Freitag, 19. April 2024

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Eine Lange Nacht über Natalia Ginzburg
Stimmen des Abends

So subtil wie psychologisch genau - und nicht ohne Witz - beschrieb Natalia Ginzburg (1916 - 1991), was zwischen Menschen geschieht, die sich nahe stehen. Ihre Erzählungen und Romane berichten vom Mussolini-Faschismus, vom Krieg und vom Winter in den Abruzzen, wohin die junge Mutter zweier Kinder ihrem Mann in die Verbannung folgte.

Von Eva Pfister | 16.07.2016
    Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg am 9.11.1989. Sie wurde am 14.7.1916 in Palermo geboren und starb am 8.10.1991 in Rom. |
    Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg (dpa / picture alliance / ansa Ianni)
    Die Tochter eines jüdischen Wissenschaftlers und einer katholischen Sozialistin hörte und sah genau hin, wie Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Liebende und Freunde miteinander umgehen.
    Ihre Erzählungen und Romane wie „Alle unsere Gestern“, „Die Stimmen des Abends“ oder das berühmte Erinnerungsbuch „Familienlexikon“ berichten vom Mussolini-Faschismus, vom Krieg und vom Winter in den Abruzzen, wohin die junge Mutter zweier Kinder ihrem Mann in die Verbannung folgte. Leone Ginzburg war aktiver Antifaschist; 1944 wurde er von der Gestapo in Rom ermordet.
    Als Lektorin beim Turiner Einaudi-Verlag und als Autorin wurde Natalia Ginzburg später eine wichtige Figur in der italienischen Kulturszene und nahm oft zu gesellschaftlichen Problemen Stellung. So bildet das Gesamtwerk der Autorin, deren 100. Geburtstag am 14. Juli zu feiern ist, eine Chronik des italienischen Alltagslebens im 20. Jahrhundert.

    Bei ihr lag Italien auf der Couch: Natalia Ginzburg, die am 14. Juli 100 Jahre alt geworden wäre, konservierte in ihren Texten die Neurosen des 20. Jahrhunderts. Die italienische Autorin erzählt von Opportunisten und Widerstandskämpfern, von komischen und tragischen Familienschicksalen. In ihren Romanen und Theaterstücken führt sie bindungsunfähige Männer vor oder endlos redende Frauen, die sich an jeden Menschen klammern.
    Wie ihr Lieblingsautor Anton Tschechow in seinen melancholischen Komödien hielt Natalia Ginzburg mit unbestechlichem Blick und milder Ironie der Gesellschaft ihrer Zeit den Spiegel vor. Geboren in Palermo, aufgewachsen in Turin, beobachtete die Nachzüglerin schon als Kind das Treiben ihrer unkonventionellen Familie, was später in ihrem "Familienlexikon" Eingang fand. Ihr Vater, der anerkannte medizinische Forscher Giuseppe Levi, war ein polternder Haustyrann, was die Mutter nicht erschütterte, die stets fröhlich war und gerne Opernarien schmetterte. Beide standen dem Sozialismus nahe, die älteren Brüder waren aktiv im Widerstand gegen die Mussolini-Diktatur. 1938 heiratete Natalia den Slawisten und Antifaschisten Leone Ginzburg, dem sie 1940 in die politische Verbannung folgte. Drei Jahre lang lebten sie mit ihren kleinen Kindern in einem Dorf in den Abruzzen. Nach dem Sturz Mussolinis tauchten sie in Rom unter, wo Leone Ginzburg verhaftet und von der Gestapo zu Tode gefoltert wurde.
    Nach Kriegsende begann Natalia Ginzburg im renommierten Verlag von Giulio Einaudi zu arbeiten, den ihr Mann mitbegründet hatte. Einaudi versammelte die Kräfte, die zu einem neuen, demokratischen Italien aufbrachen. Hier publizierten die Autoren, die nach dem Faschismus eine neue Sprache suchten:
    Klare Worte statt der schwülstigen Rhetorik, mit der die Wahrheit verschleiert wurde. Zu dieser Generation gehört Natalia Ginzburg; ihr literarischer Minimalismus wirkt extrem einfach und kann doch subtile psychologische Prozesse darstellen.
    1952 erschien der große Roman "Alle unsere Gestern", in dem die Ginzburg den aufkommenden Faschismus, Krieg und Verbannung, sowie die Zeit der deutschen Besatzung und die Verfolgung der Juden beschrieb – wie immer mit dem Blick "von unten", also durch das Brennglas vom Alltag kleiner Leute. 1953 erhielt sie dafür ihre erste Auszeichnung, den Premio Charles Veillon. In den 60er Jahren konnte die notorisch bescheidene Autorin dann die wichtigsten italienischen Literaturpreise erringen: 1961 für "Die Stimmen des Abends" und 1963 für das Buch, mit dem sie berühmt wurde, das "Familienlexikon."
