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Eine Gesellschaft im Umbruch

In dem Band "Tausend Jahre frommes Beten" zeichnet die Autorin Yiyun Li in zahlreichen kleinen Kurzgeschichten ein Bild des heutigen China. Die Schriftstellerin zeigt uns eine harte, bisweilen unbarmherzige, oftmals ungerechte Gesellschaft.

Von Johannes Kaiser | 05.12.2011
    "Ich denke, das Bedürfnis zu schreiben, entspringt wahrscheinlich dem Bedürfnis, mit Menschen zu reden. Ich bin sehr schüchtern und spreche andere nicht einfach an. Ich bin kein unbeschwerter Mensch. Aber ich denke, Schreiben oder auch Lesen bedeutet für mich, ganz ernsthaft mit den Menschen zu sprechen. Wenn ich Schriftsteller lese, dann habe ich das Gefühl, mit ihnen zu reden. Wenn ich meine Geschichten schreibe, dann rede ich mit meinen Lesern, wenn auch nicht von Angesicht zu Angesicht."

    Wenn man der 39-jährigen chinesischen Schriftstellerin Yiyun Li gegenübersitzt, hat man Mühe, ihre Worte ernst zu nehmen. Schüchtern wirkt sie überhaupt nicht, so wie sie lebhaft von sich und ihrer Arbeit erzählt. Doch sie ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der jedes Wort gegenüber Eltern und Freunden genau abgewägt wurde.

    "Ich erinnere mich daran, dass mein Vater, der Wissenschaftler war, uns, als ich noch ganz klein war, schon sehr frühzeitig davor warnte, ein Tagebuch zu führen und auch Leuten, die uns nahe standen, nichts zu erzählen. Er sagte oftmals, dass es diejenigen sind, die einem wirklich nahe stehen, die einen betrügen. Als Kind habe ich das nicht verstanden. Als ich dann ein bisschen älter geworden war, brachte er Beispiele wie von dem Ehemann, der seine Frau betrogen hat. Dass sich ein Ehepaar gegenseitig betrügt, ist abscheulich, aber es schien ganz alltäglich zu sein."

    Gegenseitiges Misstrauen, vorsichtige Wortwahl, Anspielungen statt eindeutiger Aussagen – diese in kommunistischen Zeiten eingeübten Verhaltensmuster prägen denn auch die Protagonisten in Yiyun Lis Geschichten. Sie sind auch das Leitmotiv der Titelgeschichte 'Tausend Jahre Beten', in der ein zusammen mit seiner Tochter in die USA ausgewanderter chinesischer Wissenschaftler seine Tochter heftig dafür kritisiert, dass sie ihre Ehe gebrochen hat, weil sie mit ihrem Mann nicht mehr reden konnte. Wie er sich schließlich insgeheim eingesteht, hat er sich in seiner Ehe keineswegs besser verhalten. Yiyun Lis Kurzgeschichten halten alle am Ende eine Überraschung parat, meist ein traurige. Lachen und Fröhlichkeit bleiben ausgespart. Chinas Alltag scheint voller Schwierigkeiten und Tücken gerade für ältere Menschen, die noch unter den kommunistischen Verhältnissen aufgewachsen sind. Die Schriftstellerin zeigt uns eine harte, bisweilen unbarmherzige, oftmals ungerechte Gesellschaft. Das mag ein Grund dafür sein, dass ihre Geschichten bislang nicht in China veröffentlicht wurden. Sie zeichnen ein wenig schmeichelhaftes Bild einer Gesellschaft im Umbruch.

    "Die Geschichtensammlung handelt davon, wie sich ein sehr altes China in ein neues China verwandelt. Es ist ein Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen. In der Geschichte 'Sohn' geht es zum Beispiel um einen jungen Mann, der aus Amerika zurückkehrt. Er ist schwul und sehr amerikanisiert und das kann seine Mutter eigentlich nicht akzeptieren. Es fällt ihr jedenfalls sehr schwer, seine Homosexualität zu akzeptieren und für ihn ist es sehr schwer zu akzeptieren, dass sie den christlichen Glauben angenommen hat. Er begreift, dass der christliche Glaube im chinesischen Leben eine wichtige Rolle spielt, seit die Leute den Glauben an den Kommunismus verloren haben. So ist seine Mutter für ihn zu einer Fremden geworden. Beide sind in dieser neuen Situation einander fremd geworden. Er sagt sich, dass sie ihren toten Mann durch das Christentum ersetzt hat, weil sie jemanden braucht, der ihr zuhört und dem sie gehorchen kann."

    Yiyun Li erzählt verstörende Geschichten wie die einer alten Frau, die nie verheiratet war, in Armut lebt und sich darum darauf einlässt, einen dementen alten Mann zu heiraten, um ihn bis zu seinem Tod zu pflegen. Danach wird sie Dienstmädchen in einem Privatinternat, nimmt sich eines von seinen Eltern abgeschobenen Jungen an, kümmert sich um ihn wie eine Großmutter. Als er dann für ein paar Stunden verschwindet, sogar die Polizei in die Suche nach ihm eingeschaltet wird, gibt man ihr die Schuld und entlässt sie. Für Yiyun Li ist das eine, wenn auch sicherlich sehr ungewöhnliche Liebesgeschichte.

