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Eine grandios erzählte Saga des Scheiterns

Milton Hatoum, 1952 in Manaus als Sohn libanesischer Einwanderer geboren, zählt zu den großen Romanciers Brasiliens, der Amazonien und Manaus auf der literarischen Landkarte verortet, ohne dem Regionalismus zu verfallen. Dazu ist Milton Hatoum viel zu weltoffen und weit gereist.

01.12.2008
    Milton Hatoum hat Ende der 60er Jahre in Brasilia und Sao Paulo Architektur studiert und in der Studentenbewegung gegen die Militärdiktatur rebelliert. Nach einem Literaturstudium in Spanien und Frankreich war er Professor für Literatur in Manaus und Sao Paulo und Gastdozent in den USA. Daneben hat er viel geschrieben, wenig veröffentlicht, aus ökologischen Gründen.

    "Den tropischen Regenwald sollte man nicht abholzen, zu Papier verarbeiten und für unausgegorene Texte verschwenden."

    Seine ersten beiden Romane EMILIE ODER DER TOD IN MANAUS( 1992) sowie ZWEI BRÜDER (2002) sind stark autobiographisch gefärbt und handeln von libanesischen Einwandererfamilien. Im ersten Roman geht es um die besitzergreifende Mutterfigur Emilie, im zweiten um einen erbitterten Bruderzwist. In Brasilien gilt ZWEI BRÜDER mit über 60.000 verkauften Exemplaren als Bestseller.

    Die Uraufführung der Theaterfassung war Anfang August in Sao Paulo, die Filmversion soll nächstes Jahr in den Kinos anlaufen.

    Für diese beiden Romane wurde Milton Hatoum mit dem JABUTI, dem Literaturpreis der brasilianischen Buchkammer ausgezeichnet. Den erhielt er wieder für ASCHE VOM AMAZONAS, der darüber hinaus noch mit dem PORTUGAL TELECOM Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

    ASCHE VOM AMAZONAS ist ein Roman über die 68er Generation Brasiliens. Die rebellierte gegen eine Militärdiktatur, die sich 1964 an die Macht geputscht und 1968 mit dem AI 5 - Dekret die demokratischen Grundrechte beschnitten hatte. 1968 gingen viele Künstler nach Europa ins Exil, darunter auch die Ikonen der brasilianischen Volksmusik Caetano Veloso, Gilberto Gil und Chico Buarque.

    Milton Hatoum blieb und engagierte sich in der Studentenbewegung:

    "Meines Erachtens fehlte so etwas wie die moralische Geschichte meiner Generation, eine "Education sentimentale á la Flaubert". Autobiographisch ist der Blick auf die Militärregierung. Ich hätte diesen Roman nicht schreiben können, wenn ich diese Zeit nicht als politisch engagierter Student miterlebt hätte. Ich habe die Romanhandlung nach Manaus verlagert, obwohl ich damals in Sao Paulo lebte. Der Roman wäre bestimmt viel autobiographischer ausgefallen, wenn ich über die 60er Jahre in Sao Paulo geschrieben hätte. Ich habe einen Roman der Desillusionierung geschrieben und mich von den großen französischen Romanen des XIX. Jahrhunderts inspirieren lassen.""
    So skizziert Milton Hatoumden politischen Hintergrund seines Romans. Der Haupterzähler Lavo - er hat sich aus einfachen Verhältnissen zum Rechtsanwalt hochgearbeitet - hält nach dem Tod seines Freundes Mundo Rückblick auf die von der Militärdiktatur geprägten Jugendjahre. Dabei holt Lavo, der offensichtlich nichts vom linearen Erzählen hält, weit aus, lässt Mundo, seine Angehörigen und Bewohner von Manaus selbst zu Wort kommen.

