Donnerstag, 28. März 2024

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"Eine europäische Verantwortung, der wir uns stellen müssen"

Nach dem Tod von mehr als 100 Flüchtlingen vor Lampedusa müsse die Europäische Union Rettungssysteme im Mittelmeer aufbauen, sagt der Europaparlamentarier Manfred Weber (CSU). Die Antwort sei nicht, alle Türen zu öffnen, sondern den Prozess der Zuwanderung humanitärer zu gestalten.

Manfred Weber im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.10.2013
    Christoph Heinemann: Tagelang haben die Medien, haben wir berichtet, als im Januar des vergangenen Jahres das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia vor der Insel Giglio umkippte. 32 Menschen kamen ums Leben. Deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen die täglichen Toten im Mittelmeer, die Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen den afrikanischen Kontinent hinter sich lassen und nach Europa gelangen wollen. Die italienische Regierung hat wegen der jüngsten Schiffskatastrophe vor der Insel Lampedusa einen nationalen Trauertag ausgerufen. Die Behörden rechnen damit, dass mehr als 300 Menschen das Unglück nicht überlebt haben könnten. Auf dem Boot war gestern ein Feuer ausgebrochen, es kam zu einer Panik, das Schiff kenterte und sank.
    Am Telefon ist der CSU-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Manfred Weber. Er ist stellvertretender Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, das heißt einem Zusammenschluss von christdemokratischen und konservativen europäischen Parteien. Guten Tag!

    Manfred Weber: Guten Tag, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Weber, der Papst spricht von Schande, Vergogna. Verhält sich Europa schändlich?

    Weber: Er weist da mit klaren Worten darauf hin, dass es sich um eine ganz große menschliche Tragödie handelt, die wir jetzt in den Tagen erleben mussten, und die – zurecht wird das von Menschenrechtsorganisationen angesprochen – tagtäglich im Mittelmeer passiert. Deswegen ist es eine europäische Verantwortung, der wir uns stellen müssen.

    Heinemann: Ist es auch eine europäische Tragödie?

    Weber: Es ist auf jeden Fall eine europäische Tragödie. Wir dürfen nicht die Mittelmeer-Staaten mit diesem Thema allein lassen. Die Menschen, die dort anklopfen an dieser Tür im Süden, wollen nicht nach Italien, sondern sie wollen nach Europa. Sie wollen eine Perspektive für ihr Leben. Das ist das, was die Menschen dort antreibt, und deswegen sind wir gemeinsam gefordert. Es wäre falsch, die Südländer allein zu lassen.

    Heinemann: Welche Forderung stellen Sie heute?

    Weber: Wir brauchen zunächst mal ein europäisches Bewusstsein dafür. Das ist unsere Aufgabe. Es ist auch unsere deutsche Aufgabe, sich dieser Frage zu stellen. Und dann müssen wir auch den Südländern ganz praktisch helfen. Wir haben auf europäischer Ebene heute bereits einen bestehenden Flüchtlingsfonds, Gelder der Europäischen Union, die wir Italien, Griechenland, Spanien zur Verfügung stellen, um an der Außengrenze Asylverfahren durchzuführen, den Menschen zunächst mal auch zu helfen, Camps aufzubauen. Dort fließen Europagelder rein, das ist richtig. Und als Zweites wäre, glaube ich, wichtig, dass wir, wenn wir über Systeme an der Außengrenze reden, nächste Woche im Parlament in Straßburg - Im Europaparlament werden wir zum Beispiel über den Aufbau eines Euro-Sure-Systems sprechen. Da geht es um die Vernetzung der Außengrenzen-Behörden, der besseren Abstimmung. Und wenn wir über solche Systeme auf europäischer Ebene reden, sprich die Koordinierung unserer europäischen Außengrenzen diskutieren, dann muss auch eine Kultur des Hinschauens herrschen, sprich Rettungssysteme aufzubauen, nicht nur Abwehrsysteme, sondern auch Rettungssysteme aufzubauen, dass die Behörden, die dort vor Ort tätig sind, sich auch verstehen als Behörden, die Menschen in Not helfen müssen. Diese Kultur brauchen wir.

    Heinemann: Stichwort Rettungssysteme. In Syrien wird, jetzt mal überspitzt ausgedrückt, kein Taschenmesser aufgeklappt, ohne dass die Nachrichtendienste das mitbekommen. Wieso kann man eine solche lückenlose Überwachung nicht auch im Mittelmeer auf den wichtigsten Flüchtlingsstrecken einrichten?

    Weber: Das ist exakt die Aufgabe, die wir jetzt machen müssen.

    Heinemann: Warum gibt es das bisher nicht?

