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Eine Geschichte der kriegerischen Kultur in Deutschland

Nach den Erfahrungen von zwei furchtbaren Weltkriegen, für die Deutschland eine ganz besondere militärische, politische und moralische Verantwortung trug, hieß es im Potsdamer Abkommen von 1945 "Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet". Der Freiburger Historiker Wolfram Wette geht in seinem Buch "Militarismus in Deutschland" der Frage nach, ob damit wirklich ein Ende der kriegerischen Kultur verbunden war.

Von Alexandra Kemmerer | 16.02.2009
    Kaum irgendwo lässt sich der Tradition des Militärischen in der deutschen Geschichte und Gegenwart so genau nachlauschen wie in Ludwig van Beethovens Marsch Nr. 1. Den hatte er 1808 als "Marsch für die böhmische Landwehr" komponiert, bekannt wurde er allerdings schon bald als "Yorck’scher Marsch", benannt nach dem preußischen Generalfeldmarschall Ludwig Graf Yorck von Wartenburg, dem Helden der napoleonischen Befreiungskriege. Seit 200 Jahren gehört der York’sche Marsch zum Standardrepertoire deutscher Militärkapellen, bis heute ist er der Einzugsmarsch des Großen Zapfenstreichs, in der DDR war er der Ehrenmarsch der Nationalen Volksarmee.
    Die dunkle Spur des preußisch-deutschen Militarismus, die sich in zwei Jahrhunderten über die hellen F-Dur-Klänge gelegt hat, verfolgt in seinem neuen Buch der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette. Damit knüpft er an die Militarismusdiskussion des ersten Nachkriegsjahrzehnts an, die sich von den Historikern freilich schnell in die Friedens- und Konfliktforschung verlagerte.

    "Weder die Vorstellungen der alliierten Siegermächte über den preußisch-deutschen Militarismus, noch die Ansichten des bürgerlich-liberalen Historikers Friedrich Meinecke, noch die kontroversen Deutungen von Otto Hintze, Gerhard Ritter, Ludwig Dehio und Fritz Fischer haben es vermocht, die deutsche Geschichtswissenschaft zu einer gründlichen Erforschung der Vorgeschichte und der Geschichte des Nationalsozialismus entlang des Interpretationsmodells Militarismus anzuregen. Mitte der fünfziger Jahre brach in Westdeutschland die Militarismus-Diskussion der deutschen Historiker abrupt ab, kaum dass sie richtig begonnen hatte. Unverkennbar ist der zeitliche Zusammenhang mit dem Aufbau der Bundeswehr und der Militarisierung des Ost-West-Konflikts im Kalten Krieg."

    So genau Wolfram Wette die Konjunkturen der Militarismusdebatte nachzeichnet, so penibel und häufig polemisch er den Forschungsstand skizziert – die von ihm vehement eingeforderte gründliche Langzeitanalyse bleibt Desiderat. Wettes Ausführungen bleiben oft knapp und thesenartig, etwa, wenn es um die Rolle des preußischen Militäradels in der nationalsozialistischen Diktatur geht.

    "Gab es im 19. Jahrhundert neben dem traditionellen Feudalmilitarismus auch eine liberale, bürgerliche, den Idealen der Aufklärung verpflichtete Variante von Militarismus? War womöglich sogar die von sozialdemokratischem Gedankengut geprägte Arbeiterschaft, die in Opposition zum preußisch-deutschen Machtstaat stand, mental von dem zeitgenössischen militaristischen Bazillus befallen? Wie stark waren die militärischen Kontinuitäten in der Geschichte des 1871 gegründeten deutschen Nationalstaats, auf die der Nationalsozialismus aufbauen und derer er sich bedienen konnte?"

    Die Kontinuitäten waren, folgt man Wette, immens. Und militaristische Tendenzen lebten nach der Wiederbewaffnung auch im Militär der Bonner Republik fort. Doch was heißt dies heute, nach dem grundlegenden Wandel, den die Bundeswehr seit dem Ende des Kalten Krieges durchlaufen hat?

