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Eine Bankrotterklärung des Tellerwäscher-Mythos

"Eine glatte Million oder Die Demontage des Lemuel Pitkin” ist eines der bösesten Märchen, das Sie je lesen werden. Statt dass Hexen darin Kinder und Wölfe Großmütter fressen, zertrümmert die Wirklichkeit Illusionen.

Von Sacha Verna | 06.05.2011
    Es ist eine verzerrte Wirklichkeit, die Nathanael West entwirft, zugegeben. Aber eine, die so viele Wahrheiten enthält, dass man sich zehnmal ins Lebkuchenhäuschen und ein rotes Käppchen wünscht.

    1934 als Wests dritter Roman im Original erschienen, 1972 erstmals auf Deutsch und nun endlich in einer exzellenten und stark überarbeiteten Neuausgabe erhältlich ist "Eine glatte Million” eine Bankrotterklärung des Tellerwäscher-Mythos schlechthin. Dass Glück Geld bedeutet, und Geld nur verdient, wer schon eine Menge davon hat, steht in dieser negativen Utopie von Anfang an fest. In der amerikanischen Verfassung ist lediglich die Freiheit verankert, nach Glück zu streben, nicht aber das Recht auf Glück an sich. Da hat Nathanael West wesentlich genauer hingeschaut als mancher andere.

    Die Handlung ist denkbar banal: Ein Simplicissimus vom Lande macht sich auf in die Großstadt, um sich und seine Mama vor dem Ruin zu bewahren. Auf dem Weg nach New York wird der arme Junge nach Strich und Faden ausgenommen. Mehr als das: Er verliert unter anderem seine Zähne, ein Auge und ein Bein, von seiner Menschenwürde ganz zu schweigen. Dabei bleibt Lemuel Pitkin so unerschütterlich in seinem Glauben ans Gute wie der Erzähler in der liebenswürdigen Gelassenheit, mit der er eine groteske Grausamkeit nach der anderen schildert. Viel von seinem tragischen Witz verdankt dieser Roman eben dem Gegensatz zwischen der buchstäblich stückweisen Zerstörung eines Individuums und dem gentlemenhaften Plauderton, dessen sich der Autor bedient. Lemuel wird gerade der Skalp abgezogen? Bedauerlich.

    Die Bezeichnung "Individuum” trifft auf den tumben Protagonisten freilich nicht ganz zu. Lemuel ist eine Karikatur, kein Wesen mit einem fein säuberlich geschnitzten psychologischen Profil. Dasselbe gilt für die übrigen Figuren, die Nathanael West auftreten lässt: Kommunisten und Kapitalisten, Indianerhäuptlinge und chinesische Bordellbesitzer. Das Überraschende an diesen grob skizzierten Abziehbildern ist die Unaufhaltsamkeit, mit der sie zu Dämonen mutieren. Der beschränkte Metzgersohn wird zum Vergewaltiger. Der verlogene Politiker verwandelt sich in einen amerikanischen Hitler.

    Damit sind wir bei den Anspielungen aufs Zeitgeschehen. Man erinnere sich: "Eine glatte Million” erschien erstmals 1934. Die Weltwirtschaftskrise und Gerüchte von der Verschwörung jüdischer Bankiers, Arbeitslosigkeit und Sowjetagenten: Sie entsprangen damals keinen Horrorszenarien, sondern entsprachen dem Alltag. Es ging die Angst um vor einer faschistischen Diktatur in den Vereinigten Staaten, und zugleich hegten viele den Wunsch danach. In Wests Roman kommt es tatsächlich dazu. Ausgerechnet Lemuel steigt nach seinem gewaltsamen Ableben zu ihrem Märtyrer auf. Doch trotz der Bewegung der Lederhemden und einem Horst-Wessel-Song zum Abschluss wirkt "Eine glatte Million” völlig unverstaubt. Es wird darin keiner Ideologie gehuldigt, und es fehlt jeglicher gesellschaftskritische Pathos. Dieser Roman ist hoch komisch, zeitlos schrecklich und unbedingt lesenswert.

    Nathanael West: Eine glatte Million oder Die Demontage des Lemuel Pitkin
    Roman. Aus dem Amerikanischen von Dieter E. Zimmer
    Manesse Verlag, Zürich/München 2011
    220 Seiten, 19.95 Euro