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Eine Lange Nacht mit Volker Schlöndorff zum 80. Geburtstag
Weltoffen und streitbar

Mit dem Film "Die Blechtrommel" nach dem Roman von Günter Grass verhalf Volker Schlöndorff dem jungen deutschen Film zum Durchbruch. Dafür wurde er 1979 mit der Goldenen Palme und dem Oscar ausgezeichnet. Nun wird der Regisseur 80 Jahre alt.

Von Josef Schnelle | 30.03.2019
    Oskar-Preisträger und Regisseur Volker Schlöndorff
    Oscar-Preisträger und Regisseur Volker Schlöndorff (Jean-Pierre Muller / AFP)
    Eigentlich hatte Volker Schlöndorff mit den jungen Wilden des Deutschen Films um das Oberhausener Manifest gar nichts zu tun. Sein Handwerk hatte er direkt bei Louis Malle, Alain Resnais und Jean-Pierre Melville und anderen Regisseuren der "Nouvelle Vague" gelernt, für die er in den 1960er-Jahren als Regieassistent tätig gewesen war. Diese Erfahrungen haben ihn entscheidend geprägt.
    Schon sein Debütfilm "Der junge Törleß" von 1965 war eine Literaturverfilmung nach Robert Musil. Im Verlaufe seiner Karriere adaptierte er in seinen Filmen unter anderen Klassiker von Heinrich Böll, Nicolas Born, Arthur Miller, Max Frisch und Marcel Proust.
    Er gilt bis heute als wichtigster Vertreter des Literatur-adaptierenden Films, bezog stets auch politisch Stellung. Auch wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag am 31. März 2019 steckt Volker Schlöndorff noch voller Pläne.
    Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT.

    Volker Schlöndorff zum 80. Geburtstag
    Frage: Haben Sie es manchmal bereut, Filmemacher geworden zu sein?
    Schlöndorff: Überhaupt nicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich irgendwas Anderes in meinem Leben gemacht hätte, als Filme. Ich kann mir vorstellen, vielleicht andere Filme gemacht zu haben oder andere Privatleben gelebt zu haben, aber ich kann mir nicht wirklich vorstellen – ich wäre eigentlich gerne Architekt geworden – aber ich kann´s mir eigentlich nicht vorstellen. Um Gottes willen."
    Geboren wurde Volker Schlöndorff am 31. März 1939 als Sohn eines Arztes in Wiesbaden. Wenn er von seiner ersten Begegnung mit der amerikanischen Kultur schon in den Kindheitstagen berichtet, dann klingt das wie eine kleine Kinoerzählung, wie ein Film, den man gerne sehen möchte und man versteht auch wieso ihm später nach dem Gewinn des Oscars die Anpassung an die amerikanische Kultur für eine geraume Zeit so leicht gefallen ist:
    "Die amerikanische Kultur ist meine Muttermilch gewesen, denn ich war sechs Jahre alt, als die Amerikaner nach Deutschland kamen und es ist übrigens eine meiner allerersten Kindheitserinnerungen, dass so mit dem Ruf voraus "Sie kommen, sie kommen" wir uns im Wald versteckt haben. Ich wohnte mit meinem Vater und meinen beiden Brüdern in so einer Holzhütte im Behelfsheim in Schlangenbad im Taunus – wir waren ausgebombt gewesen – dann kamen tatsächlich die Amerikaner durch diesen Wald auf einer breiten Straße ungeteerten Straße mit ihren riesigen Fahrzeugen und wir waren versteckt außerhalb des Hauses im Wald hinter Bäumen und haben die da vorbeifahren sehen. Das werde ich nie vergessen: die Macht dieser Fahrzeuge. Das waren keine Panzer, waren große Lkw und Jeeps und Crafttracks. Die Fahrer waren beeindruckend, weil die waren schwarz. Das waren die ersten Schwarzen, die wir gesehen hatten mit ihren weißen Zähnen. Dann haben die da so einen kleinen Stützpunkt gehabt. Und von dem Tag an - im April 1945 - sind wir Kinder jedenfalls mit den Amis aufgewachsen. Das ist eine Kultur – so wie wir sie erfahren haben – die einfach Freiheit atmet, die Lockerheit atmet, die dem Individuum vertraut, die den Tatsachen mehr als den Ideen vertraut. Ich war vollkommen in dieser Kultur drin. Und wenn Amerika nicht so weit gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich nach Amerika gegangen, statt nach Frankreich. Das wurde dann meine zweite Kultur."
