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Eine Bilanz des 21. Jahrhunderts

Die Welt erfährt eine neue Ordnung. Timothy Garton Ash, der die großen, oft widersprüchlichen Bewegungen der letzten zehn Jahre analysiert hat, geht auf die aktuellen Verhältnisse zwischen den Kontinenten ein und liefert eine Bilanz des 21. Jahrhunderts.

Martin Ebel | 12.12.2010
    Welcher Historiker träumt nicht davon, bei Wendemarken der Geschichte - bei Caesars Ermordung, der Entdeckung Amerikas oder der Französischen Revolution - dabei gewesen zu sein! Wie sehr könnten ihre Geschichtswerke von solcher Augenzeugenschaft profitieren! Timothy Garton Ash hat sich diesen Traum erfüllen können. Er saß bei der großen Umwälzung in Mitteleuropa, der friedlichen Revolution von 1989, in der ersten Reihe. Ursprünglich war der Brite nach Berlin gekommen, um eine Doktorarbeit über die Nazizeit zu schreiben. Dann merkte er, dass in der anderen Hälfte der geteilten Stadt eine Diktatur herrschte, die man live studieren konnte. Er begann, sich mit den Lebensverhältnissen der Ostdeutschen zu beschäftigen, lernte Dissidenten kennen und weitete seinen Blick auf die Nachbarländer aus. Er war mit oppositionellen Künstlern und Intellektuellen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei befreundet, als noch nicht zu ahnen war, welche Veränderungen bevorstanden. Und als diese Veränderungen kamen und seine Freunde nach oben trugen, war er dabei: zum Beispiel in jenem verglasten Kellerraum des Laterna-Magica-Theaters in Prag, von dem aus Vaclav Havel und seine Mitstreiter die "samtene Revolution" zum Erfolg führten.

    "Ein Jahrhundert wird abgewickelt", das Reportagebuch von 1990, ist das Zeugnis dieser privilegierten Position eines "Historikers der Gegenwart", wie George F. Kennan ihn genannt hat. Heute lehrt Ash in Oxford und Stanford, schreibt in der "New York Review of Books" und im Guardian, führende Blätter weltweit drucken seine Analysen nach. Die besten aus den letzten Jahren hat er jetzt wieder in einem Buch versammelt: Es heißt "Jahrhundertwende" und zieht Bilanz eines Jahrzehnts. Eines kurzen Jahrzehnts, das 2001 mit dem Terror-Angriff auf die Zwillingstürme begann und, so der Autor, mit der Finanzkrise, dem Aufstieg Chinas, der Wahl Obamas und der zunehmenden Bedeutung des Klimawandels sein Ende gefunden hat, also ungefähr 2008.

    " Im Gegensatz zu den 1980er- und 1990er-Jahren ist diese Dekade namenlos. Ich werde Sie nicht mit Bezeichnungen wie etwa "Nullerjahre" quälen. Das sind allenfalls missglückte Versuche. Es scheint mir vielmehr ganz passend, dass diese Dekade namenlos bleibt, denn nicht nur ihr Charakter, sondern auch ihre Dauer bleibt verschwommen. Sie begann vorzeitig und endete rascher als erwartet. Nach den langen 1990er-Jahren kamen die kurzen Wie-auch-immer."

    Natürlich sind die Essays teilweise von den Ereignissen überholt worden - veraltet allerdings ist keiner von ihnen, lesenswert sind sie alle. Ash hat die Qualitäten des Reporters, der Orte und Menschen aufsucht, neugierig, mit dem Blick für das sprechende Detail und immer bereit, sein Vorwissen von neuen Erkenntnissen korrigieren zu lassen. Und er verfügt über den breiten Hintergrund des Historikers, der vergleichen, einordnen und relativieren kann. Wobei sein enormes Wissen die Darstellung durchaus nicht schwerfällig macht. Seine Parallelen sind oft ausgesprochen witzig. Ein Beispiel: Einer der Gründe, weshalb die gewaltlosen Umstürze in Osteuropa, die er unter den Oberbegriff "Samtene Revolutionen" fasst, glückten, war, dass die bisherigen Machthaber nichts Schreckliches zu befürchten hatten. Man stelle sich vor, so Ash, die Französische Revolution wäre ebenso verlaufen:

    " Die samtene Revolution überlebt nicht nur ein Abbé Sieyès. Auch ein Ludwig XVI. hätte ein hübsches kleines Palais in Versailles behalten dürfen, und Marie Antoinette hätte wohl erfolgreich teure Dessous vermarktet."

