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Eine Kultur um der Freiheit willen

Der Althistoriker Christian Meier hat der griechischen Polis-Kultur sein neuestes Buch gewidmet, das den Titel "Kultur um der Freiheit willen" trägt. In ihm zeichnet er nach, wie sich vor dem 5. Jahrtausend vor Christus eine so moderne wie eigene Kultur der Demokratie in Griechenland entwickeln konnte.

Von Brigitte Baetz | 20.08.2009
    Von der Bitternis sing, Göttin – von Achilleus, dem Sohn des Peleus seinem verfluchten Groll, der den Griechen unsägliches Leid brachte.

    Die Ilias, der Kampf um Troja – seine Helden wie Achilleus, Agamemnon, Hektor, Aeneas sind uns vertrauter als die Recken der germanischen Sagen. Seine Götterwelt mit Zeus, dem Donnerschleuderer, an der Spitze, ist uns geläufiger als die Thors und seiner Anverwandten.

    "Das gibt es nirgends in der Weltgeschichte, dass eine Kultur, wie jetzt die mittelalterliche und dann die neuzeitliche Kultur in Europa, sich so stark auf eine vorangegangene Kultur bezieht. Seit 500 nach Christus gibt es die Römer nicht mehr und die Griechen gibt es nur noch in Byzanz, aber 1500 Jahre später gibt es noch humanistische Gymnasien, wo Eltern die Kinder zwei Sprachen lernen lassen, die nirgends, außer im Vatikan, mehr gesprochen werden. Das gibt es sonst nicht. Das zeigt, wie stark unsere ganz Kultur sich um die Antike, die man übernimmt, herumgebaut hat."

    Was Sprache, Schrift und Rechtsprechung angeht, dominiert der römische Einfluss in Europa bis heute, was aber die philosophisch-politische Seite betrifft, ist unser Staatswesen ohne das griechische Denken nicht vorstellbar. Wieso aber entwickelten die Griechen die Demokratie, eine über Jahrhunderte hinweg einmalige, ungewöhnliche Staatsform, die nicht auf die Herrschaft eines Einzelnen zielte, die nicht in erster Linie auf Expansion setzte? Die Römer erweiterten ihr Reich, die Griechen erweiterten die Möglichkeiten des Einzelnen, sagt Christian Meier. Eine Kultur um der Freiheit willen wurde geschaffen, eine Freiheit, die selbstredend allerdings Frauen und niederes Volk außen vor ließ. Die Großgrundbesitzer, die an den Küsten Griechenlands Polisgemeinden bildeten, wollten sich ihre Eigenständigkeit bewahren und doch ein Gemeinwesen bilden.

    "Die hatten ein bestimmtes Lebensmodell, das darin bestand, dass diese Grundbesitzer im Zentrum, quasi in 'walking distance' von ihren Gütern her einen Mittelpunkt hatten, wo sie gemeinsam ihre Angelegenheiten erledigten, wo ihnen eigentlich keiner in die Suppe spuckte, wo auch keiner sehr mächtig sein sollte, auch kein Amtsträger sehr mächtig sein sollte. Diesen Wunsch, gleichsam relativ eigenständig zu sein auf dem eigenen Gut, zusammenzuleben mit anderen, die in ähnlicher Lage waren. Da gab es auch einen gewissen Wettkampf, manchmal auch die Tatsache, dass der eine mächtiger war als der andere, aber insgesamt waren sie als Gruppe zusammen, fanden sich im Grunde täglich zusammen auf der Agora, auf dem Marktplatz, um alles Mögliche zu besprechen, die Erntezeiten und die Zeiten der Aussaat und Ähnliches waren beschränkt."

    Das ständige Aushandeln, das permanente Gespräch über die gemeinsamen Dinge hat seine Parallele in der griechischen Götterwelt. Dort gibt es zwar einen obersten Gott, Zeus, doch auch hier wird, wie in der Ilias geschildert, in Versammlungen versucht, einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen zu finden.

    Diese griechischen Götter sind unberechenbar, jähzornig, listig, verschlagen, also vergleichbar mit den Menschen. Man beruft sich bei Festen und Opferungen auf die Götter, man fürchtet ihre Unberechenbarkeit, aber eine Staatsreligion bildet sich nicht.

    "Es fehlt nämlich ein politisch ehrgeiziges Priestertum. Man kann ja mithilfe der Religion Leute sich gefügig machen und abhängig machen. In gewissem Umfange ist so in Rom gearbeitet worden. Die römischen Priester, das waren ja große Aristokraten, die insbesondere beanspruchten, genau interpretieren zu können, mit Hilfe von einigen Fachleuten, aber sie waren letztendlich die Instanzen, die das vertraten, welches der Götterwille in diesem oder in jenem Punkte ist. Für die Griechen sind Priester allenfalls Fachleute. Aber die Aristokratie hat nie die Religion als Herrschaftsmittel benutzt und das ist natürlich ein ganz wichtiger Punkt ihrer Freiheit."

    Gemeinsame Götter, gemeinsame Feiern, Symposien, Wettkämpfe gibt es. Der Einzelne will zeigen, was er kann, ansonsten lebt er ein möglichst autarkes Leben. Keine übergeordnete Instanz soll es geben, keine Polizei, keine Beamten, keine Finanzverwaltung, aber:

    "Es gibt gemeinsame Interessen, und auf diese Weise sind sie einfach genötigt, sich stärker zusammenzuraufen und zwar einerseits, indem sie Institutionen schaffen, das sind dann Amtsträger, Ratskollegium, Volksversammlung und so etwas eine Rolle spielen. Aber andererseits müssen sie eben auch sehen, wie sie untereinander auskommen. Sie müssen Tugenden des Versöhnens ausbilden, weil es immer wieder Streithähne gibt und da muss man sehen, dass man den Streit stoppt, bevor der das ganze Gemeinwesen in Zwietracht bringt."

    Wer miteinander auskommen will ohne Eingreifen von oben, der muss eine ständige Balance herstellen zwischen dem Gemeinwohl und dem Wohl des Einzelnen, sagt Christian Meier. Eine enorme intellektuelle Leistung, die im ständigen Gespräch miteinander entwickelt wird und die die Grundlage für die Philosophie eines Platon und eines Sokrates bildet, ohne die die europäische Geistesgeschichte nicht denkbar ist. Im Grunde ist es eine sehr moderne Vorstellung: die von Individuen, die sich im Gespräch über ihr Gemeinwohl austauschen und - gut informiert – abgewogen ihre Entscheidungen treffen. Von Vorteil dabei waren die kleinen überschaubaren Territorien, in denen sich das alles abspielte. Aber: ist nicht auch unsere Welt sehr klein geworden, ausgeleuchtet durch die modernen Medien? Gibt es nicht auch bei uns das Ideal des gut informierten Bürgers?

    "Es gehört eins auf jeden Fall zur griechischen Demokratie und das ist, dass die Bürger großen Wert darauf legten, eine ganze Weile lang, mitzukommen. Die wollten wissen, was gespielt wird und waren viel zu misstrauisch, um die Dinge für gegeben zu nehmen, die wollten schon mehr wissen, inklusive der Götterwelt."

    Dieses Wissen-wollen sei uns im alltäglichen Medienpalaver abhandengekommen, sagt Christian Meier. Eine demokratische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdiene, gebe es nicht mehr, obwohl sie doch erstrebenswert sei. Es fehle die intellektuelle Neugier auf das, was die Zukunft bringen soll. Da waren die Griechen vor fast zweieinhalbtausend Jahren weiter als ihre europäischen Erben heute.