    Doch das Schicksal meinte es ganz anders mit Volker Schlöndorff. Zwar kam er schon in Wiesbaden bei seinen Besuchen in der Filmbewertungsstelle Wiesbaden-Biebrich mit Franz Rath zusammen, der dort die Filme vorführte und später bei Schlöndorffs Erstling "Der junge Törleß" 1966 die Kamera bedienen sollte.
    Doch erst ein Schüleraustausch mit Frankreich führte zu einer entscheidenden Wende in Schlöndorffs Leben. Er brachte ihn 1955 an ein Jesuiten-Internat in Vannes in der Bretagne. Er lernte dort aber nicht nur Französisch, sondern blieb anders als seine Klassenkameraden bis bis zum Baccalauréat und schaffte das französische Abitur am Lycée Henri Quatre in Paris. Auch sein Blick auf das Leben veränderte sich. Er entdeckte seine Liebe zum Film. Dafür war vor allem ein bestimmter Pater verantwortlich, den die Mitschüler wegen seiner Leidenschaft für die Künste "Pater Picasso" getauft hatten.
    "Es gibt zum Beispiel eine wunderbare Karikatur von Kalder - der war tatsächlich ein sehr, sehr kunstsinniger und aber auch sehr politischer Jesuit, der in der Résistance war, wovon er nie gesprochen hatte, aber der gleich nach dem Krieg sich um Flüchtlingslager in Deutschland gekümmert hat. Und der hat dann, als er meine eigene Begeisterung für Film spürte, mir gesagt: Ja, dann musst du auch Film machen, dann darfst du jetzt nicht Medizin oder Jura studieren, du musst das ernst nehmen, was du da in dir spürst."
    Erster Kontakt zum Film
    Während Volker Schlöndorff also offiziell auf Wunsch seines Vaters ein Jura-Studium absolvierte, bereitete er sich heimlich auf die Aufnahme an der Filmhochschule Institut Des Hautes Etudes Cinématographique (IDHEC) in Paris vor. 1960 stellte ihn der filminteressierte Schriftsteller Roger Nimier seinem Freund Lous Malle vor, für den er den frühen Klassiker des Film Noir "Fahrstuhl zum Schafott" geschrieben hatte.
    So wurde der filmbegeisterte junge Deutsche zunächst nachgeordneter Hospitant bei "Zazie in der Metro". Es begannen fünf Jahre, in denen Schlöndorff bei den "jungen Wilden" des französischen Kinos als Regieassistent herumgereicht wurde - zu Alain Resnais und Jean-Pierre Melville zum Beispiel. Und so kommt es, das Volker Schlöndorff vor seinem ersten eigenen Film mit einer Reihe von Meisterwerken in Verbindung gebracht werden kann.
    "Die Regieassistentenzeit war die schönste. Man hatte alle Privilegien und keine Verantwortung. Man hatte zwar die Verantwortung für den Drehplan, für den nächsten Drehtag und dass die Organisation lief, aber man hatte nicht dieses Gewicht auf den Schultern, wie zum Beispiel bei "Viva Maria" der Louis Malle, der zwischen den beiden Stars Brigitte Bardot und Jeanne Moreau lavieren musste. Ich kannte beide Schauspielerinnen schon von früheren Filmen, wo ich Regieassistent gewesen bin. Das war sehr, sehr anstrengend, das zusammen zu halten, da durch Mexiko zu ziehen mit so einem Wanderzirkus, aber es war natürlich unglaublich schön."