    "Diese Lakonie, mit der sie die unerhörtesten Lebensschicksale erzählen konnte, das hat meine große Bewunderung gefunden", so Michael Krüger, der in dieser Langen Nacht von seinen Besuchen bei der alten Dame in Rom berichtet, die in den 80er Jahren noch in die Politik ging: Als Abgeordnete der unabhängigen Linken saß sie im italienischen Parlament. Zugleich schrieb sie ihre letzten Romane - über die Brüchigkeit der menschlichen Beziehungen und die Unbehaustheit des modernen Menschen.
    Literatur:
    Maja Pflug
    "Natalia Ginzburg. Eine Biographie".
    Verlag Klaus Wagenbach 2011
    "Es fällt schwer, von sich selbst zu sprechen, aber es ist schön".
    Natalia Ginzburgs Leben in Selbstzeugnissen.
    Zusammengestellt und aus dem Italienischen von Maja Pflug.
    Verlag Klaus Wagenbach 2001
    Die meisten Bücher von Natalia Ginzburg finden sich im Verlag Klaus Wagenbach
    "Die Stimmen des Abends" findet sich in der Zeit-Edition "Bibliothek der verschwundenen Bücher", auch als Einzelband erhältlich im Verlag "Eder und Bach".
    Natalia Ginzburgs Roman "Alle unsere Gestern" ist derzeit leider nur antiquarisch erhältlich.
    Interessant für das kulturelle Umfeld, speziell über den Verlag Einaudi:
    Maike Albath:
    Der Geist von Turin.
    Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943.
    Berenberg Verlag, Berlin 2010
    Auftritt Natalia Ginzburg als Schauspielerin in der Rolle von Maria von Bethanien im Film "Das 1. Evangelium – Matthäus" von Pier Paolo Pasolini
    Auszug aus dem Manuskript der ersten Stunde
    "Mein Beruf ist, Geschichten zu schreiben, erfundene Dinge oder Dinge aus meinem Leben, an die ich mich erinnere, aber jedenfalls Geschichten und Dinge, bei denen nicht Bildung, sondern nur Gedächtnis und Fantasie eine Rolle spielen. Ich bin sehr zufrieden mit diesem Beruf und würde ihn um nichts auf der Welt wechseln."
    Sie war bescheiden – oder eine Meisterin des Understatements: Natalia Ginzburg, geboren am Jahrestag des Sturms auf die Bastille, also am 14. Juli im Jahr 1916 in Palermo in der Via della Libertà, in der Straße der Freiheit. Aufgewachsen in Turin, Witwe eines Widerstandskämpfers, Lektorin beim legendären Einaudi Verlag, Mutter von insgesamt fünf Kindern, Abgeordnete im italienischen Parlament. Und von Beruf: Schriftstellerin.
    Maja Pflug: "An Ginzburg scheiden sich die Geister. Es gibt die eine Sorte, zu der auch ich gehöre - also ich war hingerissen, als ich zum ersten Mal einen Ginzburg-Text übersetzte, ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören – und es gibt die anderen, die sagen, was willst du immer mit diesen zum Teil Banalitäten. Aber ich denke, die hohe Kunst ist doch da: Sie beschreibt manchmal sehr kleine Alltagssituationen oder was zwischen Personen passiert, und sie beschreibt es eigentlich nicht, sie lässt die Personen handeln und sprechen, aber sie macht keine längeren Ausflüge in die Psyche, sondern das erschließt sich alles aus dem Text. Das ist das unglaublich für mich Interessante und Spannende. Was zwischen den Zeilen und zwischen den Wörtern passiert, das ist so vielschichtig. Also es ist für mich wirklich einzigartig."
    Maja Pflug hat viele Texte von Natalia Ginzburg übersetzt und hat sie vor deren Tod 1991 auch noch persönlich kennengelernt. So beschreibt sie ihren Eindruck von der Grande Dame der italienischen Literatur:
    Maja Pflug: "Sie war eher klein, sagen wir mal, und trug meistens Rock und Bluse und feste Schuhe, und ist dafür berühmt, dass sie immer eine große Tasche mit Büchern und Zeitungen dabei hatte, und ich kann mich erinnern, als ich sie besucht habe, wie sie die Tür geöffnet hat; eher scheu, aber gleichzeitig auch sehr präsent. Und dann habe ich sie gefragt, wie man ihren Namen ausspricht, und da hat sie freudestrahlend gesagt: Natalia Ginzburg. Also ich denke, sie hatte was Schüchternes, aber gleichzeitig auch eine Selbstverständlichkeit, die mich sehr beeindruckt hat."
