Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Eine Lange Nacht über musikalische Autorität und politische Anpassung
Allen Gewalten zum Trotz?

Im Mai 1930 entsteht anlässlich eines Gastspiels von Arturo Toscanini in Berlin ein einzigartiges Foto. Vier der bedeutendsten Dirigenten Deutschlands erweisen dem damaligen Superstar der Musikwelt die Ehre - Bruno Walter, Erich Kleiber, Otto Klemperer und Wilhelm Furtwängler. Drei Jahre später zwingt die Geschichte alle fünf zur Positionierung.

Von Stefan Zednik | 23.07.2016
    Wilhelm Furtwängler auf einem Galasouper in der italienischen Botschaft in Berlin anlässlich eines Besuchs des Dirigenten Arturo Toscanini im Rahmen der Berliner Kunstwochen. Das Foto wurde am 28. Mai nach Toscaninis 2. Berliner Konzert aufgenommen. (V.l.n.r.: Bruno Walter, Maestro Arturo Toscanini, Erich Kleiber, Otto Klemperer, Wilhelm Furtwängler).
    Das Foto wurde am 28. Mai nach Toscaninis 2. Berliner Konzert aufgenommen. (V.l.n.r.: Bruno Walter, Maestro Arturo Toscanini, Erich Kleiber, Otto Klemperer, Wilhelm Furtwängler). (SZ Photo / Scherl)
    Im Mai 1930 entsteht anlässlich eines Gastspiels von Arturo Toscanini in Berlin ein einzigartiges Foto. Vier der bedeutendsten Dirigenten Deutschlands erweisen dem damaligen Superstar der Musikwelt die Ehre - Bruno Walter, Erich Kleiber, Otto Klemperer und Wilhelm Furtwängler. Die vier bekleiden herausragende Positionen im Berliner Musikleben und gelten auch international als erstrangige Vertreter der deutschen Musik.
    Drei Jahre später zwingt die Geschichte alle fünf zur Positionierung. Ihre Karrieren als Musiker sind gefährdet, die Ausübung ihres Berufes wird ihnen stark eingeschränkt oder ganz verwehrt. Zwei – Bruno Walter und Otto Klemperer - haben jüdische Vorfahren, müssen Deutschland 1933 sofort verlassen. Zwei – Erich Kleiber und Wilhelm Furtwängler – bleiben vorerst. Der Italiener Toscanini hatte sich bereits vorher öffentlich gegen seinen Staatschef Mussolini gestellt, ab 1933 ist für ihn auch Deutschland tabu. Wie reagieren die fünf auf die Entwicklung, auf Einschränkung, Zensur oder Berufsverbot? Was sind ihre jeweiligen Motive? Und wie setzt sich ihr Weg fort?
    Die Lange Nacht erzählt die Geschichte dieser Männer, eine Geschichte von Anpassung und Widerstand, von Flucht und Vertreibung, von Politik und Kunst. Und von den unterschiedlichen Ansätzen bei der Interpretation klassischer Musik. Christian Thielemann, international bekannter Dirigent und musikalischer Direktor der Bayreuther Festspiele, erläutert die Entwicklungen der fünf Maestri und ihrer unterschiedlichen musikalischen Auffassungen aus heutiger Perspektive.