    Trailer zum Film "Die Passion der Beatrice" (1987) von Bertrand Tavernier auf Youtube:
    Schlöndorffs Lehrzeit bei seinen Freunden von der "Nouvelle Vague"( https:de.wikipedia.org/wiki/Nouvelle_Vague) prägten ganz entscheidend auch das künftige Leben des Filmemachers. Louis Malles heitere Mitmenschlichkeit, Alain Resnais hintergründige Experimentierlust und Jacques Rivettes kreative Formstrenge finden jeweils ihren Widerhall in Volker Schlöndorffs Werk. Aber auch die allgemeine Neugier auf das stete Pulsieren der Filmkunst und deren nie endender Austausch mit der Filmgeschichte hat sich Schlöndorff in Paris angeeignet und später in das deutsche Kino eingebracht. Eine besonders wichtige persönliche Rolle spielte für Schlöndorff Bertrand Tavernier(https:www.arte.tv/de/videos/074505-012-A/der-gekaufte-tod-interview-mit-bertrand-tavernier/), für den er ebenfalls als Regieassistent und in anderen Rollen tätig war, den er aber schon sehr lange persönlich kannte.
    "Bertrand Tavernier war in der Schule mein Sitznachbar in derselben Bank. Wir haben dann schnell entdeckt, dass wir beide zum Film wollten. Er ist dann den Umweg über die Filmkritik gegangen. Alleine den Umgang bei den Sonntagmittagessen, wo man dann über Literatur, das neue Buch von Aragon diskutierte, bevor das rauskam oder plötzlich Queneau oder "Zazie in der Metro" - und alle ganz aufgeregt, was da jetzt wieder passiert ist. Da war ich voll im Sud der französischen Kultur drin, auf dem besten Niveau."
    Volker Schlöndorff ist - beginnend mit der Musil-Verfilmung "Der junge Törleß" 1966 -Filmemacher in Deutschland geworden. Seine Wurzeln in der französischen Filmkultur hat er aber nie verleugnet.
    Volker Schlöndorff und der junge deutsche Film
    Trailer zum Film "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" bei Youtube:
    "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" war 1906 Robert Musils Debütroman. Der Autor blickte mit gerade 26 Jahren auf seine Jugend unter autoritären Bedingungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges in einer militärisch-erzieherischen Kadettenanstalt zurück. Volker Schlöndorff war ungefähr im gleichen Alter, als er den Stoff für seinen ersten Film auswählte und wohl auch auf seine eigenen Erfahrungen im bretonischen Internat zurückgriff. Sein Film betont die sado-masochistische Komponente der Selbstfindung des jungen Törleß und zeigt, wie er sich, gespielt von Mathieu Carrière, als passiver Teilnehmer der quälerischen Rituale an einem Mitschüler mitschuldig macht.
    Schlöndorffs fulminanter Einstieg in die Filmbranche wurde gleich mit vielen Preisen und einer Teilnahme am Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes belohnt, wo allerdings nur die Kritiker vom Weltverband FIPRESCI den besonderen Wert der Inszenierung mit ihrem renommierten Preis anerkannten.
    Der Leiter der deutschen Delegation in Cannes zum Beispiel, der Kulturattaché Bernhard von Tieschowitz, zeigte sich bei der Uraufführung an der Croisette empört und verließ den Kinosaal, weil er den Film als übertriebene deutsche Selbstkritik missverstand - und so hatte Schlöndorffs erster großer Auftritt auf dem Kinoparkett bei aller Anerkennung in der Fachwelt auch gleich seinen passenden Skandal. Die Freunde von der "Nouvelle Vague", Louis Malle oder Jacques Rivette, gegen den Schlöndorff im Wettbewerb von Cannes sogar antrat, waren allerdings von dem ebenso selbstkritischen wie genuin deutschen Flair des Films besonders angetan.