    Timothy Garton Ashs historischer Relativismus bewahrt ihn auch vor zwei klassischen journalistischen Versuchungen: Mücken zu Elefanten aufzublasen und Widersprüche einzuebnen.

    "Facts are subversive", lautet der Titel des englischen Originals. Tatsachen wie die, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen besaß. Nur weil die amerikanische und die britische Regierung mit "korrigierten Fakten" arbeitete, kam es zum Irak-Krieg. Für Ash sind Tatsachen heilig. Auch wenn sie ihn dazu führen, eigene Positionen zu revidieren. Auch wenn sie die Darstellung kompliziert machen - so kompliziert eben, wie die Verhältnisse selbst sind.

    Zum Beispiel die mazedonischen Verhältnisse, die in einem langen Essay aufgedröselt werden. Darf man mit einem Terroristen Whisky trinken?, fragt der Autor sich selbst, nachdem er das mit Ali Ahmeti, dem albanisch-mazedonischen Guerillaführer, getan hat. Ist Ahmeti denn ein Terrorist und wie bestimmt man einen solchen?, lauten die weiteren Fragen, die notwendig sind, um die erste zu beantworten. Anhand der vier Kriterien Biografie, Ziele, Methoden und Umfeld kommt Ash zu einem, natürlich, möchte man sagen, differenzierten Bild seines Whisky-Mittrinkers. Ahmeti hat gezielt, aber auch begrenzt Gewalt gegen mazedonische Institutionen angewendet; deren Vorgehen war indessen um einiges brutaler. Gemäßigt waren auch Ahmetis Ziele: Gleichberechtigung für die mazedonischen Albaner. Das politische Umfeld scheint ihm ebenfalls Recht zu geben: Die mazedonische Regierung verhielt sich überaus stur und setzte beschlossene Veränderungen zugunsten der Albaner im Land einfach nicht um. Ash zeigt aber auch Verständnis für diese Regierung.

    "Es gibt Völker, die einen eigenen Staat anstreben, und Völker, denen er übergestülpt wurde. Den Mazedoniern hat man ihren Staat übergestülpt, als sich 1991 das ehemalige Jugoslawien auflöste. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erhoben alle vier Nachbarn des Lands Anspruch auf sein Territorium: Zwischen den Weltkriegen deklarierte Serbien es als seinen südlichen Landesteil; Bulgarien betrachtete es als zu ihm gehörig (und das Mazedonische als bulgarischen Dialekt), albanische Nationalisten beanspruchten große Teile für ihr Großalbanien, und die Griechen behaupteten, Mazedonien sei griechisch. Keiner dieser Ansprüche hat sich mit dem Jahr 1991 erledigt."

    Dazu kommen noch die demografisch begründeten Existenzängste, weil die albanischen Mazedonier deutlich mehr Kinder in die Welt setzen als die slawischen. Fazit: Ahmeti hat Gewalt ausgeübt, obwohl andere, wenn auch langsamere und nicht zwingend erfolgsversprechende Wege möglich gewesen wären. Trotzdem war er dann der Verhandlungspartner für eine friedliche Lösung, auch mit dem Segen Europas und der USA. Hier kann sich der Autor einen sarkastischen Seitenhieb auf die "ständigen Strategie- und Rhetorikwechsel des Westens" nicht verkneifen, wo ein Terrorist schnell zum Verbündeten wird und umgekehrt. Ein Whisky mit Ali Ahmeti ist also, dürfen wir nach dieser ausführlichen Diskussion folgern, in Ordnung - jedenfalls nicht zu vergleichen mit dem Schnaps, den der Kommandant der niederländischen UN-Truppen in Srebrenica mit dem Serbengeneral Mladic trank. Ash erwähnt den Vorfall in diesem Zusammenhang nicht, die Anspielung ist aber offensichtlich, sie zu verstehen überlässt der Autor seinem wohlinformierten Leser.