    Mehr europäische Kooperation
    Weber: Weil wir zersplitterte Kompetenzen haben. Und wenn ich jetzt im Vorbericht den Innenminister Italiens, Alfano, höre, dass er darauf verweist, dass Europa gefordert ist, dann muss ich die Innenminister Europas, auch Alfano erinnern, dass, als wir über die Kompetenzen unserer Außengrenzen-Agentur Frontex gesprochen haben, also dem europäischen Außengrenzenschutz, da waren es die Innenminister, die keine Kompetenzen abgeben wollten, wo der italienische Innenminister, der spanische, wo die Innenminister sagten, ich will selbst über meine Grenzsicherung entscheiden mit eigenen Beamten. Das heißt, wir haben da schon ein Stück weit Doppelzüngigkeit in der Diskussion. Ich spreche mich ausdrücklich dafür aus, dass die Außengrenze Europas eine europäische Außengrenze heute ist, dass diese Außengrenze auch die deutsche Außengrenze sozusagen ist und dass wir deswegen mehr europäische Kooperation und auch Kompetenz brauchen.

    Heinemann: Stichwort Doppelzüngigkeit. Vielleicht ist das ja politisch gewollt, soll die drohende Lebensgefahr vor der Überfahrt abschrecken?

    Weber: Nein! Es will niemand in Europa Menschen gefährden. Ich würde niemandem das unterstellen, dass ernsthaft jemand mit dem Leid von Menschen kalkuliert. Das will niemand. Aber klar ist auch, dass wir als Europäer dann trotzdem in einem Zwiespalt sind. Es kann andererseits nicht sein, dass wir jetzt das Signal senden, wir machen alle Türen auf, wir öffnen alle Zuwanderungsperspektiven. Die Menschen, die zu uns kommen, wollen natürlich Arbeit, sie wollen Lebensperspektive, sind im Kern Menschen, die ein gutes Leben führen wollen, was man ihnen ja nicht absprechen kann. Andererseits muss man auch sagen, dass wir im Süden Europas 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit haben. Das heißt, auch Europäer suchen eine Lebensperspektive. Und deswegen kann nicht die Antwort sein, jetzt alle Türen zu öffnen, sondern wir müssen den Prozess der Zuwanderung humanitär gestalten, und deswegen muss klar sein, dass an der Außengrenze nicht nur abgewiesen wird, sondern dass zunächst mal Leben gerettet werden, Menschen geholfen wird, aber dann auch, wenn kein Zuwanderungsgrund besteht, rückgeführt wird, weil sonst werden wir keine Unterstützung bei den europäischen Bürgern für so einen Kurs finden.

    Heinemann: Herr Weber, kein Land hält die Türen so fest zu wie Deutschland. Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen wollen, müssen mit dem Fallschirm abspringen, oder sie sollten vor allen Dingen dann nicht auf Flughäfen landen, sonst werden sie direkt wieder zurückgeführt. Dafür hat ja die Unions-geführte Bundesregierung 1993 gesorgt. Ist das nicht doppelzüngig, was Sie sagen? Weisen Sie den schwarzen Peter nicht regierungsamtlich sozusagen nach Italien zurück?

    "Deutschland leistet seinen Beitrag"
    Weber: Nein. Das ist auch in der Faktenanalyse zunächst nicht richtig, weil wenn man die Zahlen der europäischen Flüchtlinge der letzten Jahre anschaut, hat Deutschland proportional zur Einwohnerzahl mehr Flüchtlinge aufgenommen, als das Italien gemacht hat. Wir haben an der Südgrenze hohe Sensibilität, weil uns die Bilder aus Lampedusa jetzt alle schocken, aber wir haben heute auch viel Binnenwanderung, wir haben heute auch viel über Flughäfen an Zuwanderung, wir haben heute viele Menschen, die mit einem legalen Visum einreisen und dann in Deutschland hier bleiben. Also Deutschland leistet seinen Beitrag und die Verteilung in Europa ist relativ ausgewogen aktuell. Zum Beispiel Schweden ist das Land, das im Syrien-Konflikt die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Jeder leistet seinen Beitrag. Entscheidend ist aber das Bewusstsein für die gemeinsame Verantwortung, die wir tragen, und die Kultur des Hinschauens. Das ist das, woran uns der Papst erinnert. Wir dürfen nicht eine Kultur des Wegschauens haben. Dass die Fischerboote vorbei fahren und sich nicht dafür interessieren, das dürfen wir nicht akzeptieren und da muss auch wie gesagt die Kulturveränderung stattfinden.

    Heinemann: Hinschauen, aber die Flüchtlinge bleiben auf Lampedusa?

    Weber: Die Flüchtlinge bleiben in Italien. Das ist das heutige Prinzip, bis so entschieden ist, ob ein Zuwanderungsgrund vorliegt. Wir haben in der Masse der Menschen, die dort an der Südgrenze und auch übrigens an der Ostgrenze, in der Ukraine anklopfen, wir haben bei der Masse dieser Menschen, die da kommen, keinen Zuwanderungsgrund. Sie werden nicht nach den heutigen Standards politisch verfolgt. Es sind im Kern Menschen, die eine Lebensperspektive, wirtschaftliche Perspektive suchen, und da muss Europa auch das Recht haben dürfen, im Einzelfall nein zu sagen, zu sagen, du hast keinen Grund zuzuwandern, Dich führe ich auch wieder zurück in Deine Heimat.