    Zeitungsartikel aus der "BZ am Mittag" vom 28.5.1930: "Um 11 Uhr kam Toscanini mit seiner Frau und seiner Tochter: Unter den vielen Prominenten der Kunst die am meisten beachtete Erscheinung. Dann führte Minister Grimme Frau Toscanini und Toscanini in den Speisesaal Wilhelm des Zweiten, wo ein kalter Imbiss gereicht wurde."
    Vermutlich auf diesem Empfang entsteht, nachdem der italienische Maestro eingetroffen ist, ein in der Geschichte der Musik einzigartiges Foto. Fünf Dirigenten, auf einem Bild vereint. Es scheint spontan entstanden zu sein, der Fotograf, der Auftraggeber und der genaue Zweck sind unbekannt. Etwas willkürlich sind die Herren gruppiert, die beiden körperlich größten, Wilhelm Furtwängler und Otto Klemperer, stehen auf der rechten, die kleineren Bruno Walter und Arturo Toscanini auf der linken Seite. In der Mitte der Kleinste und Jüngste, der Österreicher Erich Kleiber, als wolle er Vermittler zwischen widerstreitenden Musikerpersönlichkeiten sein.
    Legendäres Foto entsteht 1930
    Die Männer tragen schwarzen Frack, weißes Frackhemd, weiße Fliege. Sie gehören zu einer Generation von Musikern, geboren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind sie zwischen 40 und 63 Jahre alt. 1930, als das Foto entsteht, ist Erich Kleiber Generalmusikdirektor an der Berliner Staatsoper, Bruno Walter Chef des Leipziger Gewandhauses, Otto Klemperer leitet die Berliner Krolloper, Wilhelm Furtwängler die Berliner Philharmoniker.
    Gaststar Arturo Toscanini hatte der Mailänder Scala und der New Yorker Metropolitan Opera vorgestanden und gilt in der Welt der italienischen Oper seit Langem als Legende. Was eint, was verbindet die fünf Musikspezialisten, die hier, an diesem Abend, im Gruppenbild erscheinen? Was trennt sie menschlich, politisch, musikalisch? In weniger als drei Jahren, im weltgeschichtlichen Wendejahr 1933, werden sich ihre Schicksale in dramatischer Weise scheiden, ihre Wege in die verschiedensten Richtungen auseinandergehen. Die Zusammenkunft der fünf Dirigenten, festgehalten auf einem Foto, wird als Einmaligkeit in die Historie der Musik eingehen.
    Der italienische Dirigent Arturo Toscanini 1932 in New York
    Der italienische Dirigent Arturo Toscanini 1932 in New York (AP)
    Christian Thielemann: "Er hat einfach darauf einen sehr sehr großen Wert gelegt, auf die Transparenz, auf Helligkeit, natürlich völlig anders als die deutschen Kollegen. Dann ist er natürlich ein Anhänger eines sehr knappen, kurzen, rhythmischen Klanges, der auch für die italienische Musik natürlich hervorragend passt."
    Der Dirigent Christian Thielemann, 2015 Generalmusikdirektor der Dresdner Staatsoper und Musikalischer Direktor der Bayreuther Festspiele, über Toscanini:
    "Ich habe zumindest irgendwie ein Ohrenöffnungs- und Erweckungserlebnis auch gehabt, weil ich glaube, dass die Nordländer in Bezug auf die Südländer sehr oft den Fehler begehen, zu denken, na ja italienische Musik, südländische Musik, da ginge es ja viel freier zu mit dem Tempo und eben mit dem Rubato und so weiter. Während bei der nördlicheren Musik das eben nicht so der Fall wäre. Wenn man Toscanini anhört, dann hört man, dass er das wohl gar nicht so gesehen hat, dass er oft versucht hat, Dinge auch geradliniger zu dirigieren."
    Websitetipps:
    Aus dem Zeitungsarchiv 1986 - Seelenbewegungen: Toscanini und Furtwängler, Antagonisten von Grund auf: Der Italiener, ein Fanatiker und Technokrat, der das Orchester gleichsam zum computergesteuerten Präzisionsinstrument drillte und unerbittlich auf Werktreue bestand; der Deutsche hingegen eine durch geistiges Talent und hohe Universalbildung ausgewiesene Autorität, die dem Orchester aus eigenem Antrieb Raum zur maximalen Entfaltung schaffte. (Link zu "Zeit"-Artikel Seelenbewegungen)