    Wen interessiert Mazedonien? könnte der von der Ausführlichkeit und Differenziertheit der Darstellung erschöpfte Leser fragen. Jeden - wenn es ihm so anschaulich erklärt wird wie von Timothy Garton Ash. Und wenn es als exemplarisch erkannt wird für die ethnischen Probleme, die zumindest den Osten Europas noch lange beschäftigen werden.

    Der Westen hat es derweil eher mit den Bürgern muslimischen Glaubens zu tun. Diesem Komplex, der Terrorangst und Integrationsprobleme verbindet, gelten gleich mehrere Aufsätze in "Jahrhundertwende". Unter welchen Bedingungen geht von den europäischen Muslimen eine terroristische Gefahr aus? Ash hat unmittelbar nach dem Anschlag vom 11. März 2005 Madrid besucht und mit Bewohnern des Stadtviertels Lavapies gesprochen, in dem viele Einwanderer aus Nordafrika leben. Darunter der neunzehnjährige Marokkaner Mohammed Said, der nichts dabei findet, Osama bin Laden zu bewundern, aber auch brav seine Klempnerlehre macht: ein Mann auf der Kippe zwischen Integration und Entfremdung. Auf dieser Kippe stehen Millionen Mohammeds. Und um sie geht es in den kommenden Jahren. Um ihre Köpfe muss ein friedlicher Krieg geführt werden, meint Ash.

    " Doch dieser Krieg zur Vermeidung eines größeren lässt sich nur dann gewinnen, wenn sich auch einfache Bürger in ganz Europa bewusst dafür engagieren, und zwar im millionenfachen täglichen Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe und anderen Glaubens. Dies sind entscheidende Erfahrungen, wenn es darum geht, ob sich die bereits zahlreich unter uns lebenden muslimischen Einwanderer dem islamistischen Extremismus - und damit letztlich dem Terror - zuwenden oder ob sie ihm entsagen. Dies ist kein "Krieg gegen den Terror", in dem die machtvollen Armeen und Sicherheitsapparate mächtiger Staaten von einzelnen technisch versierten, selbstmordbereiten Menschen überlistet werden. Es ist ein Krieg, der verhindern soll, dass solche Leute überhaupt zu Terroristen werden. Es ist ein Krieg der kleinen Gesten, der banalen alltäglichen Handlungen."

    Ash ist klar, dass es hier nicht mit Gutmenschentum getan ist, dass guter Wille und gute Absichten nicht ausreichen. Im Zusammenleben von Menschengruppen unterschiedlichster Kulturen sind immer wieder heikle Entscheidungen zu fällen. Und Ash ist entscheidungsfreudig und in der Lage, seine Entscheidungen gut zu begründen. So spricht er sich klar gegen ein Kopftuchverbot aus, wie es Frankreich erlassen hat. Es erscheint ihm genauso fragwürdig wie die iranische Vorschrift, den "hijab" zu tragen. In einer freien, modernen Gesellschaft sollten Erwachsene sich kleiden dürfen, wie sie wollen. Schwerer nachzuvollziehen ist seine Position in Fragen der Meinungsfreiheit. Hier lässt er keine Kompromisse und Einschränkungen zu, auch nicht solche, die mit Rücksicht auf religiöse Empfindlichkeiten verhängt werden. Diese "Beschwichtigungspolitik", wie er sie nennt, führe dazu, dass jede Gruppe ihre Tabus auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen könne, und dann gebe es bald nicht mehr viel, über das man frei reden könne. Meinungsfreiheit schließe das Recht ein, andere zu kränken - etwa indem man sich über ihre Religion oder deren historische Führer kritisch oder auch nur abweichend von der herrschenden Lehre äußert. Wenn man allerdings von den Muslimen verlangt, Religionskritiker, Leugner und Mohammed-Karikaturisten zu tolerieren, dann sollte man auch bei uns keine abweichende historische Meinung unter Strafe stellen. Weg also, fordert Ash, mit Gesetzen gegen die Leugnung des Völkermords, sei es an Armeniern, sei es an Juden. Wenn schon, denn schon. Aber ist das nicht etwas völlig anderes, möchte man einwenden, ob man eine Religion in Frage stellt oder historische Fakten? Auch diesen Einwand bringt der Autor selbst zur Sprache und entgegnet darauf:

    "Historische Fakten entstehen ja gerade, indem sie angezweifelt und an den vorliegenden Beweisen überprüft werden. Ohne einen solchen Prozess - bis hin zum revisionistischen Extrem des blanken Leugnens - können wir nicht herausfinden, welche Fakten wirklich standhalten."