    Volker Schlöndorff kam mit diesem Anspruch als Fremder aus Frankreich nach München, wo er auf den Jungen Deutschen Film traf - als schon fest gefügte Bewegung, in der jeder seine Rolle übernommen hatte. Gab es da eigentlich keine Vorurteile gegenüber dem "Halbfranzosen" Schlöndorff mit seinen eigenen Ansprüchen, der schon geadelt war durch die Lehrzeit bei der "Nouvelle Vague", der unter dem Verdacht stand, den jungen deutschen Filmemachern nur zeigen zu wollen, wie man es macht?
    "Ich hatte das Gefühl: Ich bin der einzige Profi hier, der Einzige der schon Mal richtig beim Film gearbeitet hat und nicht dilettantisch da rangeht. Dann hab ich ganz schnell gemerkt, dass diese Art von Können, die ist erlernbar. Das wichtige ist doch die Persönlichkeit und die Kreativität des Einzelnen. Und was Alexander Kluge gemacht hat mit "Abschied von Gestern" - war ich vollkommen verblüfft, wollte sofort bei meinem zweiten Film mit seiner Schwester, der Alexandra Kluge arbeiten, weil ich dachte, da ist was zu holen, was du überhaupt nicht hast. Das ist ein ganz anderer Zugang. Oder eben dieses fast Reportagemäßige und Witzige von Uli Schamoni und der legendenhaft Starke von Werner Herzog gleich bei seinen ersten Filmen. Das habe ich sehr wohl erkannt: Das ist zehn Mal mehr wert als meine Professionalität."
    Trailer zum Film "Baal" von Volker Schlöndorff auf Youtube:
    Es begann eher bescheiden mit einer Produktion für die damals eben erst auftrumpfenden dritten Programme des Hessischen und des Bayrischen Rundfunks, mit Bertold Brechts anarchistischem Frühwerk "Baal", das erst 2014 reichlich verspätet ins Kino gebracht wurde.
    Im Unterschied zu vielen anderen im deutschen Film hatte Schlöndorff sofort das besondere Talent von Rainer-Werner Fassbinder erkannt, der seinen ersten Film gedreht hatte und noch unentschieden war zwischen einer Karriere als Schauspieler oder als Filmregisseur. Schlöndorff besetzte ihn in der Titelrolle des Baal, dessen kreative Selbstbesoffenheit Fassbinder ganz fest ans Herz drückte.
    Eine neue Art von Filmen allein, das merkte Volker Schlöndorff bald, genügte noch nicht, um in den 60er- und 70er-Jahren die Bedeutung des Kinos in der Gesellschaft zu ändern. In Frankreich war es gar nicht vorstellbar, dass in einer beliebigen Abendgesellschaft nicht über die neusten Filme geredet würde. Das gehört quasi mit zur Allgemeinbildung hinzu und wird wie allgemein diskutiert wie die neusten Bücher oder Theaterstücke. In Deutschland war das Kino immer nur etwas für die "Schmuddelkinder" der Gesellschaft. Auch das wollte Schlöndorff ändern.
    "Ich kam nach München und hatte keine Ahnung von Deutschland und vom Deutschen Film und kam aber mit der festen Absicht, Kino hier wieder gesellschaftsfähig zu machen."
    Schlöndorff als politischer Regisseur
    Trailer zu "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" auf Youtube:
    Volker Schlöndorff verstand sich von Anfang als politischer Filmemacher. "Die verlorene Ehre von Katharina Blum" war eines dieser politischen Werke_ Der ruppige Kommissar Beizmenne, gespielt von Mario Adorf, kennt keine Gnade, als er in das Leben der gut situierten Anwältin eindringt und damit die Hetzjagd von Presse und Polizei auf Katharina Blum eröffnet. Zwar hat sie den gesuchten Deserteur Götten eine Nacht bei sich beherbergt, doch sie hat keinerlei Verbindung zum organisierten terroristischen Untergrund. Basierend auf einer Erzählung von Heinrich Böll spießte Schlöndorff den Zeitgeist der "Bleiernen Zeit" auf, als schon Matratzenlager im Wochenendhaus als verdächtiges Anzeichen für eine militante Unterstützung der Baader-Meinhof-Gruppe galten. Zusammen mit Margarethe von Trotta, die damals seine Ehefrau und für 20 Jahre auch seine künstlerische Partnerin war, schuf Schlöndorff 1975 mit "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" seinen einflussreichsten politischen Film, der auch ein großer Publikumserfolg war.
