Mittwoch, 24. April 2024

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Eine Geschichte über Fleiß
Die gebratene Ameise

Allgemein gilt in unserer Gesellschaft die Annahme, dass nur der belohnt wird, der sich durch besondere Leistungen und besonderen Fleiß auszeichnet. Doch es gilt auch: Zu viel Fleiß kann tödlich sein.

Von Martin Winkelheide | 29.12.2015
    Blattschneiderameisen im Zoo von Frankfurt am Main
    Ameisen gelten als arbeitsames Völkchen. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte:
    Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist.
    Die Ameisen glauben, dass durch dieses Gericht der Arbeitsgeist
    der Fleißigsten auf die Essenden übergehe.
    Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tag gebraten und verspeist zu werden.
    Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, dass eine der fleißigsten Ameisen kurz vor dem Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt:
    "Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm,
    dass ihr mich so ehren wollt! Ich muss euch aber gestehen, dass es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich tot zu schuften!"
    "Wozu denn?", schrien die Ameisen ihres Stammes – und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne – sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.
    (Paul Scheerbart)