    Das ist die Haltung eines wahren Liberalen, der auch die unangenehmen Konsequenzen akzeptiert, zu denen ihn sein konsequentes Denken führt. Ziel muss sein, dass man in einem überwiegend säkularen Europa gleichzeitig frommer Muslim und vollwertiger Bürger einer freien Gesellschaft sein kann - ein Ziel, das zu erreichen von beiden Seiten große Anstrengungen verlangt.

    " In einer freien Gesellschaft müssen wir uns nicht einig sein. Es muss nur Einigkeit darüber herrschen, auf welche Weise wir uneins sein dürfen."

    Dass der Autor Engländer ist, merkt man auf fast jeder Seite: an seiner Fairness, seinem Sinn für Gerechtigkeit, seinem trockenen Humor, seiner Art, auch heiße Kontroversen kühl zu betrachten. Nur beim Thema Europa wird er selbst ganz warm. Da bricht echte Leidenschaft durch. Denn bei allen Mängeln hält er die auf diesem Kontinent ausgebildete Methode, Konflikte friedlich zu lösen - und sei es durch "endloses Palaver" -, für eine der größten historischen Errungenschaften überhaupt. Dass ausgerechnet seine Landsleute jeglichen Enthusiasmus für Europa vermissen lassen, ist eine der ironischen Pointen des Buches.

    In mehreren Aufsätzen setzt er sich mit den Engländern auseinander, die ihre Insellage vom geografischen Faktum zur grundsätzlichen "Andersheit" hochstilisiert haben. Diese "Andersheit" ist von Historikern längst als Konstruktion entlarvt worden; hier kann der Historiker Ash ausreichend Material auffahren. Interessant für deutsche Leser ist wiederum, dass die deutsche Geschichtsschreibung die britische Konstruktion ihrerseits für bare Münze und Realität genommen hat. Was den Briten zur Abgrenzung gegenüber Kontinentaleuropäern, vor allem gegenüber den Franzosen diente, begriffen die Deutschen als "Standard für europäische Normalität"; und sie setzten dagegen ihren eigenen "Sonderweg".

    Immer wieder verlässt der Historiker Bibliothek und Vorlesungssaal und geht auf Reisen. Gute Vorbereitung, auch durch befreundete Kollegen und Spezialisten, intensive Gespräche vor Ort, genaue Nachbereitung: So beschreibt er selbst sein Vorgehen. Die Ergebnisse sind für uns um so bemerkenswerter, je exotischer das Reise- und Rechercheziel ausfällt. So gehört das USA-Kapitel nicht zu den stärksten des Buches, da fallen Ashs Beobachtungen kaum aus dem Rahmen des Vertrauten, nicht einmal der Bericht über eine Audienz bei George W. Bush, bei dem der Autor zusammen mit anderen den frisch gebackenen Präsidenten auf eine Europareise vorbereiten sollte.
    Mein Eindruck von diesem Mann war der einer seltsam unausgeglichenen Persönlichkeit: ein eher steifer, konservativer Ostküsten-Gentleman, der aus der Hüfte schießt wie ein texanischer Cowboy; eine rasche, geschäftsmäßige Auffassungsgabe gepaart mit erschreckender Ignoranz; engstirniger amerikanischer Nationalismus gepaart mit dem Wunsch, ein Staatsmann wie der Vater zu sein; bescheidener Charme, der eine in sich ruhende Persönlichkeit suggeriert, letztlich aber auch Zeichen tiefer Unsicherheit.