    Von Maja Pflug stammt auch eine sehr informative und spannend zu lesende Biografie über die italienische Autorin, erschienen in dem Verlag, der in Deutschland hauptsächlich das Werk der Autorin pflegt: dem Wagenbach Verlag. Zur Fraktion der Ginzburg-Anhänger gehört auch der Verleger und Autor Michael Krüger:
    Michael Krüger: "Also diese Lakonie, mit der sie die unerhörtesten Lebensschicksale erzählen konnte, das hat meine große Bewunderung gefunden. Das ist ein minimalistischer Stil, der versucht, aus den kleinsten Bewegungen, Gesten, Spuren sozusagen die Essenz dieser Familie zu entwickeln. Und das ist eine hohe Kunst, die sie sehr beherrscht hat, ja."
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    Natalia Ginzburgs "Familienlexikon" ist ein außergewöhnliches Buch: Es schildert nicht nur das Leben einer jüdisch-katholischen Familie im Turin der 20er und 30er Jahre, sondern gibt auch Einblick gibt in die Zeit des italienischen Faschismus, den man zu Beginn in dieser links-liberalen Familie gar nicht ernst nahm. Benito Mussolini wurde 1922 vom italienischen König zum Ministerpräsidenten ernannt und errichtete drei Jahre später mit seiner faschistischen Partei eine Diktatur. Die sozialistische Partei wurde ebenso verboten wie antifaschistische Aktivitäten. Über Massenorganisationen, die vor allem die Jugend erfasste, wurde der Führerkult des "Duce" in der Bevölkerung verbreitet, auch wenn die Gesellschaft nie so gleichgeschaltet wurde, wie im nationalsozialistischen Deutschland. Erst in den 30er Jahren, als Italien seine Kolonialkriege in Afrika vorbereitete, verschärften sich die Repressionen.
    Die Familie Levi war in dieser Zeit gewachsen: Natalias ältere Schwester Paola hatte Adriano Olivetti geheiratet, den Sohn des Firmengründers der berühmten Schreibmaschinenfabrik. In seiner Firma in Ivrea bei Turin arbeitete bald auch die Brüder Gino und Mario, der sich der antifaschistischen Untergrundorganisation "Giustizia e Libertà" angeschlossen hatte. Natalia und ihre Eltern wussten nichts davon, auch nicht, dass Marios Freund Leone Ginzburg einer der aktivsten Mitglieder der Gruppe war.
    "Was hat Mario immer mit diesem Russen zu tun? Fragte mein Vater hier und da. Ein neuer Stern steigt auf, sagte er, wenn er Mario und Ginzburg auf dem Corso begegnet war. … Er verstand aber nicht, was Mario mit ihm zu tun hatte. Was hat er wohl mit diesem Ginzburg zu tun? Sagte er, was zum Teufel haben sie miteinander zu besprechen?"
    Die Dimension der antifaschistischen Aktivitäten von Leone Ginzburg und Mario Levi wurde der Familie erst im März 1934 klar:
    "An einem Samstag kam Mario nicht wie immer von Ivrea nach Hause und erschien auch am Sonntag nicht. …Am Montagmorgen kamen Gino und Piero und erzählten uns, Mario sei zusammen mit einem Freund an der Schweizer Grenze verhaftet worden; der Ort, wo man ihn verhaftet hatte, war Ponte Tresa; mehr wusste man nicht. Jemand von der Olivetti-Filiale in Lugano hatte Gino diese Nachricht übermittelt.
    Mein Vater war an jenem Tag nicht in Turin, er kam erst am folgenden Morgen zurück. Meine Mutter hatte kaum Zeit, ihn zu erzählen, was passiert war: Dann füllte sich das Haus mit Polizisten, die das Haus zu durchsuchen begannen.
    Sie fanden nichts. Wir hatten am Vortag zusammen mit Gino in Marios Schubladen nachgeschaut, ob wir etwas zum Verbrennen finden würden, aber wir hatten nichts gefunden als seine Hemden.
    Die Polizisten gingen und sagten meinem Vater, er müsse ihnen zu einem Verhör auf die Polizeiwache folgen. Am Abend war mein Vater noch nicht zurückgekommen, und so begriffen wir, dass er im Gefängnis war.
    Gino, der nach Ivrea zurückgekehrt war, wurde dort verhaftet und ebenfalls ins Gefängnis von Turin überführt.
