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Eine Familiengeschichte

Von Anfang an ist es da, dieses Unbehagen, dieses schleichende Unbehagen. Und dieses Gefühl begleitet einen bis zum Ende des Buches. Erst sind es eher die Orte, oder das Klima. Die Häuser sind baufällig, die Straßen sind staubig, die Luft ist stickig und schwül. Fließt mal ein Fluss vorbei, ist er gleich voll mit Schlamm. Trostlos und ungesund wirkt das. Schon bald denkt man sich insgeheim: Irgendetwas stimmt nicht in dieser morbiden Außenwelt.

Von Jörg Christian Schillmöller | 26.01.2005
    Das Buch hat diese Stimmung wie von selbst heraufbeschworen, fast so wie in einem Thriller. Ich wollte diese Spannung aufbauen, mit wenigen Elementen, also dass man spürt: da läuft irgendwas schief, aber dass man nicht weiß, was. Und Adrien, die Hauptfigur fühlt sich eben auch unwohl, er spürt das alles auch, aber will den Dingen nicht auf den Grund gehen, er will nicht herausfinden, warum er sich so fühlt.

    Die Geschichte beginnt leise und unaufdringlich, es ist eine Familiengeschichte, oder, noch grundsätzlicher: eine Geschichte über den Begriff Familie schlechthin. Was macht eine Familie aus? Was für Bindungen gibt es - positiver wie negativer Art? Adrien beobachtet diese Familie über mehrere Jahre hinweg, diesen "Clan", könnte man sagen, der da eines Tages aus Uruguay zurückkehrt. Die Gründe für diese Rückkehr bleiben offen, allein die Gegenwart ist von Interesse: hier versucht eine rein äußerlich halbwegs normale Familie, wieder in Europa Fuß zu fassen. Raphael, der Vater, seine zweite Ehefrau Béatrice, und die drei Kinder - Nina, Pablo und Fabienne.

    Zitat:
    Raphaels blauer Volvo stand schräg auf dem Parkstreifen bei den Toiletten, zwanzig Meter neben der Tankstelle. Adriens Vater fuhr langsam, so dass sie zuerst Nina erkannten, die mit beiden Füßen auf die Betoneinfassung der Rabatte hüpfte, dann im Wageninnern Pablos Kopf im Profil, an die Fensterscheibe gelehnt, über die er verträumt mit dem Zeigefinger strich, und vorn Raphaels breiten Rücken, wie er sich zu Béatrice beugte und sie am Nacken festhielt. Adriens Mutter hatte das Fenster heruntergekurbelt, um ihnen zuzuwinken, besann sich dann aber anders. Béatrice hielt mit dem ganzen schmalen Oberkörper dem Druck der Hand stand, die sie nach vorn stieß: Raphael hatte seine Finger tief in ihren Hals gesteckt. Adrien hatte kein Wort für die Verwirrung, die er empfand.

    Es sei ihr Vergnügen als Schriftstellerin, den Leuten zuzuschauen, wie sie sich bewegen, sagt Pascale Kramer:

    Diese kleinen Details aufzuspüren, die so voller Bedeutung stecken. Sehen Sie, viele Dinge werden doch weniger durch Worte als durch Gesten enthüllt, damit verraten die Menschen sich doch. Und ich achte auf so etwas, zum Beispiel darauf, wie sich die Stimmung in kürzester Zeit verändern kann, wie die Laune manchmal innerhalb von nur einer Minute umschlägt. So etwas fasziniert mich.

    Sie sei eine Meisterin des Minutiösen, schrieb die Neue Zürcher Zeitung zurecht über Pascale Kramer. Und die kleinen Szenen bestimmen dieses Buch. Ungemein detailliert beschriebene Szenen, die den Leser verwirren, die nicht erklärt werden und dennoch eine starke Bedeutung in sich tragen. Der bullige Vater mit seiner archaischen Männlichkeit, die hübsche, aber verschlossene und düstere Mutter - und die drei Kinder, die kecke Nina, der eigenwillige Pablo, die herangereifte, etwas spröde Fabienne. Aber im Mittelpunkt steht immer Raphael, der Pater familias, der auch auf Adrien eine merkwürdige Anziehung ausübt, ein faszinierender und zugleich widerwärtiger Mann.

    Das ist so eine Vision des Männlichen... also: des Männlichen schlechthin, das ist das Oberhaupt des Clans, der absolute Beschützer, charismatisch und sexuell sehr dominant - also ich als Frau stehe dem nicht gerade gefühllos oder unempfänglich gegenüber! Und wenn man ehrlich ist zu sich selbst, dann ist doch die Beziehung zu solch einer Männlichkeit immer sehr zwiespältig.

