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Eine Insel!

Wenn einer eine Reise tut... Fast könnte man meinen, die Reise sei das einzig große Thema der Literatur (neben der Liebe natürlich): die Reise zu sich selbst oder die Reise an einen anderen Ort. Das Unterwegssein ist ein Wagnis, der Weg ein Reifeprozeß, eine innere und äußere Odyssee. Ein besonderer Anziehungspunkt für diese Reise war schon immer die Insel. Liegt sie doch außerhalb des bekannten Horizonts, umgeben nur von Wasser, umhaucht von den Winden des Meeres und der Aura des Fremden. Die Insel ist der exotische Ort par excellence. Ein Ort nicht nur für die Fernreisenden, sondern auch ein Ort für die Phantasie. Ein Nicht-Ort jedoch eher, eine Utopie.

Oliver Seppelfricke | 01.12.2003
    Annette Pehnt schickt ihre Ich-Erzählerin auf eine Reise zu einer Insel und auf eine Reise zurück in die eigene Vergangenheit. Eine junge Frau berichtet von ihrer Leidenschaft für eine Insel. Eine Leidenschaft, die schon in der Kindheit begann. Annette Pehnt nimmt jedoch nicht die derzeit so beliebte Erzählperspektive ein, aus den Augen eines Kindes zu berichten.

    Annette Pehnts Ich-Erzählerin ist eine, die alles konnte: In der Schule war sie die beste, beim Kindergeburtstag packte sie am schnellsten die Schokolade mit den dicken Handschuhen aus, und über die Insel Nummer 34, die letzte in der Kette jener Inseln, die kurz vor dem Festland liegen, weiß sie am besten Bescheid. Aber, kein Wunder: Das Drama dieses begabten Kindes ist es, daß es sich für vieles brennend interessiert, daß es aber für die anderen keine nachvollziehbare Leidenschaft hat. Keine Passion, die die anderen so sehr beseelt, Fußball oder Popbands zum Beispiel, hochbegabt ist sie, aber etwas blutleer. Und so sind alle (außer der Hochbegabten selbst) unzufrieden. Der Vater vermißt die Gefühle, die Leidenschaft, die Lehrer beklagen eine fehlende Vision für die Zeit nach der Schule, und die Mitschüler sind neidisch auf sie, brauchen sie aber zum Abschreiben. Da entwickelt unsere in die Enge gedrängte Erzählerin nun diese Leidenschaft, eine unstillbare Begeisterung für die sogenannte "Insel 34". Annette Pehnt:

    "Die Inseln sind teuer, trist und klimatisch benachteiligt", sagt der Vater auf die Frage des Kindes, warum sie nie dagewesen seien auf den Inseln, die so nahe sind, außerdem schlafe man dort schlecht und zu sehen gebe es sowieso nichts, so sekundiert die Mutter. Eine größere Demoralisierung für die Leidenschaft eines Kindes läßt sich kaum denken. Eine ganz eigene Sprache soll man dort haben, heißt es weiter zur Miesmachung, Hüte trügen die Leute wie sonst nirgendwo, überhaupt sei alles ganz anders. Und man ahnt es schon: Was als Abschreckung gemeint ist, kann die Begeisterung nur steigern! Aber die Eltern lassen sich nur zu einem Urlaub an der Küste, nicht aber zu einer Fahrt auf die Inseln überreden. Eine verfahrene Situation: Der Traum ist greifbar nahe, die Insel 34, aber seine Erfüllung liegt in der Ferne. Die Liebe muß warten. Und sie kann warten. Denn Annette Pehnts Ich-Erzählerin verfügt über ein gerüttelt Maß an Willen. Vor allem darin, sich in einer ablehnenden Welt zu behaupten. Wie schon im Romanerstling "Ich muß los" ist die Hauptperson vor allem eines, ein Außenseiter. Eine Eigenwillige.

    Ein Kind, das ganz in seiner Phantasie an den Eltern vorbeilebt, das die elterlichen Anregungen nach Segelkurs oder Jiu-Jitsu nicht aufnehmen kann, weil es ganz in seine Insel konzentriert ist – so ist Annette Pehnts Ich-Erzählerin. Mit dem Eifer einer Studierenden wälzt sie als Kind Bücher über die Insel, in der städtischen Bibliothek ist sie der jüngste Stammgast, die Gesundheit leidet unter dieser Passion, die Füße schwillen an, und die Brüste wachsen auch nicht. Und genau hier entfaltet Annette Pehnts Text seine stärkste Qualität: Tragik und Komik liegen so eng beieinander, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Diese Unentschiedenheit entsteht dadurch, daß Annette Pehnt die Sichtweise der Erwachsenen und die Sichtweise des Kindes unvermittelt nebeneinanderstellt, sie geradezu aufeinanderprallen läßt. Man lacht mit dem Kind, das seine Neugier nur in der Form eines forschenden Erwachsenen stillen kann, und man weint mit den Erwachsenen, weil ein Kind (scheinbar) so ganz an seiner Bestimmung vorbeigeht. Und genau darin liegt der Reiz und die große Anziehungskraft dieses Buches.

    Das Kind erlebt auf seiner Reise zu der Insel so allerhand Abenteuerliches und Absonderliches: Der Professor, der wie ein Penner aussieht und einer der treuesten Bibliotheksgänger ist, gibt der jungen Frau, die mittlerweile älter geworden ist und studiert, eine Anstellung und einen Forschungsauftrag. Bei der Suche nach den seltenen Konsonanten kommt unsere Erzählerin schließlich bis Insel 28, lernt dort Dudelsackpfeifen, weil die darauf gespielte Musik Ähnlichkeiten mit der Inselsprache haben soll und außerdem diese Fähigkeit der Passepartout ins Herz der Inselbewohner ist; auf der Insel 32, die nur aus Torf und Moor besteht, tappt eine reine Männergesellschaft auf unsicherem Grund, und auf der Insel 33 schließlich, auf die sie mit einem Mülltransporter fährt, erlebt sie das Ende der Welt: Die ganze Insel ist eine Deponie. Aber: Sie gibt den Blick frei auf das Ziel aller Träume, auf die Insel Nummer 34. "Ich könnte hinübergehen", denkt die Erzählerin, als sie in der greifbaren Nähe ihres Wunsches angekommen ist, aber dann passiert etwas, wie so häufig, wenn ein Traum wahr werden könnte: Man schreckt zurück. Der Traum ist einem lieber als die Realität. Eine Botschaft des Textes? Annette Pehnt:

    Annette Pehnt hat einen Entwicklungs- und Bildungsroman geschrieben, der in seinem Ton und in seiner Haltung zwischen Realismus und Phantastik geglückt ist. Wenn auch vieles in diesem 190-seitigen Werk leider vorhersehbar ist: die Sprödheit und Geheimniskrämerei der Inselbewohner überrascht kaum, der Konflikt zwischen Insidern und Außenseitern, die Fremdheit der Sitten und auch jenes Ende vom Lied, das unsere Erzählerin singt, und das "Endstation Sehnsucht" heißt: Sich zu sehnen ist doch immer noch schöner... Mit all dem rechnet man zu sehr, wenn man die Melodie schon kennt, die eine oder andere Volte oder ein stärkeres Schlingern des Kurses hätte mir besser gefallen. Aber ansonsten kann man sich mit diesem Schwanengesang auf eine Leidenschaft, mit dieser Odyssee eines Wunsches prächtig unterhalten. Und das ist doch auch etwas!