    Ganz links auf dem Foto ist Bruno Walter zu sehen, die Hände sind verschränkt, mild und freundlich lächelt er in die Kamera. 1930 bekleidet er keine feste Position mehr in Berlin, nun ist er als Nachfolger seines Kollegen Wilhelm Furtwängler Chef des traditionsreichen Gewandhausorchesters in Leipzig.
    Der Dirigent Bruno Walter mit seinem Jubiläumsgeschenk, einer silbernen Schallplatte mit seinen Lieblingsstücken, die er im Februar 1948 anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums als Kapellmeister in der New Yorker Philharmonie überreicht bekam.
    Der Dirigent Bruno Walter mit seinem Jubiläumsgeschenk, einer silbernen Schallplatte mit seinen Lieblingsstücken, die er im Februar 1948 anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums als Kapellmeister in der New Yorker Philharmonie überreicht bekam. (picture-alliance / dpa / New York Times)
    Christian Thielemann: "Es ist erst mal erstaunlich, dass der berühmte Mozartdirigent Bruno Walter, wenn Sie sich das anhören, ein unglaublich dramatischer Mozartdirigent gewesen ist, durchaus, würde ich jetzt fast sagen furtwänglerisch. Er ist ein sehr impulsiver Musiker gewesen. Und das gefällt mir sehr bei ihm und hat auch eine ... ich weiß nicht, er strahlt so eine Güte aus, es gibt diese amerikanischen Mitschnitte wo er dann immer zu denen sagt: Sing, sing, sing und so weiter. Und irgendwie hat er so eine weitgespannte, ja er spannt weit seine Flügel aus, das gefällt mir bei ihm ungeheuer. Und ich würde sagen, Bruno Walter und Furtwängler haben eine ganze Menge gemeinsam, mehr als man eigentlich so denken würde erst mal."
    Vertreibung aus dem Paradies: Der Exodus europäischer Musiker in die USA nach 1933 war vielleicht der größte Talenttransfer der Weltgeschichte. Zu den Exilanten gehörte auch der berühmte Dirigent Bruno Walter.
    Websitetipp:
    "Zeit"-Artikel über Bruno Walter

    Der fast zwei Meter große Otto Klemperer steht als zweiter von rechts neben dem außen postierten Furtwängler, er schaut mit ernstem, beinahe unfreundlichem Blick in die Kamera des Fotografen.
    Der deutsche Dirigent und Komponist Otto Klemperer in einer undatierten Aufnahme.
    Der deutsche Dirigent und Komponist Otto Klemperer. (picture-alliance / dpa)
    Christian Thielemann: "Bei Klemperer kommt etwas ganz Interessantes hinzu. Er hat zwar dieses Moderne, Schnittige dabei gehabt, aber wenn Sie dann die späteren Aufnahmen hören, dann stellen Sie fest, der Mann ist ja wie ein Granit, das ist ja noch ... also nicht schwerfälliger, aber noch kantiger aber in einer anderen Art behäbig oder gnadenloser, also eine Mischung zwischen Toscanini und Knappertsbusch oder so etwas. Hat nicht diesen unglaublichen Schwung, den der Furtwängler da rein brachte oder auch dieses betont subjektive. Das alles vor dem Hintergrund: Ich möchte objektiv sein. Also insofern gehört der wieder zu der Seite, die sich das sozusagen Objektive auf die Fahnen geschrieben hat."
    Websitetipp:
    Otto Nossan Klemperer bei "Künstler im Exil"