    Dank dieser Vielfalt von Personen und Stimmen entsteht ein beeindruckendes Porträt von Manaus, von Mundos Klan und den Militärs, die die Hafenstadt modernisieren. Als angehender Künstler rebelliert Mundo ungestüm und heftig gegen die väterliche und staatliche Autorität. Und sucht unbeirrt nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten:

    "In ASCHE VOM AMAZONAS will der Sohn kein Unternehmer werden, was auch eine Kritik an unserer Geschichte bedeutet, die eine Geschichte von Erben ist. Die brasilianische Elite - eine Handvoll Familien aus dem Norden und Nordosten - ist seit dem XVII. Jahrhundert im Besitz von Land, von riesigen Ländereien mit starren sozialen Verhältnissen. Der autoritäre und despotische Vater meiner Romane ist ein symbolischer Vater, der zugleich beschützt und erdrückt. Erkunden wollte ich hier diese unter Brasilianern weit verbreitete Tendenz, alles von jemand zu erwarten, egal ob vom Vater, vom Staat oder einer Vater-Figur. Im Gegensatz zum europäischen Wohlfahrtsstaat, den es so in Brasilien nie gegeben hat, gewährt der brasilianische Staat kaum Schutz. Der Staat schützt hier die Elite, den privilegierten Teil der Gesellschaft. Dabei ist er völlig ineffizient und schließt einen Großteil der Gesellschaft aus: Die Polizei dieses Staates tötet Jugendliche an der Peripherie der Großstädte, die Polizei dieses Staates schützt die Ländereien der Großgrundbesitzer. Personifiziert wird dieser Konflikt in ASCHE VOM AMAZONAS. Da hat Jano, der Vater des angehenden Künstlers Mundo, enge politische und wirtschaftliche Kontakte zur Militärregierung."
    Mundo fliegt wegen Aufmüpfigkeit und Ungehorsam nicht nur von einer, sondern gleich von mehreren Schulen. Im Gegensatz zu seinem Vater, betrübt ihn das nicht weiter, will er doch Künstler werden, Maler, wie sein Vorbild und Mentor Arana, in dessen Atelier Mundo sich oft aufhält. Das anfangs gute Verhältnis zwischen Arana und Mundo wird brüchig, in dem Maß, wie Mundo erkennt, dass der renommierte Künstler weder an sozialen Veränderungen noch an ästhetischen Innovationen interessiert ist. Auf großflächigen Leinwänden malt Arana immer wieder die gleichen Amazonaslandschaften - üppiger tropischer Regenwald, halbnackte Indianerfrauen - als müsse er immerzu die Klischees vom farbenprächtigen Tropenparadies bestätigen. Dass Touristen auf solche Bilder fliegen, versteht sich von selbst. Arana betreibt außerdem noch einen schwunghaften Handel mit Mahagonihölzern, arrangiert sich mit den Machthabern - Ruhm und Geld rangieren vor künstlerischem Risiko. Mundos Installation FELD DER KREUZE ist in Aranas Augen keine Kunst, sondern nur Provokation und gefährliche Agitation.

    "An der Peripherie von Manaus - der Urwald war dort brandgerodet worden, um einfache Häuser zu bauen, die wie Hundehütten aussehen - stellt Mundo vor jedem dieser Häuser ein Kreuz auf. Ich habe tatsächlich miterlebt, wie 1968 in Manaus dieses Stadtviertel entstand. Ich arbeitete damals als Architekt und sollte mich an dem Projekt beteiligen. Der Projektleiter hatte mir mitgeteilt, dass wir den Urwald abholzen und anschließend dort diese Häuser bauen sollten. Ich war damit nicht einverstanden, hielt das für eine total verrückte Sache und wollte den Urwald erhalten. Nachdem mir vorgehalten worden war, viel zu romantisch zu sein, bin ich aus dem Projekt ausgestiegen, weil ich es für ein Umweltverbrechen hielt. Das habe ich 1968 auch in meinem Gedichtband AMAZONAS; EIN FLUSS ZWISCHEN RUINEN zum Ausdruck gebracht, da ich schon damals ahnte, dass diese Politik nichts bringen und zu einer rasanten Umweltzerstörung führen würde."
    Mundos Installation stößt auf wenig Gegenliebe, die Kreuze werden zerstört, die hundehütteähnlichen Häuser errichtet - billig und funktional - negative Folgen für Mensch und Umwelt werden nicht mitbedacht. Seitdem wurden 20 Prozent des tropischen Regenwaldes abgeholzt, hauptsächlich um Soja anzubauen. Brasilien zählt mittlerweile zu den großen Sojaexporteuren, wobei die Volksrepublik China der Hauptabnehmer ist..