    "Sich mit der Geschichte des Militarismus zwischen 1871 und 1945 zu befassen bedeutet heute, sich einmal mehr die Gefahren vor Augen zu führen, die in früheren Phasen der deutschen Geschichte von ihm ausgingen. Eine vergleichende Betrachtung damaliger und heutiger Entwicklungen kann dazu beitragen, die Fähigkeit zu angemessener politischer Gewichtung zu schärfen und die Menschen zu sensibilisieren für das Erkennen neuer Gefahren."

    Die Bundeswehr hat, als internationalisierte Armee, globalen Aktionsradius gewonnen – und steht dabei, als Parlamentsheer, vor den Herausforderungen einer engen Einbindung in die demokratischen Strukturen unseres Staates. Dies wurde besonders augenfällig, als am 20. Juli 2008 erstmals in der bundesdeutschen Geschichte Rekruten vor dem Reichstag vereidigt wurden. Altbundeskanzler Helmut Schmidt kam dabei in seiner Rede auch auf eigene geschichtliche Erfahrung zu sprechen –Erfahrungen mit deutschem Militarismus und seinen Folgen:

    O-Ton Helmut Schmidt, Rede beim Rekrutengelöbnis vor dem Reichstag am 20. Juli 2008:

    "In den Schulen, in den Kirchen, in den Fabriken waren wir zu Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Staat erzogen und gedrillt worden. Schon 1941, seit unserem Überfall auf die Sowjetunion, ist mir klar gewesen, ich war damals zwanzig Jahre alt, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Er würde in einer Katastrophe enden. Gleichwohl blieb ich patriotisch gesonnen und glaubte: Wenn mein Land im Krieg ist, dann muss ich als Soldat meine Pflicht erfüllen. Das hatte mein Vater ja 1914 genauso getan."

    In der Tat: Die Bundesrepublik ist ein ganz anderer Staat geworden, in ihr hat Deutschland einen profunden Mentalitätswandel hinter sich – zur zivilen Gesellschaft.

    O-Ton Helmut Schmidt, Rede beim Rekrutengelöbnis vor dem Reichstag am 20. Juli 2008

    "So haben wir unserem Grundgesetz und haben wir dem Völkerrecht gehorcht, als wir uns dem Krieg im Irak verweigert haben. Dagegen wenn wir heutzutage uns an militärischen Eingriffen in Afghanistan beteiligen, dann geschieht es in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz, in Übereinstimmung mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – und es geschieht gemeinsam mit unseren Verbündeten. Gewiss kann man kann über solche Einsätze durchaus auch streiten. Jedoch darf jeder Soldat und es darf jeder Rekrut sich darauf verlassen: Auch künftig werden Bundestag und Bundesregierung unsere Streitkräfte nur im Gehorsam gegen das Grundgesetz und nur im Gehorsam gegen das Völkerrecht einsetzen."

    Längst ist in Deutschland der Einsatz von Militär kein Tabu mehr. Zugleich zeigt sich immer wieder der ausgeprägte Friedenswille der Bevölkerung.

    "Im Gefolge dieser Entwicklung vergrößerte sich die Distanz zwischen Militär und deutscher Gesellschaft. Damit fehlt im zweiten deutschen Nationalstaat bislang der Humus für die Entwicklung eines neuen Militarismus im Sinne eines Systems, das staatliche, wirtschaftliche, ideologische und gesellschaftliche Sektoren integriert und militärischen Interessen dienstbar macht."

    Damit fehlt es aber auch an einer bürgergesellschaftlichen Einbindung des Militärischen, wie sie unlängst der Hamburger Historiker Klaus Naumann gefordert hat. Die Streitkräfte und ihre Einsätze spielen im Alltagsleben kaum eine Rolle, scheinen zur reinen Expertenangelegenheit geworden zu sein. Dabei geht es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht nur um Wiederaufbau und Demokratisierung, sondern um Leben und Tod von Soldaten und Zivilpersonen. Darüber muss öffentlich debattiert und politisch gestritten werden. Die Fragen, die Wolfram Wette aufwirft, müssen weitergedacht werden.

    Alexandra Kemmerer war das über "Militarismus in Deutschland – Geschichte einer kriegerischen Kultur": Der Band von Wolfram Wette ist im Primus Verlag erschienen, hat 308 Seiten und kostet 24,90 €.