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Eine Annäherung

Dass Schiller primär ein "Autor der Jugend" war, für reifere Menschen jedoch wenig geeignet, es sei denn unfreiwillig zu deren Erheiterung dienend, lässt sich mit Blick auf das vielfältige Oeuvre, das dieser todkranke Mensch in nur zweieinhalb Jahrzehnten zu Papier gebracht hat, leicht widerlegen - man schaue nur einmal in die geschichtsphilosophischen und historischen Schriften oder in den grandiosen Wallenstein.

Von Michael Buselmeier | 10.11.2009
    Sein Werk ist ein Triumph des Geistes und des Willens über die Körperschwäche. Richtig ist freilich, dass sich jugendliche Idealisten, dem Lebenssinn auf der Spur, besonders leicht für Schiller und sein Werk begeistern - zumindest war das früher so. Für mich jedenfalls war er damals der wichtigste Dichter überhaupt, der mit biblischer Urgewalt zu mir sprach, durch Dramen wie Die Räuber, Kabale und Liebe, Don Carlos, die ich, erfüllt von Pathos, Sprachkraft und kaum begriffener Revolte, über große Strecken auswendig konnte.

    Auch seine Balladen liebte ich früh, und sie gefallen mir, obwohl sie von sehr unterschiedlicher Qualität sind, noch immer, dem Hochmut mancher Gebildeten zum Trotz. Sie sind, im Dialog mit Goethe, in der "Klassischen Periode" entstanden, so Die Kraniche des Ibykus 1797, Die Bürgschaft 1798, Der Graf von Habsburg, geschrieben im April 1803, zuerst veröffentlicht im Taschenbuch für Damen 1804:

    "Zu Aachen in seiner Kaiserpracht
    Im altertümlichen Saale,
    Saß König Rudolfs heilige Macht
    Beim festlichen Krönungsmahle.
    Die Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins,
    Es schenkte der Böhme des perlenden Weins,
    Und alle die Wähler, die sieben,
    Wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt,
    Umstanden geschäftig den Herrscher der Welt,
    Die Würde des Amtes zu üben."


    Ein getragener, ja glanzvoller, den Leser oder Zuhörer sogleich in das Geschehen des Festes einbeziehender Anfang. Dazu das lebendige, daktylisch-jambische Metrum, mit dem Schiller rhythmisch sehr frei und variabel verfährt.

    In Schillers Balladen geht es weniger um Geschichte als um dramatische Geschichten, parabolische Erzählungen, Legenden. Deren Helden sind längst zu Mythen geworden, und mythisch-erhaben ist auch die Sprache, die sie feiert: in unserem Fall den Priester, der zugleich Sänger ist, und den Kaiser, der in ihm einen Ebenbürtigen erkennt. Die Vorstellung vom Dichter als Priester, vom Kaisertum, das sich im Dichtertum spiegelt, mag längst obsolet sein und zeugt doch immer noch von der Achtung, die der Dichtung, ihren Formen und Ritualen, einst entgegengebracht wurde.

    Derart beflügelt vom Feuer Schillerscher Verse, heroisch aufgewühlt vom Rezitieren unter freiem Himmel, schrieb ich als knapp 16-jähriger Schüler ein aus mehreren Strophen bestehendes, streng geformtes und gereimtes Gedicht, vermutlich mein erstes: Theoderichs Tod. Ballade. Meinen Verfassernamen habe ich irgendwann mit schwarzer Tinte unlesbar gemacht, als hätte ich mich meiner Verse geschämt. Vier Strophen zu je acht Zeilen haben sich auf einem beidseitig beschriebenen Blatt erhalten, das ich kürzlich nach langem Suchen wieder entdeckte. Meine Mutter hat das Gedicht für mich abgetippt, sicher mit Bewunderung für den Sohn, und hat doch zugleich ungerührt das Blatt mit handschriftlichen Zusätzen, pragmatischen Anweisungen versehen, die ungewollt den kargen Alltag der Entstehungszeit - 1954, mein "Balladenjahr" - ins Spiel bringen:

    "Vergiss nicht, die Treppe zu kehren!" steht mit Kuli direkt unter der vierten Strophe, und am Seitenrand ist zu lesen: "Bitte besorgen: Margarine (-,80), 3 Gasmünzen (-,78), 5 Strommünzen (-,55)."

    Meine Ballade ist noch in der armen Zeit entstanden, als man mit dem Schreibpapier sparsam umging und schon froh war, wenn es Margarine gab. Und wenn wir keine Gas- und Strommünzen in den Zähler werfen konnten, mussten wir im Finstern frieren und ohne Essen zu Bett.

    Das hat mein junges Dichtertum nicht aufhalten können. Felix Dahns Roman Ein Kampf um Rom (1876), der - nur bedingt den historischen Quellen folgend - vom Untergang des Ostgotenreichs in Italien berichtet, hatte es mir, neben Schillers Versen, angetan. Von der literarischen "Moderne" (Expressionismus, Surrealismus) wusste ich nichts. Wie Schiller war Dahn nebenher Historiker, hatte auch Dramen und Balladen geschrieben. Ich bewunderte den großen Theoderich, den blonden Totila und den finsteren Teja und versuchte, ihr tragisches Germanen-Schicksal in eine spannende Ballade zu fassen, wobei mir Der Graf von Habsburg als Vorbild diente.

    Entdeckt hatte ich Schillers Gedicht in einem Balladenbuch von 1907, herausgegeben von Ferdinand Avenarius. Ich hatte mir, was den Aufbau der Strophen, was Rhythmus, Metrum und Reim angeht, den besten Lehrer genommen, den man als poetisch begeisterter Jüngling in der Provinz finden konnte. Zögernd, doch nicht ohne Wohlwollen setze ich die erste Strophe von Theoderichs Tod hierher. Natürlich ist sie von Schillers Kunstfertigkeit meilenweit entfernt, doch der junge Autor scheint das zu ahnen und begnügt sich mit bescheideneren Lösungen:

    "Schon wich die Nacht dem lichten Tag,
    Und im Prunksaal zu Ravenna lag
    Im Dufte von Weihrauch und Verben
    Theoderich im Sterben.
    Des Löwen Haupt war grau und matt,
    Die Kräfte waren nicht mehr die alten.
    Er hatte den Wein Italiens satt.
    Bald wird sein Körper erkalten."