir schwach und teilnahmslos. Ich komme mir vor wie ein Haufen Knochen, der in der Ecke liegt.
    Die zwölf überlebenden Kinder. Zusammengepfercht in einem Kellerraum. Bis zur Befreiung durch die Russen, die die Hoffnung auf überlebende Juden aufgegeben hatten. Berührend und eindringlich erzählt, nie moralisierend, sondern präzise zeichnet die Autorin das Leben im Getto von Lodz, Räume und Stimmungen, und das alles erfasst mit den Augen eines kleinen Mädchens. Gegen das Vergessen hat Sylvia Perlmutter die lebendigen Erinnerungen ihrer Nichte erzählt. Für die Nachwelt. Und Jennifer Roy hat ein wichtiges Buch daraus gemacht. Ein Buch für Kinder und Erwachsene.

    Ute Wegmann über Jennifer Roy: Kellerkind. Die deutsche Ausgabe ist im Gerstenberg Verlag erschienen, umfasst 160 Seiten und kostet 13 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-83695-308-5.