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Eine ganz normale Epoche

Bernd Cailloux geling es seinem ersten Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" dem eigentlich zu Tode erzählten Mythos der 68er eine interessante Fabel abzugewinnen. Er transportiert viel von der Stimmung einer Zeit, die scheinbar unermessliche Veränderungsoptionen bereithielt, in Wirklichkeit aber eine ganz normale Epoche mit übersteigerter Aufmerksamkeit für jugendlichen Unmut war.

Von Florian Felix Weyh | 07.07.2005
    Er trägt Anzug und Krawatte und sitzt fernab der Studentenunruhen im biederen Düsseldorf, wo nur die Kunstszene rund um Joseph Beuys für Aufregung sorgt. Dennoch ist Achim Bekurz für seine Kunden ein "Hippie-Unternehmer", genau wie seine beiden Partner der "Muße-Gesellschaft". Zu dritt stellen sie ein ebenso hoch technisiertes wie psychedelisches Spielzeug her, die Augen-Droge schlechthin: Stroboskope. Unter den Rhythmen des Serienblitzes verzögern sich Tanzbewegungen zur Zeitlupe, die Szene wird irreal, und das gilt schon als Bewusstseinserweiterung im "Geschäftsjahr 1968/69", wie Bernd Cailloux seinen ersten Roman treffend-irritierend übertitelt. Eine erfolgreiche Hightech-Garagenfirma vor der Ära von Stephen Jobs und Bill Gates? Wenn es nicht stimmt, so ist es überzeugend erfunden. Sogar Chips enthalten die zusammengelöteten Steuerboxen der zweckentfremdeten Blitzröhren, auch wenn Bernd Cailloux den viel später eingebürgten Begriff dafür benutzt; damals sprach man im steifen Ingenieursgestus noch von "Mikroprozessoren".

    Doch ums Technische geht es nicht in diesem Roman, sondern um eine Momentaufnahme im Stroboskoplicht: Wie die Aufbruchstimmung einer Generation, die noch Anzug und Krawatte als Insignien der Erwachsenenkultur übernommen hatte, in vielfältige Richtungen expandiert; in der Zeitlupe eines komprimierten Jahres lässt sich das besonders gut beobachten. Während die Gründer der "Muße-Gesellschaft" zunächst über ihren ökonomischen Erfolg verblüfft sind, dann aber das kapitalistische Gesetz der fortwährenden Vergrößerung erlernen, scheitern ihre psychedelisch orientierten Mitstreiter an den Naturgesetzen der Pharmazie: Kein Drogenrausch von Dauer ist ohne Zerstörung des genießenden Subjekts zu haben. Und Drogen werden heftig konsumiert in diesem "Geschäftsjahr 1968/69", ebenso gedankenlos, wie man Platinen zusammenlötetet und wieder wegwirft; die Welt gilt als riesiges Selbsterfahrungslaboratorium, Trial-and-error-Gelände. Nur Politik kommt darin kaum vor, und das ist das angenehm Entideologisierende an Bernd Cailliouxs Genrebild seiner Generation, die doch in breiter Masse nicht über der MEW-Ausgabe hockte, sondern die süßesten Früchte der Revolte ernten wollte: mehr Freizeitspaß, mehr volles Leben, hier und jetzt.

    So ist die "Muße-Gesellschaft" eben auch keine ordentliche Firma, sondern ein Spaßkulturverein, dessen ökonomische Erträge weder kontrolliert, noch reinvestiert werden, sondern mit fröhlicher Ignoranz mal hierhin, mal dorthin fließen und nicht selten den Ankauf von Drogen finanzieren. Genau wie in der New Economy dreißig Jahre später fehlen vernünftige Leitungsstrukturen, ja sogar der Ehrgeiz, sich so weit zu professionalisieren, dass man den mittlerweile erreichten Millionenumsatz nicht im rechtsfreien Raum des Kollektivs versickern lässt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Geschäftstüchtigste des Trios, der ehemalige Journalist Büdinger, die Gesellschaft heimlich auf seinen Namen im Handelsregister eintragen lässt und die anderen fürderhin als Angestellte behandelt. Gegen diesen Coup erweisen sie sich als wehrlos, zumal der Ich-Erzähler gerade an einer Hepatitis laboriert, die ihm seine Ausflüge in die Welt des Heroins eingetragen haben. Beim Zusammenstoß zwischen Boheme und Bürgerlichkeit siegt immer die Bürgerlichkeit, der die Boheme in ihrer Desorganisation nichts entgegenzusetzen hat.

    Ist es dies, was Bernd Cailloux - altersweise oder resigniert- mitteilen will? Zunächst einmal wirkt er wie ein neutraler Chronist, protokolliert ebenso sachlich die Begeisterung, mit der die Firmenclique pharmazeutisches Hehlergut ersteht, wie er später den körperliche Verfall seines Protagonisten nachzeichnet. Es gibt keine Stilisierung des "Geschäftsjahres 1968/69" zum Epochenbruch, aber auch keinerlei Dämonisierung von Ideen und Taten der 68er. Junge Menschen, sagt die Geschichte, wollen stets etwas tun, das nicht schon von älteren Menschen vorherbestimmt worden ist. Darin scheitern sie dann regelmäßig, indem sie doch so werden wie die Älteren oder indem sich ihr Weg als Sackgasse erweist. Tertium non datur, auch Caillouxs Helden machen da keine Ausnahme, wenngleich er ihnen den absehbaren Drogentod erspart. Der bürgerliche Kapitalist Büdinger wird zum Immobilienspekulanten, eine durchaus geläufige Karriere in dieser Generation; die anderen retten sich in die Zwischenexistenzen der vielfältigen Post-68er-Milieus. Bernd Cailloux hat dem eigentlich zu Tode erzählten Mythos "Die wilden Jahre der Republik" eine interessante Fabel abgewonnen und transportiert viel von der Stimmung einer Zeit, die scheinbar unermessliche Veränderungsoptionen bereithielt, in Wirklichkeit aber eine ganz normale Epoche mit übersteigerter Aufmerksamkeit für jugendlichen Unmut war. Den Nachgeborenen zur Mahnung, innere Aufbruchstimmungen nicht für äußere Fakten zu halten.

    Bernd Cailloux: "Das Geschäftsjahr 1968/69"
    Suhrkamp, 254 Seiten, 10 Euro