    Dann kam Adriano und sagte uns, Mario sei, als er zusammen mit seinem Freund im Auto bei Ponte Tresa die Grenze passieren wollte, von Zöllnern, die nach Zigaretten suchten, aufgehalten worden; diese hatten das Auto durchsucht und antifaschistische Propagandaschriften gefunden. Mario und sein Freund mussten aussteigen, und die Zöllner begleiteten sie auf den Polizeiposten. Als sie am Fluss vorbeigingen, hatte sich Mario plötzlich losgerissen und sich mit den Kleidern in den Fluss geworfen und war gegen die Schweizer Grenze geschwommen. Im letzten Stück waren ihm Schweizer Zöllner mit einem Boot entgegengekommen. Nun war Mario in der Schweiz in Sicherheit."
    Während der Vater Giuseppe Levi nach zwei Wochen und der Bruder Gino nach etwa zwei Monaten wieder freikamen, wurde Leone Ginzburg zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Nach zwei Jahren wurde er durch eine Amnestie vorzeitig entlassen:
    "Am Ende des Winters kehrte Leone Ginzburg aus dem Gefängnis zurück. Er trug einen zu kurzen Mantel und einen zerbeulten Hut, der ein bisschen schief auf seinem schwarzen Haar saß. Er ging langsam, die Hände in den Taschen, und schaute mit seinen schwarzen durchdringenden Augen aufmerksam um sich; seine Lippen waren zusammengepresst, seine Stirne gerunzelt und seine mit schwarzem Schildpatt gerahmte Brille saß ihm immer etwas zu tief auf der großen Nase. …
    Er stand unter Aufsicht, das heißt: Er musste bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein, was von Polizisten kontrolliert wurde. …
    Bevor er ins Gefängnis kam, besuchte er gerne die Salons. Seine Konversation war brillant, obwohl er leicht stotterte; und, obwohl immer in ernsthafte Gedanken vertieft, war er stets bereit, dem nebensächlichsten Klatsch zuzuhören. Denn die Menschen interessierten ihn, und er hatte ein außerordentliches Gedächtnis, das auch die nebensächlichsten Dinge bewahrte.
    Als er aber aus dem Gefängnis zurückkehrte, wurde er nicht mehr in die Salons eingeladen, im Gegenteil: Die Leute wichen ihm aus, denn nun war er in Turin als ein gefährlicher Verschwörer bekannt. Ihm war das gleichgültig; er schien diese Salons völlig vergessen zu haben.
    Leone und ich heirateten und zogen in die Wohnung an der Via Pallamaglio."
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    1938 traten in Italien die faschistischen Rassengesetze in Kraft, mit denen die Juden aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, der Zugang zu den Schulen und Universitäten wurde ihnen verwehrt. Jetzt verlor Giuseppe Levi seine Professur an der Universität Turin; dass er 1934 den Amtseid auf Mussolini verweigert hatte, war noch toleriert worden. Er war nun fast 70 Jahre alt, ging aber auf Einladung eines Forschungsinstituts nach Lüttich, wo er bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Belgien noch weiter arbeitete.
    Natalia und Leone Ginzburg waren frisch verheiratet; 1939 kam Carlo, 1940 der zweite Sohn Andrea auf die Welt. Als Italien am 10. Juni 1940 an der Seite des Deutschen Reichs in den Krieg eintrat, wurde Leone Ginzburg in ein Bergdorf in die Abruzzen verbannt. Zwei Monate später folgte ihm Natalia mit den Kindern. Während man in Deutschland die Verbannung als Politisches Strafmittel gar nicht kennt, war sie in Italien üblich.
    Maja Pflug: Die Verbannung ist in Italien schon seit der Antike ein Mittel, um unliebsame Personen aus dem Zentrum auch der Macht zu entfernen. Und im Faschismus wurde es benutzt, um Antifaschisten, Verdächtige wurden an entlegene Orte, kleine Inseln oder in irgendeinem Dorf im Süden verbannt, mussten sich jeden Tag bei der Polizei melden Eine Art, die Menschen aus dem Geschehen herauszuziehen, aber nicht für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Die mussten dahin und mussten schauen, wie sie irgendwie überleben.
    Drei Jahre lang lebten Natalia und Leone Ginzburg mit den Söhnen Carlo und Andrea in dem kleinen Dorf Pizzoli in den Abruzzen. In der nächstgrößeren Stadt L‘Aquila kam im März 1943 auch ihre Tochter Alessandra zur Welt. Den Lebensunterhalt verdienten sie sich mit Arbeiten für den Einaudi Verlag, den Leone Ginzburg mitbegründet hatte. Er schickte seine Gutachten und Lektorate per Post nach Turin.