    "Dann hat Böll mir eines Tages die Fahnen zu Katharina Blum geschickt, zu einer Zeit, als er sehr angegriffen wurde als der angeblich geistige Vater der Bader-Meinhof-Bande, geistiger Vater der Gewalt. Und das Buch hat ja auch den Untertitel "Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann". Das war also seine Antwort, seine sehr polemische Antwort."
    "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" sollte in Wahrheit auch die Hetzkampagne gegen den Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll selbst abbilden, die sich nach dem Start des Films schnell auch auf Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta ausweitete. Geschichten aus dem Umfeld des deutschen Terrorismus wie "Schwestern oder die Balance des Glücks" und "Die bleierne Zeit" sind zentrale Elemente im Werk von Margarethe von Trotta und gemeinsam mit Schlöndorff war sie zum Beispiel auch 1978 an dem Gemeinschaftsfilm von Alexander Kluge, Rainer-Werner Fassbinder und anderen "Deutschland im Herbst" beteiligt. Der Film beschreibt in mal dokumentarischen, mal fiktiven Episoden, die Auseinandersetzung mit den Taten und mit dem Ende der RAF.
    Die Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Margarethe von Trotta, fotografiert bei einem Interview im Hotel Mercure in Köln.
    Die Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Margarethe von Trotta. (imago / Thilo Schmülgen)
    Margarethe von Trotta war nicht nur Koautorin und Koregisseurin von Volker Schlöndorff, sondern in den Filmen der 70er-Jahre auch seine Lieblingsschauspielerin. Die Schauspielerriege von Schlöndorff kann sich mit Hanna Schygulla, John Malkovich, Dustin Hoffman, Julie Delpy, Barbara Sukowa, Faye Dunaway Jeremy Irons, Fanny Ardant, Bruno Ganz und Nina Hoss sehen lassen. Er galt immer als Regisseur, der den Schauspielern besonders zugewandt ist.
    "Zu Anfang ist ja das Allerschwierigste beim Filmemachen, wie man überhaupt mit Schauspielern umgeht. Da ist es leicht zu sagen: Schauspieler sind Material, die sollen ihre Sache machen, die sollen das so machen, wie ich es ihnen vorgeschrieben habe. Und dann benutze ich das. Kein großer Regisseur arbeitet so, auch wenn - behauptet wie Hitchcock behauptet -, Schauspieler seien ja nur Cattle, seien ja nur Vieh vor seiner Kamera. In Wirklichkeit sieht man doch durch seine ganze Person, wie er Einfluss nimmt auf die Spielweise, wie er, egal ob Männer oder Frauen, durch eine geradezu hypnotische Beziehung dirigiert und keineswegs nur benutzt - und er sehr, sehr liebevoll mit ihnen umgeht oder sehr hart mit ihnen umgeht, weil er sich davon wieder ein anderes Ergebnis erwartet. Für mich: Das Einzige, was mich heute noch am Filmemachen interessiert und was mir Spaß macht, ist die Arbeit mit den Schauspielern. Gerade Hollywood hat genau gewusst, dass es auf das Zusammenspiel von Kamera und Gesicht ankommt. Deshalb haben sie ja die Probeaufnahmen gemacht und oft ist das nicht über die Probeaufnahmen, die noch dazu stumm waren, hinausgegangen, weil man gleich gemerkt hat: Dieses Gesicht kommt rüber und dieses kommt nicht rüber. Es geht nicht nur darum, fotogen zu sein, sondern in verschiedenen Ausdrücken fotogen zu sein. Der berühmte Wechsel von ernsthaft zu lachen. Wenn dann plötzlich ein Gesicht anfängt, zu strahlen oder ein Lächeln aufgeht - das ist unwiderstehlich. Das entscheidet nicht über das Talent der Schauspieler oder der Schauspielerin, aber das entscheidet, ob sie geeignet sind für Film oder ob sie besser Theater machen sollten."