    "Ich denke, Liebe ist ein großes Thema für mich. Auch wenn es so scheint, als wäre ich daran nicht interessiert. Ich habe in der Einführung zu meiner ersten Sammlung von Geschichten geschrieben, dass es in allen um Liebe geht. Aber es sind keine alltäglichen Liebesgeschichten wie die von dem Paar, dessen Liebe ihre Heirat nicht überlebte. Nachdem sie anfangs heftig ineinander verliebt waren, ging diese Liebe später verloren. Dann gibt es den Mann, der als Doppelgänger den Vorsitzenden Mao verkörperte. Das war für mich eigentlich die Liebesgeschichte eines Mannes, der sich in sein eigenes Gesicht verliebte, sein eigenes Abbild. Das war für mich sehr kommunistisch, da ging es nur um einen selbst. Ein anderes Beispiel ist das junge Mädchen, dessen Mutter aus klinischen Gründen keinen Sex haben konnte. Ein alter Liebhaber kümmert sich um sie und das junge Mädchen, eine adoptierte Tochter, verliebt sich in diesen Onkel. In all diesen Geschichten geht es nicht um Sex. Sie handeln von Menschen in ihren rätselhaftesten Augenblicken. Plötzlich empfinden sie eine starke Leidenschaft für irgendetwas und können nicht loslassen, müssen nach dieser Leidenschaft handeln."

    Eine Frau flüchtet sich in die traurige Romanze des Spielfilms 'Casablanca', weil sie den Mann, den sie liebt, nicht bekommen kann. Sie hat edelmütig versprochen, zugunsten einer Freundin auf ihn zu verzichten. Jetzt ist er frei und doch hält sie weiterhin an ihrem Gelöbnis fest. Es gibt ihrem Leben einen festen Halt. Ein Mann liebt seine Arbeit so, dass er sogar dann noch an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, als man ihn längst entlassen hat. Ein anderer heiratet nie, weil er seine kranke Mutter pflegt. Immer wieder geht es in Yiyuns Lis Geschichten auch darum, seine Würde zu wahren, anständig zu bleiben trotz all der Veränderungen.

    "Die Menschen ändern sich nicht so stark. Die menschliche Natur entwickelt sich sehr langsam. Deswegen lesen wir Geschichten, die 200, 300 oder sogar 1000 Jahre alt sind. Ich interessiere mich zwar für China, aber meine Neugier gilt den Menschen. Warum machen sie die Dinge, die sie machen? Warum sagen sie bestimmte Dinge und andere nicht. Manchmal erzählen sie einem Lügen, die meisten Menschen lügen. Mich fasziniert das zeitgenössische China, denn es gibt zahlreiche Situationen, in denen die Menschen ein wenig desorientiert sind. Sie wissen nicht, ob sie dieses oder jenes sagen oder machen sollen."

    Die Vergangenheit, das heißt die schrecklichen Jahre der Kulturrevolution haben die Menschen geprägt. Immer wieder kehrt Yiyun Li in ihren Geschichten in die Zeiten der Verfolgung Unschuldiger zurück, erklärt das damals Erlebte doch oftmals, warum sich ihre Protagonisten heute so merkwürdig verhalten. Die Schriftstellerin findet ihre Stoffe sozusagen auf der Straße, das heißt im Alltag. Auch wenn sie inzwischen in Kalifornien lebt, so kehrt sie doch regelmäßig zu ihren Eltern zurück und bleibt zudem übers Internet mit ihren Freunden in ständigem Kontakt, verfolgt die Entwicklung tagtäglich. Daraus entspringen dann Geschichten wie die der beiden alten Ehepaare, die auf eine seltsame Art und Weise miteinander verbunden sind.

    "Die Geschichte beruht auf zwei voneinander unabhängigen Ereignissen. Das eine betrifft meinen Vater, der am Aktienmarkt investieren wollte. Er ist Mitte 70, hat Chinas Kommunismus miterlebt und plötzlich gab es eine Börse. Er hat einfach nicht glauben wollen, dass man da kein Geld verdient, denn er war clever. Nur hat er nicht begriffen, dass sich der Markt nicht kontrollieren lässt. Doch es geht gar nicht um den Aktienmarkt, sondern darum, etwas zu tun, was er glaubt, kontrollieren zu können, um für sich selbst ein anderes Leben zu beginnen. Dieser Wunsch ist in ihm so stark, dass er mir Angst macht. Den zweiten Anstoß gab ein Paar, das dort lebte, wo ich aufwuchs, und eine Tochter mit schweren Geburtsschäden hatte. Sie haben sie über 20 Jahre vor der Welt verborgen. Ich könnte sie hören, wie sie in ihrer Wohnung schrie, aber ich habe sie bis zu ihrem Tod nie gesehen. Also beschloss ich, diese beiden Paare miteinander zu verbinden. Das Paar, das diese Tochter mit dem Geburtsfehler hat, gibt nie auf, bekommt ein Kind nach dem anderen, bis sie einen ganz gesunden Jungen bekommen. Das war für mich etwas ganz Merkwürdiges: dieser Kampf mit dem Schicksal, die Hoffnung nie aufzugeben, sich geradezu blind dem Schicksal zu ergeben. Dasselbe gilt für den Aktienmarkt. Der war einfach zu groß, als dass mein Vater oder irgendjemand anders ihn verstehen konnte. Aber die Leute rennen kopflos in ihr Schicksal."

    Jede dieser Geschichten steckt voller Zwischentöne, Seitenstränge, Nebenbemerkungen, die dadurch – ungewöhnlich für Kurzgeschichten – ein weit gefasstes Spektrum des heutigen China vor dem Leser ausbreiten. Yiyun Li gelingen ebenso faszinierende wie verstörende Momentaufnahmen, die unser Bild von China wohl weitaus stärker zu beeinflussen vermögen als die üblichen Nachrichtenmeldungen. Ein starker Auftritt.

    Yiyun Li: "Tausend Jahre frommes Beten", aus dem Amerikanischen von Anette Grube, Hanser Verlag, München 2011, 254 Seiten, 24,95 Euro