    Natalia begann mit einer Übersetzung von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Zusätzlich unterstützt wurden sie von ihrem Schwager Adriano Olivetti, der ihnen einen funktionierenden Ofen schenkte, sodass sie nun wenigstens eine warme Wohnküche hatten. Abends saßen sie oft bei der Familie, die das einzige Hotel im Dorf besaß, und die ihre antifaschistische Gesinnung teilte. Das Leben in der Verbannung war nicht schrecklich, aber ärmlich und eintönig. So beschrieb es Natalia Ginzburg in ihrer Erzählung "Winter in den Abruzzen":
    "Als der erste Schnee fiel, überkam uns eine tiefe Traurigkeit. Wir waren im Exil. Fern war unsere Stadt, und fern waren die Bücher, die Freunde und die wechselvollen Geschehnisse eines wirklichen Daseins. Wir heizten unsern grünen Ofen mit seinem langen Rohr, das die Decke durchbrach, und in diesem Zimmer mit dem Ofen versammelten wir uns alle. Hier wurde gekocht und gegessen, und hier, an dem großen, ovalen Tisch schrieb mein Mann. Auf dem Boden lagen die Spielsachen der Kinder herum, an der Decke prangte ein gemalter Adler. Ich betrachtete ihn und dachte: Das ist das Exil. Ja, das Exil war der Adler, der grüne, brummende Ofen, die unendliche Stille der Landschaft und der starre Schnee. Um fünf Uhr läuteten die Glocken der Kirche Santa Maria, und die Frauen mit roten Gesichtern und schwarzen Umhangtüchern begaben sich zum Abendsegen. Jeden Abend machten mein Mann und ich einen Spaziergang, jeden Abend wanderten wir Arm in Arm durch den tiefen Schnee. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren von befreundeten und bekannten Menschen bewohnt. Alle traten vor die Tür und wünschten uns gute Gesundheit. Zuweilen fragte der eine oder andere: "Wann werdet ihr eigentlich nach Hause zurückkehren?" Und mein Mann antwortete: "Wenn der Krieg zu Ende ist." "Und wann ist dieser Krieg endlich zu Ende? Du, der du alles weißt und ein Professor bist, wann wird er zu Ende sein?"
    Sie nannten meinen Mann "den Professor", da sie seinen Namen nicht aussprechen konnten, und kamen von weit her, um ihn über alles Mögliche zu befragen: In welcher Jahreszeit die Zähne gezogen werden sollten, über die Unterstützungen, die man von der Gemeindeverwaltung beziehen konnte, über Taxen und Steuern.
    Mit jedem Tag wuchs unser Heimweh. Oft war es sogar angenehm, wie eine zärtliche und leicht berauschende Begleitung. Briefe kamen aus unserer Stadt mit Nachrichten von Hochzeiten und Todesfällen, von denen wir ausgeschlossen blieben. Zuweilen aber war das Heimweh stechend und bitter, es wurde zum Hass. … Den Hass aber verbargen wir, da wir ihn für ungerecht hielten. Unser Haus war immer voller Leute, die irgendeinen Liebesdienst verlangten oder uns einen erweisen wollten. Manchmal kam die kleine Schneiderin ins Haus, um uns Pfannkuchen zu backen. Sie band sich ein zerschlissenes Tuch um die Hüften, schlug die Eier schaumig und schickte Crocetta ins Dorf, um ausfindig zu machen, wer uns eine große Pfanne leihen könnte. …
    Crocetta war unser Dienstmädchen, erst vierzehn Jahre alt; die kleine Schneiderin hatte sie für uns gefunden. Diese Schneiderin teilte die Welt in zwei Gruppen; in jene, die sich kämmen, und in jene, die sich nicht kämmen. Vor denen musste man sich hüten, denn natürlich hatten sie Läuse. Crocetta kämmte sich, und darum war sie auch bei uns im Dienst und erzählte den Kindern lange Geschichten von Toten und von Friedhöfen."
    Dank der Hilfe des Dienstmädchens fand Natalia Ginzburg wieder Zeit zum Schreiben. Angeregt wurde sie auch durch Cesare Pavese, der ihr aus Turin eine Postkarte schickte: "Liebe Natalia, hören Sie auf, Kinder zu kriegen, und schreiben Sie ein schöneres Buch als meins."
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    Natalia Ginzburgs eigenes Schicksal war nicht weniger tragisch als dasjenige ihrer Protagonisten im Roman "Alle unsere Gestern". Im "Familienlexikon" schildert sie auf gewohnt knappe Weise, wie es ihr 1943 erging:
    "Ich verließ das Dorf am ersten November. Ich hatte von Leone einen Brief erhalten…, in dem er mich aufforderte, das Dorf sogleich zu verlassen, da es sehr schwierig sei, sich dort zu verstecken; die Deutschen würden uns erkennen und deportieren. Auch die anderen Internierten hatten sich nach und nach auf dem Lande oder in den nahen Städten versteckt.