    Die Literatur war immer gut zu mir oder "Die Blechtrommel"
    Trailer zu "Die Blechtrommel" auf Youtube:
    1980 ist eine Sternstunde für den deutschen Film: Volker Schlöndorff gewinnt den Oscar für "Die Blechtrommel". In seiner Dankesrede ordnet Volker Schlöndorff sich geschichtsbewusst ein in die Tradition der Emigranten des deutschen Films, die in Amerika eine neue Heimat gefunden hatten
    Mit dem saftigen und kritischen historischen Roman des deutschen Nobelpreisträgers Günter Grass hatte er aber auch einen Stoff aufgefahren, dem die amerikanische Filmakademie nicht widerstehen konnte. Schon Wochen vorher war er nach Amerika gereist und nahm alle schon mit der Oscar-Nominierung verbundenen Ehrungen mit. Mehr noch als die Oscarverleihung im pompösen Konzertsaal "Dorothy Chandler Pavilion" in Los Angeles, die er nach eigener Aussage atemlos und berauscht erlebt hat, begeisterte den damals knapp 41-jährigen Filmemacher ein Galadiner mit den berühmten Hollywoodkollegen gleich nach seiner Ankunft in Amerika.
    "Dann ging es am nächsten Tag los mit eigentlich dem schönsten Ereignis der Oscars: einem Mittagessen, das amerikanischen Regisseure für die Oscar-nominierten Regisseure geben. Das war in diesem Fall Billy Wilder, da war aber auch noch der alte William Wyler, da war noch King Vidor, da war Mamoulian, da war George Cukor. Unglaublich, der ganze Zenit der amerikanischen und europäischen Filmgeschichte war da, insgesamt 18 Leute. Und der George Cukor hat dieses Essen sozusagen als "Maitre de Ceremonie" begleitet und statt, dass man nur mit seinem Nachbarn redete, hat der immer das Wort erteilt und jeder dieser Regisseure erzählte nun, wie er zum Film gekommen ist. Stanley Donen muss ich noch erwähnen, der war auch dabei, der hat eine der lustigsten Geschichten erzählt - und Vincente Minelli. Und jeder von denen war im Grunde durch Zufall zum Film gekommen, wie das früher war, als es noch keine Filmschulen gab. Und ich war einer der Letzten, die über eine solche Art Zufall dazu gekommen sind."
    Obwohl mit Mario Adorf, Angela Winkler, Katharina Thalbach und Charles Aznavour viele berühmte Darsteller den Film prägen, steht der damals gerade mal zwölf Jahre alte David Bennent als Oskar Matzerath, der aus Protest gegen diese Welt beschließt, nicht mehr weiter zu wachsen, im Mittelpunkt des Films. David hat tatsächlich eine veritable Wachstumshemmung und beherrscht als eine Art Zauberwesen mit seinen besonderen Eigenschaften diesen Film. Er ist ein Gnom, der später in einer Zwergentruppe beim Zirkus Unterschlupf findet und zugleich ein vollwertiger Mann, der wahrscheinlich sogar mit der Dienstmagd Maria seinen Halbbruder Kurtchen zeugt.
    Am Filmset von "Die Blechtrommel" (1979)
    Am Filmset von "Die Blechtrommel" (1979) (imago/EntertainmentPictures)
    "Die Entdeckung von David Bennent war über viele Umwege – buchstäblich, denn er hat mit seinen Eltern zwei Straßen weiter von mir in München gewohnt. Aber: Wir wussten ja nichts von seiner Existenz. Wir sind mit Heinz Bennent befreundet gewesen, seinem Vater, weil er auch in der "Katharina Blum", die wir gerade vorher gedreht hatten, den Rechtsanwalt Börner gespielt hat."