    Heinemann: Das heißt, diese Menschen haben Pech gehabt?

    Weber: Was heißt, diese Menschen haben recht gehabt?

    Heinemann: Nein: Pech gehabt!

    Weber: Ja! Das Prinzip ist, dass wir ein Zuwanderungsrecht in der EU haben, und das muss jeder vernünftige Mensch für richtig erachten, weil wir können nicht an der Grenze sagen, jeder darf rein. Das kann nicht das Prinzip sein, sondern wir müssen die Menschen herausfinden, die politisch verfolgt sind, die Flüchtlingsstatus haben, weil sie aus Bürgerkriegsgebieten wie Syrien kommen, und diesen Menschen müssen wir auch Schutz gewähren. Anderen müssen wir aber auch an der Außengrenze sagen, Du hast keinen legalen Grund zuzuwandern, da gibt es keinen Anlass, deswegen müssen wir Dich auch wieder rückführen in dein Heimatland, wo du auch ein Leben führen kannst. Wir können nicht die Probleme Afrikas lösen, indem wir in Europa alle Türen aufmachen. Das kann nicht der richtige Weg sein. Aber noch mal: Was wir am Lampedusa-Fall lernen, ist die Frage der Hinwendung zu den humanitären Fragen. Das muss jetzt im Mittelpunkt stehen. Und wenn wir das ordentlich anpacken, gemeinsam europäisch, auch mit Finanzen, dann werden wir unserer Verantwortung auch gerecht.

    Heinemann: Herr Weber, wer es von Eritrea zum Beispiel bis Libyen oder Mauretanien geschafft hat, der wird immer wieder versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Das heißt, Sie verschärfen die Krise noch durch die Rückführung, weil die Rückgeführten dann abermals versuchen, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen?

    Weber: Herr Heinemann, dann müssen Sie eine Alternative aufzeigen.

    Heinemann: Sie sind der Politiker!

    Manfred Weber, MdEP, stellvertretender EVP-Fraktionsvorsitzender im Europaparlament und Bezirksvorsitzender der CSU Niederbayern
    Manfred Weber sagt: "Es ist auf jeden Fall eine europäische Tragödie." (Deutschlandradio - Bettina Straub)
    Europa muss "seine Nabelschau beenden"
    Weber: Ich sage Ihnen, die Alternative dazu ist, dass wir mit den Menschen in den Heimatregionen eine Zukunft aufbauen müssen. Europa muss da auch ein Stück weit nach der Krise seine Nabelschau beenden, dass wir bei den Finanzen immer nur an selbst denken. Wir müssen bei der Entwicklungshilfe Afrika jetzt ein Partner sein. Wir müssen vor Ort Perspektive aufbauen. Ich wiederhole mich: Es kann nicht die Lösung sein, alle Menschen, die nach Europa wollen, auch in Europa aufzunehmen. Bei 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im Süden kann das keine verträgliche Lösung sein. Deswegen ja zum Zuwanderungsrecht, aber auch ja zu einer Kultur der Menschlichkeit und der Verantwortung.

    Heinemann: Wir wollen uns ganz kurz anhören, was Joachim Gauck gestern anlässlich des Tages zur deutschen Einheit gesagt hat.

    O-Ton Joachim Gauck: "Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen."

    Heinemann: Der Bundespräsident gestern. – Genau das ist passiert mit dem Blick aufs Mittelmeer: Risiken und Solidarität werden großflächig umgangen.

    Weber: Ich teile die Aussage des Bundespräsidenten voll. Er spricht genau die Balance an, die wir als Deutsche wahrnehmen müssen. Im konkreten Fall, der zum Beispiel bei Syrien jetzt vor der Tür steht, der Libanon ist staatlich am wackeln, der Staat ist instabil, aufgrund der Masse an Flüchtlingen, die aus Syrien noch in den Libanon kommen, deswegen glaube ich, dass wir bei den Syrien-Flüchtlingen, in den Bürgerkriegs-Flüchtlingsgebieten, dass wir dort faktisch nicht nur im Tausender-Bereich jetzt Flüchtlinge aufnehmen müssen, sondern dass Europa offen sein muss, diesen Menschen jetzt eine Heimat zu bieten in der Zeit des Bürgerkriegs, weil wir sonst die Region massiv destabilisieren. Das wäre konkret ein Punkt der Verantwortung, den wir übernehmen, und in dem Fall würde auch das heutige europäische Recht das hergeben, weil heute schon die Bürgerkriegs-Flüchtlinge einen anerkannten Flüchtlingsstatus in der Europäischen Union haben.

    Heinemann: Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber – danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Weber: Ich bedanke mich – tschüß!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.