    Die Leute des Dorfes halfen mir. Sie berieten unter sich und halfen mir alle. Die Besitzerin des Gasthauses, bei der die Deutschen die wenigen Zimmer belegt hatten und in der Küche am Feuer saßen, dort, wo einst wir friedlich gesessen hatten, erzählte diesen Soldaten, dass ich eine Verwandte von ihr und aus Neapel evakuiert sei, dass ich in den Bombenangriffen meine Papiere verloren habe und jetzt nach Rom fahren sollte. Deutsche Lastwagen fuhren jeden Tag nach Rom, und so stieg ich eines Morgens auf einen dieser Lastwagen. Die Leute kamen, um meine Kinder zu küssen, die sie hier hatten aufwachsen sehen, und man nahm Abschied.
    In Rom angekommen, atmete ich erleichtert auf und glaubte, nun würde für uns eine glückliche Zeit beginnen. Nicht vieles wies darauf hin, aber ich glaubte es. Wir hatten eine Wohnung in der Nähe der Piazza Bologna. Leone gab eine Untergrundzeitung heraus und war immer außer Haus. Zwanzig Tage nach unserer Ankunft wurde er verhaftet, und ich sah ihn nie mehr."
    Auszug aus dem Manuskript der Zweiten Stunde:
    Die Sprache in der Zeit des Faschismus war pathetisch und voller Schwulst, das galt für die offiziellen Verlautbarungen des Duce Mussolini ebenso wie für die Literatur etwa eines Gabriele d’Annunzio. Die Beschäftigung mit amerikanischer, französischer oder russischer Literatur war für die jungen Autoren wie ein Refugium, ein inneres Exil. Auch Natalia Ginzburg hatte während ihrer Verbannung in den Abruzzen angefangen zu übersetzen, sie wagte sich an Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Nach dem Krieg stellte sie die Arbeit fertig und gab die ersten beiden Bände heraus.
    Schon während des Faschismus fingen die Schriftsteller an, ihre eigenen Erfahrungen in einer neuen, unverbrauchten Sprache zu Papier zu bringen. Unter den Begriff "Neorealismus" fallen nicht nur die berühmten Filme von Rossellini oder Visconti, sondern auch die Bücher, in denen Schriftsteller ungeschminkt zum Beispiel vom Leben der Bauern berichteten, das sie an ihren Verbannungsorten kennengelernt hatten.
    Das Berühmteste war "Christus kam nur bis Eboli" von Carlo Levi, es erschien 1945 im Einaudi-Verlag. Andere Autoren berichteten von den Erfahrungen im Widerstand; diese sogenannten Resistenza-Romane wurden nach dem Krieg zu einem essenziellen Bestandteil des Neorealismus. Aber die neue Sprache, die möglichst wahr und nahe an der Realität sein wollte, schockierte manche Leser. Darüber schrieb Natalia Ginzburg in einem Text für die "Unità" die Zeitung der Kommunistischen Partei 1946:
    Wir haben die Wirklichkeit von ihrer finstersten Seite kennengelernt. Wir empfinden nunmehr keinen Ekel mehr davor. Es gibt noch manche, die sich darüber beklagen, dass die Schriftsteller eine bittere und gewaltsame Sprache benutzen, dass sie harte und traurige Dinge erzählen, dass sie die Wirklichkeit in ihren trostlosesten Aspekten darstellen. Wir können in den Büchern nicht lügen und wir können bei keiner Sache lügen, die wir tun. Und vielleicht ist dies das einzig Gute, das der Krieg uns gebracht hat. Nicht zu lügen und nicht zu dulden, dass die anderen uns etwas vorlügen. So sind wir jungen Leute jetzt, so ist unsere Generation. Die anderen, die älter sind als wir, sind noch sehr verliebt in die Lüge, in die Schleier und die Masken, mit denen sich die Wirklichkeit verhüllt. Unsere Sprache macht sie traurig und beleidigt sie. Sie verstehen unsere Haltung gegenüber der Wirklichkeit nicht. Wir sind den Dingen in ihrer Substanz nahe.
    Auszug aus dem Manuskript der Dritten Stunde:
    Eine Frau
    Sie macht Kaffee.
    Zurück im Zimmer, fragt sie:
    Milch? Sie holt Milch.
    Zurück im Zimmer, fragt sie:
    Zucker? Sie holt Zucker.
    Sie selber nimmt Milch und Zucker.
    Sie ist Kettenraucherin
    und hat schweren Husten.
    Ihr erster Mann wurde 1944
    von den Deutschen ermordet.