    Papa Heinz Bennent bekam auch eine kleinere Rolle in "Die Blechtrommel", doch den unvergesslichen stilistisch prägenden Einfluss auf Schlöndorffs Meisterwerk hatte allein David Bennent als mit einer Art filmischen Zeichenstift überhöhte skurrile Gestalt, die die Verkrüppelungen der deutschen Geschichte und auch die Befreiung davon - kongenial der Rolle Oscar Matzeraths in Günther Grass Roman folgend - verkörpert.
    Dass es überhaupt dazu kam, das Volker Schlöndorff ausersehen wurde, das literarisch äußerst bedeutsame Werk rund 20 Jahre nach seinem Erscheinen 1959 zu verfilmen kann als Glücksfall der Film- wie der Literaturgeschichte verstanden werden. Günter Grass, der an der Entwicklung des Stoffes mitarbeiten wollte, unterstützte Schlöndorffs Engagement. Doch der traute sich das Projekt mit einem Etat von mehr als sieben Millionen Mark zunächst keineswegs zu:
    "Ich hatte überhaupt keinen Mut. Ich habe das sofort abgesagt, als das Projekt zu mir kam."
    Die engagierte Mitarbeit von Günter Grass am Film, der damals noch nicht Nobelpreisträger war – das wurde er erst 1999 - am Film forderte von Schlöndorff das Letzte, was er in einem später veröffentlichten "Tagebuch" ausführlich dokumentiert hat und es schärfte seinen Sinn für Literaturverfilmungen, die ja zu seinem Markenzeichen wurden.
    "Ich hatte nun schon vorher mit Heinrich Böll gearbeitet und hatte da ein bisschen die Scheu verloren. Grass war einschüchternder, muss ich sagen, sehr viel einschüchternder. Auf der anderen Seite hat er aber auch gesagt: Ich will gar nicht mitarbeiten. Ich lass‘ euch freie Hand. Es war mir völlig klar, der kann gar nicht loslassen und ich wollte auch, dass er sich einmischt."
    Mit Ausnahme der Proust-Verfilmung "Eine Liebe von Swann" hat sich Volker Schlöndorff vorwiegend an noch lebende Autoren gehalten und deren Kollaboration durchaus gewollt, ob sie nun wie etwa Günter Grass vom Filmischen keine Ahnung hatten oder sich wie Böll, Frisch oder Miller durchaus auch ihre eigenen Gedanken zur filmischen Umsetzung machen wollten. Ein "Regisseur unter Beobachtung", darauf hat sich Schlöndorff ganz bewusst eingelassen.
    "Ich habe sie ja zum Einmischen aufgefordert, eingeladen. Ich hab geradezu die Nähe der Autoren gesucht, nachdem das mit Heinrich Böll so interessant war. Max Frisch hat mir, nachdem er den Film gesehen hat, "Homo Faber", gesagt, ja es ist alles wunderbar, bis auf das Ende. Dann habe ich gesagt, ja aber was meinst Du denn, was da anders sein könnte. da hat er gesagt: Das weiß ich nicht ,aber das würde uns dann schon einfallen. Nichts ist fertig. Man könnte noch Mal dran arbeiten und es gäbe dann vielleicht doch noch eine andere Fassung."
    "Tod eines Handlungsreisenden"
    Trailer zu "Tod eines Handlungsreisenden" auf Youtube:
    Bei der Zusammenarbeit mit Arthur Miller 1985 an der Verfilmung dessen dramatischem Meisterstücks "Der Tod eines Handlungsreisenden" mit Dustin Hofmann in der Hauptrolle entstand eine völlig andere Situation. Das Angebot zu dieser Arbeit kam von Arthur Miller selbst, der gleich Dustin Hofmann und John Malkovich als Darsteller mitbrachte. Und das in einer Zeit, in der Schlöndorff mit dem Gedanken spielte, ganz in Amerika zu bleiben. Während er sich in New York mit dem Gedanken anfreundete, ein amerikanischer Independent-Filmemacher zu werden und parallel Gespräche mit Hollywoodproduzenten führte, gelang ihm - assistiert von Arthur Miller - einer der intensivsten und komplexesten Filme seiner Karriere: Nichts weniger als die Legende vom amerikanischen Traum mit großer Starbesetzung und mit einem der wichtigsten Dramatiker der amerikanischen Literatur.