    Der vielleicht 1,60 Meter große Erich Kleiber schaut als einziger nicht direkt in die Linse des Fotografen. Er hatte 1925, viereinhalb Jahre vor Entstehung des Fotos, mit großem Aufwand in Berlin Alban Berg's "Wozzeck" uraufgeführt, ein von manchen für unspielbar gehaltenes Werk. Die Aufführung gerät zu einem operngeschichtlichen Jahrhundertereignis. Kleiber ist 1890 geboren und damit der jüngste der Fünf.
    Der Dirigent Erich Kleiber im Jahr 1953
    Der Dirigent Erich Kleiber im Jahr 1953 (imago / United Archives International)
    Christian Thielemann: "Der steht in der Mitte davon, der ist wenn dann auch eher dem Toscanini-Lager zuzuordnen. Aber ich würde sagen, er ist ein Toscanini mit etwas mehr vergebungsvollerem Charme. Ich glaube, der Kleiber konnte aufgrund seiner Herkunft auch so ... er konnte mehr verzeihen, das hat der Toscanini nicht gekonnt."
    Erich Kleiber, menschlich und musikalisch ein Mann des Moderaten in einer sich zunehmend polarisierenden Welt? Auf dem Foto steht er auch physisch im Zentrum, eine Position, die wie bewusst gewählt erscheint. Christian Thielemann über die musikalische Haltung des Österreichers:
    "Ich dachte, das ist alles sehr normal, es ist weder rasend schnell noch rasend langsam und so weiter. Und gerade diese Ausgeglichenheit, die hat mich wiederum beeindruckt."
    Websitetipp:
    "Zeit"-Artikel über Erich Kleiber

    Chef der Berliner Philharmoniker ist der letzte der fünf Männer, der rechts außen postierte Wilhelm Furtwängler. Wie Klemperer zeigt er kein Lächeln, mit seinen Gedanken scheint er an einem anderen Ort zu sein.
    Wilhelm Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker auf dem Berliner Presse-Funkball, der am 9. Februar 1952 in der Festhalle am Funkturm stattfand.
    Wilhelm Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker auf dem Berliner Presse-Funkball, der am 9. Februar 1952 in der Festhalle am Funkturm stattfand. (AP Archiv)
    Wilhelm Furtwängler wächst in einer wohlsituierten großbürgerlichen Familie auf, zunächst in Berlin, dann in München, wohin der Vater einem Ruf als Professor für Archäologie folgt. Der berufliche Weg als Musiker führte den Sohn über Straßburg, Lübeck und Mannheim zurück in die Hauptstadt, wo er 1922 als Leiter der Berliner Philharmoniker die Nachfolge des legendären Arthur Nikisch antritt. Furtwängler zählt 1930 zu den auch international bekannten deutschen Dirigenten.
    Christian Thielemann: "Der bedeutet eigentlich so gut wie alles für mich, weil ich durch das Zuhören bei ihm gelernt habe, oder versucht habe mir vorzustellen, gelernt kann man das ja nicht haben da, aber zumindest ein Gefühl dafür zu bekommen, dass man Architektur logisch baut, obwohl hinten die Treppen immer wieder umgestellt werden, die Raumfolge wird stark verändert, die Fassade und die Grundfesten und das Gerüst steht immer noch."
    Veränderungen, Bewegungen zuzulassen, ja erst zu erzeugen und dennoch auf verlässlichem Grund zu stehen – das scheint im Kern die Kunst Wilhelm Furtwänglers auszumachen. Für ihn spielt die Idee einer Evolution des musikalischen Materials eine entscheidende Rolle.
    Daniel Barenboim, wie Thielemann ein großer Verehrer Furtwänglers, hatte als musikalisches Wunderkind Furtwängler noch am Klavier vorgespielt. Seitdem setzt er sich immer wieder für das Erbe des bekanntesten deutschen Dirigenten ein.
    Daniel Barenboim: "Furtwängler hat philosophisch wie musikalisch verstanden, dass Musik nicht beschrieben werden kann als etwas, das "ist”, sondern eher als etwas, das "entsteht". Mit anderen Worten, er verstand die Entwicklung, wie ein Klang zum nächsten führen muss, dann wieder zum nächsten, ad infinitum. Und er vermittelte dabei das Gefühl von Logik wie das Gefühl des Entdeckens, ganz so, als wäre die Musik improvisiert."
    Websitetipp:
    Website von Daniel Barenboim