    Als Unabhängige Linke
    sitzt sie im Parlament
    (dreimal in der Woche),
    das ist gleich um die Ecke,
    den Ministerpräsidenten
    hält sie für einen Banditen
    auf Zeit. Sie glauben gar nicht,
    wie viel im Parlament gelogen wird.
    In ihrer Wohnung
    in einem Palazzo im Zentrum
    ist es bitterkalt und still,
    Bücher und Bilder. Wohin darf ich
    meinen Mantel legen?
    Der Junge des Bäckers, sagt sie,
    ist aufs Land gegangen. Viele
    haben genug von Rom. Sie weiß auch,
    was die Kinder des Schlachters
    treiben. Sie weiß alles.
    Sie prahlt nicht. Traurig sagt sie,
    die Familie ist für immer zerstört.
    Die Buchhandlungen in Rom
    werden von Schuhgeschäften
    verdrängt, Arbeitslose, sagt sie,
    lesen selten Bücher. Ist das
    bei Ihnen anders? Sie trägt
    eine alte dunkle Strickjacke,
    ihr Haar ist kurz und eisengrau.
    Wenn ich über ihre Bücher spreche,
    lächelt sie scheu. Kindheit hat nichts
    mit Unschuld zu tun. Alle unsere Gestern.
    Der Jude Franz ist frei erfunden.
    Wir waren eine große Familie.
    Es wird immer schwerer,
    noch ein Buch zu schreiben.
    Ich würde Sie gerne als Gegnerin
    haben, sage ich. Sie lacht, streicht
    den schwarzen Rock gerade.
    Kennen Sie die Listen der Macht?
    Zur Zeit schreibt sie keine Romane,
    es gibt andere Probleme,
    z. B. den Papst.
    Auf Wiedersehen, Frau Ginzburg.
    Sie wohnt im 5. Stock,
    ein Palast hat keinen Fahrstuhl.
    Michael Krüger, der Autor, Lyriker und langjährige Leiter des Hanser Verlags, lernte Natalia Ginzburg in den frühen 80er-Jahren in Rom kennen und war von ihrer Person so beeindruckt, dass er ihr dieses Gedicht widmete. Damals verbrachte er den Winter als Stipendiat in der Villa Massimo und freute sich, wenn er in der Stadt Schriftsteller besuchen konnte.
    Zu jener Zeit lebten auch Elsa Morante noch und Italo Calvino, beide sehr gute Freunde von Natalia Ginzburg, die ihm den Kontakt vermittelten. Ihre Bücher schätzte Michael Krüger schon lange. Er liebt ihr großes Geschichtspanorama "Alle unsere Gestern", in dem sie über die Zeit des Faschismus und den Krieg schrieb – und in dem der Jude Franz vorkommt - , und er las mit großem Interesse ihre Romane über skurrile oder zerrüttete Familien, von "Stimmen des Abends" und "Familien-Lexikon" bis zum späten Briefroman "Caro Michele", in dem die Titelfigur der Familie zunehmend entgleitet.
    Michael Krüger: Sie hat selbstverständlich eine unerhörte Erfahrung gemacht durch die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg und die Erschießung des ersten Mannes und dem Verstecken und so weiter, eine solche Erfahrung wird man ja nie wieder los. Wie man dann aber trotz dieser Erfahrung dann wieder den Mut fasst, bestimmte Familienkonstellationen, wie in "Caro Michele", aber auch im "Lessico Familiare" zu konstruieren, das hat mich natürlich interessiert. Das sind ja keine großen Urteile in den Büchern, keine Verurteilungen oder keine Anklagen, wie man sich das vorstellen könnte. Sondern es ist ja der Versuch, manchmal der bis zum Minimalismus gehende Versuch, so trocken wie möglich, so ohne Sentiment wie möglich, diese Dinge darzustellen.
    So nüchtern und pragmatisch, aber mit ganz konkretem Engagement erlebte Michael Krüger Natalia Ginzburg im Gespräch auch als Politikerin. Sie war 1983 als Unabhängige auf der Liste der Kommunistischen Partei ins italienische Parlament gewählt worden.
    Michael Krüger: Ich entsinne mich noch, wie sie am ersten Abend mir die Geschichte sämtlicher Bewohner dieser kleinen Straße, an der Palazzo lag, in der sie wohnte, erzählte. Die Geschichte der Kinder des Bäckers, des Metzgers, des Schuhmachers, die alle entweder im Drogenrausch kaputtgegangen waren oder mit dem Motorrad sich zu Tode gefahren hatten, oder eben die Geschäfte aufgeben mussten. Es war ja eine sehr eigentümliche Zeit in Rom, und sie war als eine Abgeordnete der unabhängigen Linken im Parlament und beschäftigte sich eben mit solchen Dingen. Das heißt: Der Zerfall der Familie, der Zerfall aller Bindungen, in Deutschland würde man sagen: Werte; der Verfall einer Gesellschaft, die sich nicht mehr aneinander festhalten konnte, sondern die so langsam zerfiel. Und das war sehr aufregend, mit ihr darüber zu sprechen, weil sie da nicht nur eine Meinung hatte und das gut erzählen konnte, sondern weil sie die Einzige war, die ich in Rom kennengelernt hab, die etwas dagegen tun wollte! Und natürlich große Schwierigkeiten hatte, als Unabhängige im Parlament etwas zu tun.