    "Das Ökosystem wird vor allem dadurch zerstört, dass man den Wald abbrennt, um Soja anzubauen.1968 bin ich mit dem Auto auf einer unasphaltierten Straße von Sao Paulo nach Manaus gefahren. Ich erinnere mich, dass Cuiabá und Porto Velho von Urwald umgeben waren. Heute ist da nur Soja. Ich sage oft, ich muss die Bäume im Garten meiner Mutter vor Blairo Maggi schützen, dem Gouverneur des Mato Grosso, sonst wird er sogar dort noch Soja anpflanzen. Er ist der größte Sojaexporteur der Welt und arbeitet eng mit Staatspräsident Lula zusammen, die perverse Allianz von wirtschaftlicher und staatlicher Macht wird fortgesetzt, auch nach dem Ende der Diktatur. Etliche Leser des Romans dachten, ich hätte über die heutige Zeit geschrieben. Manchmal schreibt man über eine Zeit und hernach findet das einen starken Widerhall in der Gegenwart. Für mich ist das ein Kennzeichen der Literatur, man schreibt, hat einen bestimmten Moment vor Augen und dieser Moment ist in allen übrigen Momenten der Geschichte enthalten."
    ASCHE VOM AMAZONAS ist allein schon deshalb ein ungewöhnlicher Roman, weil Milton Hatoum seine Kritik an einem autoritären und repressiven Staat nicht einfach nüchtern verabreicht, sondern in Mundos Familiengeschichte einbettet, eine grandios erzählte Saga des Scheiterns und Zerfalls. Dabei beschränkt sich der Autor nicht auf den Familienwohnsitz Vila Amazonia, sondern wechselt als unsteter, neugieriger Erzähler häufig die Blickrichtung und begleitet seine Romanfiguren in die Hafenkaschemmen von Manaus, die neu entstehenden Siedlungen, das Hinterland. Milton Hatoum erzählt spannend von Betrug und Selbstbetrug, von Süchten und Sehnsüchten, von Mundos Aufbegehren gegen eine zutiefst ungerechte Gesellschaft, in der für so radikale Träumer wie ihn kein Platz ist, weder in Manaus noch in Rio de Janeiro. Dort lebt seine Mutter Alícia nach dem Tod ihres Mannes mit dem Dienstmädchen Naía. Alícia ist zweifelsohne die schillernde Frauengestalt des Romans. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen, schlägt jedoch aus ihrer Schönheit Kapital und heiratet den reichen portugiesischen Jutefabrikanten Jano. Dabei hatte sie vor der Eheschließung jahrelang ein Verhältnis zu Lavo gehabt. Und die Ehe hält sie nicht davon ab, die Geliebte von Ranulfo zu werden, einem ehemaligen Radiosprecher, der seinen Job verloren hatte, nachdem Coronel Zanda in Manaus das Sagen hatte. In Rio de Janeiro verspielt und versäuft sie das Erbe, während sich ihr einziger Sohn Mundo in Berlin und London mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält und weiterhin malt und zeichnet. Krank und innerlich gebrochen kehrt Mundo nach Rio zur Mutter zurück und stirbt, nachdem 1978 auf einer Polizeiwache in Copacabana zusammengeschlagen worden war.

    Milton Hatoum: Asche vom Amazonas
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2008
    Übersetzung aus dem Portugiesischen: Karin von Schweder - Schreiner
    Preis: 24,80 Euro