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Eine Kartografie der Leere

Der Vater des Autors Hisham Matar war ein Angehöriger der libyschen Delegation der Vereinten Nationen in New York. 1990 wurde er in Kairo entführt. Darüber schreibt sein Sohn Hisham Matar in seinem Buch "Geschichte eines Verschwindens".

Martin Ebel | 01.06.2012
    Als in Libyen der Aufstand gegen das Gaddafiregime ausbrach, war das Interesse des Westens groß - an authentischen Stimmen aus dem Land, ersatzweise von gebildeten Exilanten. Hisham Matar war auf allen Kanälen, der 41-jährige weltläufige Autor, der in London lebt und mit seinem ersten Roman "Im Land der Männer" auf der Shortlist des Booker-Preises stand. Erschütternd ist das Schicksal seines Vaters Jaballa Matar: 1979 war der wohlhabende libysche Geschäftsmann mit seiner Familie, darunter dem damals 9-jährigen Hisham, nach Kairo geflohen, weil er sich vom Regime bedroht fühlte. Zu Recht: 1990 wurde er vom ägyptischen Geheimdienst nach Libyen verschleppt. Die Familie erhielt einmal ein kurzes Lebenszeichen, dann hörte sie nichts mehr.

    Auch jetzt weiß der Sohn nicht, ob der Vater noch lebt. Er weiß nur, dass bei Demonstrationen sein Bild hochgehalten wurde.

    "Tatsächlich glaube ich nicht, dass mein Vater tot ist. Aber ich glaube auch nicht, dass er noch lebt."

    Das sagt nicht Hisham Matar, sondern Nuri el-Alfi, der Icherzähler seines zweiten Romans, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Es ist vielleicht der am stärksten autobiografische Satz in einem Buch, das schon mit seinem Titel die Erwartung des Authentischen, Dokumentarischen und Politischen nährt, das aber die persönlichen Erfahrungen des Autors umschmilzt zu starker, bewegender Literatur.

    "Geschichte eines Verschwindens" ist eigentlich die Geschichte des Zurückgebliebenen. 14 Jahre ist Nuri, als der Vater entführt wird; schon das unterscheidet ihn vom Autor. Das Verbrechen geschieht auch nicht in Kairo, sondern in der friedlichen Schweiz, in Genf. Gemeinsam mit Mona, der blutjungen (und offen begehrten) Stiefmutter und dem Familienanwalt Charles Hass sucht Nuri Hilfe bei der wenig hilfsbereiten oder hilfsfähigen Schweizer Polizei, macht Druck bei der Presse, erhält Audienz bei Regierungsvertretern. Der Vater bleibt verschwunden - und wird in der Erinnerung immer präsenter, mächtiger, irritierender.

    "In meiner Vorstellung", sagt Nuri, "sehe ich ihn nie als ganze Person vor mir. Ich bin ihm immer zu nahe, um ihn richtig betrachten zu können." Wer da an Proust denkt, dessen Erzähler Marcel auch zwischen Nähe und Wahrnehmung seiner Freundin Albertine oszilliert und deren Bild sich nach ihrem Unfalltod ständig verändert, liegt nicht falsch. Auch der Name des Anwalts ist eine Anspielung auf Charles Haas, der Klarname für Prousts schöngeistigen Helden Swann; der Kollege Andreas Isenschmid hat weitere subtile Bezüge zu Autoren wie Louis Begley und Pierre Jean Jouve offen gelegt. Hisham Matar stellt sich damit bewusst in die Tradition des mondänen psychologischen Gesellschaftsromans Westeuropas und Ostamerikas.

    Seinem Stil fehlt dann auch alles, was man orientalischen Autoren gern nachsagt: üppige Metaphorik, blumige Vergleiche, ausufernde Rhetorik. Er schreibt eine schlanke, elegante Prosa, die atmosphärisch hervorragend zum Oberschichtmilieu passt, in dem sich Nuris Familie bewegt: Fünfsternehotel in Montreux, exklusives Internat in England, und wenn man die kranke Kinderfrau in Kairo zuhause besucht, schärft der Vater dem Jungen ein: "Fass nichts an!"

    Damit kein Missverständnis entsteht: Matar schreibt keine Oberschichtprosa, wie es etwa der Engländer Edward StAubyn tut, der die Oberschicht durchschaut und dekonstruiert. Es geht Matar vielmehr um so etwas wie eine Kartografie der Leere; jener Leere, die eine Person nach ihrem Verschwinden hinterlässt und die sich mit etwas durchaus Realem, aber Ungreifbaren füllt - so real und ungreifbar wie die Phantomschmerzen, die ein Amputierter im fehlenden Glied empfindet.

    Nuris Gefühle für den Vater waren schon stark ambivalent, als dieser noch anwesend war; was auch an dessen geschäftlicher und amouröser Geheimniskrämerei lag. Er ließ seine Familie im Ungewissen über seine politische Untergrundarbeit - der Vater im Roman war Minister des libyschen Königs gewesen, blieb treuer Monarchist und arbeitete daran, "unser Land", wie es immer heißt, "zurückzubekommen". Aus Furcht vor Attentaten lehrt er den Sohn konspiratives Verhalten, ohne dass der so recht begreift, warum. So entsteht eine diffuse Angst, die durch andere Unwissenheit verstärkt wird: Woran litt die melancholisch-depressive Mutter, woran ist sie gestorben?

    Der anwesende Vater konnte, das ist auch sonst nicht selten, mit seinem Sohn nicht viel anfangen. Der Abwesende verursacht Schuldgefühle und den fast zwanghaften Drang, sich ihm über viele kleine imitative Gesten anzugleichen: Nuri legt sich in die Mulde des Bettes, aus dem er entführt wurde, er will das Buch an der Stelle weiterlesen, an dem der Vater in seiner Lektüre unterbrochen wurde. Und er will Mona, die Witwe, die ihm altersmäßig nicht ferner steht als dem Vater.

    Wo der Vater ist, bei der Frage kommt Nuri keinen Schritt weiter. Aber wer er war, darüber erfährt er immer mehr, bis die Gestalt des Vaters ins Überdimensionale wächst - und seine Konturen sich zugleich immer mehr auflösen. Und damit auch die Identität des Sohnes. Nicht nur gibt es keine Sicherheit, es gibt auch keine Gewissheit. Nicht einmal darüber, wer ihn geboren hat.

    Am Schluss sieht Nuri den Kleiderschrank des Vaters durch und probiert seine Sachen an. Er hat den Eindruck, sie seien geschrumpft, denn sie passen ihm nicht. Nur der Regenmantel könnte gehen. Nuri zieht ihn aber nicht an, sondern hängt ihn wieder an den Haken: Wenn der Vater zurückkehrt, könnte er ihn brauchen.

    Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Literaturverlag, München 2011. 190 Seiten, 19,99 Euro.