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Eine homosexuelle "Amour fou"

Alain Claude Sulzers "Zur falschen Zeit" erzählt die Geschichte einer schwulen Liebe in den 50er-Jahren, und wie diese Liebe an den prüden und bigotten Verhältnissen jener Jahre scheitert.

Von Claus Lüpkes | 27.09.2010
    Am Anfang steht ein Foto: das Foto des Vaters. Den der Erzähler nie gekannt hat, denn dieser Vater war kurz nach seiner Geburt gestorben und in der Familie nie ein Thema.

    Dieses Porträt steht im Zimmer des Erzählers, auf seinem Bücherregal, seit 17 Jahren. Und plötzlich, nach so langer Zeit, nimmt der Junge die Fotografie zum ersten Mal wirklich wahr: Sie zeigt einen jungen Mann, der ihm ähnlich ist, aber – im Gegensatz zum Erzähler - schon erwachsen wirkt:

    "Ich würde nie erfahren, wie der Mann auf dem Foto gesprochen hatte, ob seine Stimme tief oder hoch, entschlossen oder zögerlich, laut oder leise, deutlich oder undeutlich, hell oder dunkel, brüchig oder klangvoll gewesen war. Wozu war sie fähig gewesen? Wozu war er fähig gewesen? Ich konnte ihn nicht sprechen hören, ich würde ihn nie sprechen hören. Dass er nicht sprach, hieß nicht, dass er schwieg, und dass ich nichts hörte hieß nicht, dass ich nichts vernahm. Wie hatte ich das Foto so lange vernachlässigen können, warum war ich so lange blind dafür gewesen? Ich stellte den Rahmen ins Regal zurück, ging aber nicht weg, ich wendete mich nicht um, trat lediglich einen Schritt zurück und sah weiter gebannt auf das Foto. Dann legte ich mich aufs Bett. Das Foto behielt ich im Auge. Ich hatte viele Fragen und keine Antworten."

    Schlagartig ist seine Neugier geweckt: Wer war sein Vater? Warum verleugnet ihn die Familie? Was verschweigt die Mutter?

    Eine bestimmte Spur, die des Fotografen, führt aus der Schweiz nach Paris, und so nutzt der 17-Jährige die Ferien und macht sich heimlich auf den Weg in die französische Metropole. Wo er tatsächlich dem Fotografen dieser Aufnahme begegnet, seinem Patenonkel.

    Nach und nach setzt sich im Laufe dieser hartnäckigen Recherche das Schicksal eines jungen Mannes in der Schweiz Anfang der 50er-Jahre zusammen. Das Schicksal dieses Emil, der sich mit Anfang Zwanzig seiner Homosexualität bewusst wird und sie für kurze Zeit auslebt, ihr dann jedoch abschwören möchte und sich dazu sogar mehrmals in die Psychiatrie begibt. Wo er schließlich sogar seine zukünftige Frau kennenlernen wird: kaum aber hat er geheiratet, begegnet er seiner großen Liebe, dem jungen Lehrerkollegen Sebastian. Während seine Frau schon schwanger von ihm ist.

    "Zur falschen Zeit" ist die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe, einer homosexuellen "Amour fou". Zugleich erzählt der Roman vom frühen Verlust des Vaters, und wie sein 17-Jähriger Sohn versucht, diesen Vater nachträglich kennenzulernen, um ihn zu verstehen. Und zwar mithilfe eines einzigen Fotos:

    "Also diese Fotografie ist das einzige, was ihn – sagen wir mal bildlich – mit diesem verschwundenen verstorbenen Vater, was sich mit ihm verbindet. Und das muss man sich ja mal vorstellen, wie das eben war in den 50er-Jahren, dass es keine Filme gab, also kein Heimkino, keine Videos, niemand hatte diesen Vater festgehalten. Das hat natürlich auch den Vorteil, dass man sehr viel in so eine Figur hineinsehen kann und möglicherweise weitet sich ja der Blick, indem man nur ein Bild hat, weitet sich der Blick auf eine Person."

    Zweifelsohne scheitert die Liebe dieser zwei jungen Männer an ihrer Zeit. Und an den engen Verhältnissen einer Schweizer Kleinstadt. In Paris hingegen war eine schwule Existenz schon in den 50er-Jahren möglich, zumindest eingeschränkt:

    "(Etwas, was eine andere Figur, eine Figur, die der Sohn dann in Paris besucht, dann eben doch sehr wohl konnte.) Das heißt aber, als Homosexueller in der damaligen Zeit konnte man sehr wohl leben, allerdings in einer etwas klandestinen Gesellschaft, also so ein bisschen als ein Outlaw, wenn man will. Diesen Mut hat der Emil, wie ich annehme, wie so viele andere, einfach nicht aufbringen können. Das kann man ihm nicht vorwerfen, man kann niemandem einen wirklichen Vorwurf machen: die Zeit war halt so, wie sie war, die Gesellschaft war so wie sie war, sie war nicht ideal für einen Schwulen in der damaligen Zeit."

    Dabei zeichnet Alain Claude Sulzer auch über seine Protagonisten hinaus sämtliche Figuren ausgesprochen anschaulich und glaubhaft und wird damit allen gleichermaßen gerecht. Und er stilisiert seinen Emil nicht zum Opfer, sondern macht ihn als Ehemann und werdenden Vater auch zum Täter.

    Zugleich erzählt Sulzer seine Geschichte auf verschiedenen Zeitebenen: so sind die frühen 70er-Jahre der Ausgangspunkt der Suche nach dem verlorenen Vater. Eine Suche, die den Sohn zurück in die 50er-Jahre führt. Entsprechend hat der Autor diese Ebenen parallel angelegt. Bis sie irgendwann - nahezu unmerklich und dabei sehr schlüssig – ineinanderfließen.

    Bei alledem gelingt es dem Autor hervorragend, bis zum bitteren Ende die Spannung zu halten, obwohl der Leser den Ausgang eigentlich schon lange kennt. Wie auch Sulzer selber der Schluss sehr bald klar war:

    "Ich bin ganz froh, wenn ich weiß am Anfang – das ist nicht bei jedem Roman der Fall gewesen – aber ich bin ganz froh, wenn ich weiß – und das gibt mir so ne Art von Sicherheit, wie der Roman in etwa endet: sind die Leute tot, leben sie noch, heiraten sie oder gehen sie auseinander, irgend so etwas. Also, dass auf dieses Ziel – egal wie es erreiche, aber dass auf dieses Ziel einigermaßen sehenden Auges zugehe."

    "Zur falschen Zeit" erzählt die Geschichte einer schwulen Liebe in den 50er-Jahren, und wie diese Liebe an den prüden und bigotten Verhältnissen jener Jahre scheitert. Alain Claude Sulzer erzählt diese Geschichte dramaturgisch gekonnt und stilistisch elegant:
    Es gelingt ihm mit diesem Roman ein kleines literarisches Juwel.

    Der Roman "Zur falschen Zeit" von Alain Claude Sulzer ist im Verlag Galiani in Berlin herausgekommen, hat in der gebundenen Ausgabe 240 Seiten und kostet 18,95Euro.