    "Arthur Miller ist natürlich, wenn man so will, die einfachste und schönste Zusammenarbeit gewesen, weil Arthur Miller ist ein Theatermann. Das heißt, der weiß, wie weit er sich einmischen kann, ohne den Regisseur zu stören, hat ein Gefühl dafür, dass seine Anwesenheit am Set nicht irgendwie lähmend wirkt. Im Gegensatz zu Günter Grass: Als der zum ersten Mal an das Set kam, da war ich so eingeschüchtert, dass ich da den ganzen Tag nochmal nachdrehen musste. Später haben wir uns dann sehr sehr gut verstanden. Aber das ist normal, glaube ich, wenn man so sehr sich in das Universum eines anderen begibt. Und das ist eben bei Arthur Miller Theater. Er ist gewohnt, dass das jedes Jahr von soundsovielen verschiedenen Regisseuren auf soundsoviele verschiedene Arteninszeniert wird. Er hat da keinen Besitzanspruch mehr, keine Deutungshoheit."
    Schlöndorffs Literaturverfilmungen decken ein breites thematisches Spektrum ab. "Eine Liebe von Swann" nach Marcel Proust porträtiert den Zeitgeist des Niedergangs der Welt des französischen Adels im "Fin de siècle". In der Science-Fiction-Adaption "Die Geschichte der Dienerin" nach Margret Atwood sind die Frauen der Unterschicht zu Gebärmaschinen für die Herrschenden geworden. "Homo Faber" nach Max Frisch erzählt eine autobiografisch gefärbte Inzestgeschichte und konzentriert sich ganz auf den Menschen als "Machenden" als kreativen Handwerker, ein Lieblingsthema von Schlöndorff, denn genau als ein solcher "Homo Faber" versteht er sich selbst. Mit "Der Unhold" nach Michel Tournier kommt er auf das Thema eines Sonderlings zurück, das er in "Die Blechtrommel" angeschlagen hatte. Schlöndorffs Schnitt durch die zeitgenössische Literatur lässt doch immer wieder Leitmotive einer historischen psychoanalytischen Collage erkennen, für die "Die Blechtrommel" der Kern bleibt, ein Werk, an dem sich seine Filme wie an einem Wegweiser zu orientieren scheinen, ohne dass sie ihre Diversität verlieren oder sich daraus ein geschlossenes Werksystem entwickelt.
    "Die Literatur war gut zu mir. Das heißt, tatsächlich habe ich meine besten Filme nach Büchern gemacht. Das heißt nicht, dass ich nicht auch sehr, sehr oft an sehr großen Büchern gescheitert bin. Es kann sehr, sehr schwer sein, einen Roman, den man sehr liebt und es ist eine Geschichte und es sind Personen, die man unbedingt erzählen möchte, und es gelingt einem trotzdem nicht, die auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Man muss ja sehr viel von sich selbst zurücknehmen, man muss sich ja irgendwie in den Dienst des Autors stellen, man muss dem Buch nachspüren, warum und wieso hat er das gemacht und das ist wie so eine Exploration, eine Entdeckungsreise. Da gibt es ganz, ganz magische Kräfte.Arthur Miller hat mir mal gesagt, "alle Geschichten sind im alten Testament aufgeschrieben und das waren professionelle Rabbis, da musst du nichts dran verbessern." Die muss man nur jedes Mal wieder anders erzählen und dieses anders erzählen, die immer selbe Erfahrungen, die Menschen immer wieder machen, die neu so zu erzählen als wäre es zum ersten Mal - das ist Literaturverfilmung."
    Produktion dieser Langen Nacht:
    Autor: Josef Schnelle; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Regie: Rita Höhne; Sprecher: Udo Schenk; Webproduktion: Jörg Stroisch