    AUTOR: Nun, diesen Mann möchten alle möglichst schnell vergessen. Zu den interessantesten, aber auch schönsten Texten in Timothy Garton Ashs "Jahrhundertwende" gehört dagegen die Birma-Reportage. Sie stammt aus dem Jahr 2000, gehört also zu den ältesten, aber es hat sich eben leider in diesem unglücklichen Land kaum etwas geändert - trotz des gewaltfreien Aufstandes, der 2007 versucht und blutig niedergeschlagen wurde und den der Autor erhofft und erwartet hat, natürlich mit besserem Ausgang. Ash war mit Michael Aris befreundet, einem Oxforder Kollegen und Ehemann der birmanischen Ikone Aun San Suu Kyi, der 1999 an Krebs starb. Er kann die Friedensnobelpreisträgerin treffen, zwischen zwei Hausarrestperioden, und vermittelt das Bild einer beeindruckenden, vollkommen in ihrer historischen Mission aufgehenden Persönlichkeit. Gewaltfreiheit ist für die praktizierende Buddhistin ein kategorischer Imperativ; die Machthaber hätten von ihr, würden sie ihre Macht verlieren, nichts zu befürchten: Eine Wahrheitskommission sei ihr lieber, sagt sie ihrem Besucher, als irgendwelche Schauprozesse.

    Durch die kürzlich erfolgte Freilassung Aun San Suu Kyis hat Ashs Reisebericht unerwartete Aktualität erhalten. Auch scheint mir seine Analyse der Schwierigkeiten und Voraussetzungen für einen friedlichen Übergang zur Demokratie immer noch gültig. Opposition und Militärdiktatur müssten sich auf ein Verfahren zur Machtübergabe einigen; die ethnischen Minderheiten, die immerhin ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, müssten zur Mitarbeit bereit sein; externe Hilfe wäre nötig, um gegen Birmas Plagen - Armut, Unterernährung, Bandenwesen, Korruption, Bildungsdefizite, Drogen, Aids - anzugehen; China als stille Schutzmacht der Militärs müsste mitspielen. Bei all dem, hofft der Autor, wäre noch zu wünschen, dass Birmas Schönheit - Ash vermeidet konsequent die offizielle Bezeichnung Myanmar - weitgehend erhalten bleibt. Die Militärdiktatur hat hier in paradoxer Weise konservierend gewirkt, ähnlich wie seinerzeit in Osteuropa. Aber ...

    "die Heerscharen des globalen Kapitalismus stehen bereits mit laufendem Motor an den Grenzen bereit. Sie bringen Container mit billigem Plunder, fertig geschnürte Lifestyle-Pakete, Sexshops, umgedrehte Baseballmützen und die geeignete Software zur unaufhörlichen Produktion neuer Konsumentenwünsche. Diese Truppen sind viel unwiderstehlicher als die der Tatmadaw oder Volksarmee, denn sie werden wirklich als Befreier begrüßt."

    Auch die Reportagen aus dem Iran, aus der Ukraine und aus Brasilien liest man mit Gewinn: an Wissen, an Erkenntnissen, an Einsicht. Ebenso die Würdigung George Orwells, eine Art Vorbild des Autors, den er für den einflussreichsten politischen Autor des 20. Jahrhunderts hält. Bestechend die Besprechung des Films "Das Leben der Anderen", bei der Timothy Garton Ash seine ganze Kenntnis der Verhältnisse - er wurde auch selbst von der Stasi bespitzelt - ins Feld führen kann; trotz Detailkritik kommt er zum Schluss, der Film habe seinen Oscar vollauf verdient.

    Elegische Töne schlagen dann die beiden letzten Texte an, die den Leser verabschieden: mit einem pessimistischen Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte: Der Kapitalismus ist aus dem Gleichgewicht und droht, wie ein Öltanker, dessen Ladung schon unkontrolliert hin- und herschwappt, zu kentern; und unter dem Druck möglicher, wahrscheinlicher Katastrophen - neue, vielleicht viel schlimmere Terroranschläge, radikalisierte Klimaerwärmung, Naturkatastrophen, Masseneinwanderung aus dem armen Süden - sieht Ash auch die dünne Schicht der Zivilisation zerbrechen. Man entziehe den Menschen die für sicher gehaltenen Grundlagen ihres Lebens, und innerhalb von Stunden, schreibt er, fallen sie in den Hobbes'schen Naturzustand zurück, den Krieg aller gegen alle. Spätere Generationen, so glaubt Ash am Ende dieser Bilanz des letzten Jahrzehnts, werden mit Neid und Nostalgie auf uns zurückblicken.

    Timothy Garton Ash: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000 - 2010. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Hanser, München 2010. 490 S.