    "Zurück" ist auch ein Buch über das Beobachten, denn das tut Adrien permanent. Er besucht diese Familie, verbringt Zeit mit ihr, zieht eines Tages gar im selben Mietshaus ein und wird immer wieder Zeuge von verwirrenden Situationen. Die französische Moralistik lehrte einst, den Menschen zu beobachten, um ihn zu durchschauen und seinen inneren Antrieb freizulegen: Adrien ist davon weit entfernt. Er will nicht verstehen, er zieht keine Schlüsse. Und so gleitet die Bedeutung dieser Familiengeschichte lange Zeit wie eine Unterströmung unter den sprachlichen Zeichen, wird aber nicht manifest: Geht es um Geld? Um Gewalt? Oder gar um Kindesmissbrauch? Der lang andauernde Schwebezustand macht den großen Reiz und die große Spannung des Buches aus: Wie bei einem Krimi wird erst ganz am Ende das brutale Geheimnis aufgeklärt. Und man ertappt sich dabei, wie man hin- und herblättert und sich fragt: Wann ist das bloß alles passiert?

    Ich mag eben einen etwas zurückhaltenderen Stil, aber das heißt nicht, dass ein Provokateur wie Michel Houellebecq mir nicht gefällt: Die 'Elementarteilchen' habe ich mit großem Interesse gelesen - aber ich selbst mag es eben subtiler. Ich habe Angst davor, einen zu entblößenden Effekt zu erzeugen, Angst davor, mich lächerlich zu machen. Bleibt man subtil, exponiert man sich weniger.

    Pascale Kramer schreibt nicht nur Bücher, sie liebt auch Filme. Das ist der andere Teil ihrer Persönlichkeit. Sie ist nicht nur Schriftstellerin, sie hatte vor ein paar Jahren auch die Idee, ihre Kontakte in Los Angeles zu nutzen und der Kinowelt Stoffe für neue Filme zu liefern: Pascale Kramer wollte den französischen Roman nach Hollywood bringen - dass das, gelinde gesagt, ein idealistisches Unterfangen ist, dessen ist sich die Autorin durchaus bewusst. BookToFilm - Vom Buch zum Film, so hat Pascale Kramer ihr Projekt genannt. Ende 2002 gab es ein erstes Treffen in Paris, zwischen Verlegern aus Frankreich und Produzenten aus den USA - das Ergebnis war allerdings etwas überraschend.

    Die Verleger wollten nicht. Hollywood war ihnen zu weit weg, sie glaubten nicht an das Projekt und daran, dass die Amerikaner wirklich interessiert sein könnten. Also bin ich selbst zur literarischen Agentin geworden, ohne das unbedingt zu wollen. Aber ich habe mir gesagt: Wenn die Verleger nicht selbst hinfliegen wollen, dann fliege ich eben allein hin und nehme die Bücher gleich mit.

    Über welche Titel sie im Moment verhandelt, darüber schweigt Pascale Kramer. Grundsätzlich hält sie Bücher für geeignet, die eine einfache, starke Geschichte erzählen, mit Charakteren, die sich einprägen, die einen nicht loslassen. Sie denke da zum Beispiel an den Roman "Hors de Moi", Außer mir, von Didier van Cauwelaert, eine halluzinatorische kleine Geschichte über einen Menschen, der aus dem Koma erwacht und entdecken muss, dass seinen Platz ein anderer eingenommen hat. Aber was ist mit ihren eigenen Werken, was ist mit ihrem neuen Roman "Zurück"?

    Es ist natürlich alles andere als einfach, seinen eigenen Roman zu vermarkten... zur Zeit arbeiten ein paar junge Regisseure an meinem Roman "Les vivants", Die Lebenden, ich weiß nicht wie weit sie schon sind, aber: ja, ich sehe meine Figuren schon in Bildern vor mir - aber es sind nun mal nicht unbedingt die besonders visuellen Bücher, die sich auch fürs Kino eignen.

    Da kann man anderer Meinung sein. Ihr neues Buch der kurze, eindringliche Familienroman "Zurück" jedenfalls könnte sich durchaus für eine Verfilmung eignen, so plastisch und dreidimensional schildert Pascale Kramer die Geheimnisse des kleinen Clans um den Übervater Raphael. Allerdings fällt einem nicht als erstes ein Regisseur aus den USA ein, sondern ein italienischer Filmemacher, jemand, der in den Sechziger und Siebziger Jahren mit seinen Charakterstudien über komplizierte Menschen und ihre noch komplizierteren Beziehungen weltberühmt wurde: Michelangelo Antonioni, der Regisseur von "La Notte" oder "Blow Up". Zu klären wäre natürlich, ob der überhaupt noch Lust hat, Filme zu drehen: Der Mann ist mittlerweile nämlich 92 Jahre alt.