    ****
    "Eines Tages, als wir durch die Stadt gingen, sahen wir ein Verkaufsschild, das an einem Haustor hing. Wir gingen hinein. Und so wurde die Wohnung gefunden. Es war ein Haus im Zentrum. Meinem Mann gefiel die Wohnung, weil sie im Zentrum war, weil sie im letzten Stock war, weil sie über die Dächer blickte. Sie gefiel ihm, weil sie alt war, groß, massiv gebaut, weil dicke Balken quer über die Zimmerdecken liefen und es in manchen Räumen Travertinverkleidungen gab. Ich hörte vom Travertin bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Warum die Wohnung mir gefiel? Ich weiß es nicht. Sie war nicht im Erdgeschoß, da sie im letzten Stock war. Sie hatte keinen Garten und man sah weit und breit keinen Baum. Steinern, von Stein umgeben, lag sie eingezwängt zwischen Schornsteinen und Glockentürmen. Doch vielleicht gefiel sie mir, weil sie nur einen Schritt von einem Büro entfernt lag, in dem ich viele Jahre zuvor gearbeitet hatte, als ich meinen Mann noch nicht kannte, die Deutschen Rom gerade erst verlassen hatten und die Amerikaner da waren.
    Ich ging jeden Tag in jenes Büro. … Die Räume, wo früher einmal das Büro gewesen war, waren nun wieder das, was sie vor dem Krieg gewesen waren, nämlich die Wohnräume einer alten Contessa. Dennoch war dies immer noch eine Stelle der Stadt, die ich als mir freundlich gesonnenen Ort wahrnahm: Eine Stelle, wo ich mir einmal eine Höhle gegraben hatte."
    Eine Höhle ist ein Zufluchtsort, und dass die Geborgenheit für Natalia Ginzburg so wichtig war, geradezu eine Grundbedingung ihrer Existenz, hatte natürlich mit ihren Erfahrungen im Krieg zu tun: Mit dem Verlust eines Zuhauses durch die Verbannung und mit der Zerstörung ihrer Familie durch die Ermordung von Leone im Februar 1944. Sie formulierte den Zusammenhang selbst in ihrem Essay "Des Menschen Sohn", der 1946 erschien:
    "Es ist Krieg gewesen und die Leute haben viele Häuser einstürzen sehen und fühlen sich jetzt nicht mehr so ruhig und sicher in ihren Wohnungen wie früher. Da ist etwas, wovon man sich nicht erholt, und die Jahre werden vergehen, aber wir werden niemals genesen. Selbst wenn wir wieder eine Lampe auf dem Tisch haben und ein Blumenväschen und die Bilder unserer Lieben, glauben wir doch an keines dieser Dinge mehr, weil wir sie einmal plötzlich verlassen mussten oder vergeblich unter den Trümmern danach gesucht haben.
    Es ist zwecklos zu glauben, dass wir genesen können von zwanzig Jahren wie denen, die wir erlebt haben. Wer von uns ein Verfolgter war, wird nie mehr Frieden finden. Ein nächtliches Sturmklingeln kann nichts anderes bedeuten für uns als das Wort "Polizeipräsidium". Und es ist zwecklos, uns selbst immer wieder zu sagen, dass hinter dem Wort "Polizeipräsidium" jetzt vielleicht freundliche Gesichter sind, die wir um Schutz und Beistand bitten können. In uns erzeugt jenes Wort immer Misstrauen und Schrecken. Wenn ich meine schlafenden Kinder betrachte, denke ich mit Erleichterung, dass ich sie nicht nachts werde aufwecken müssen, um zu flüchten. Aber es ist keine völlige und tief greifende Erleichterung. Es kommt mir immer so vor, als werden wir eines Tages doch wieder nachts aufstehen müssen und flüchten, und alles hinter uns lassen, stille Zimmer und Briefe und Erinnerungen und Kleider.
    Einmal erlitten, vergisst man die Erfahrung des Bösen nicht mehr. Wer die Häuser hat einstürzen sehen, weiß zu genau, welch unbeständige Güter die Blumenvasen, die Bilder, die weißen Wände sind. Er weiß zu gut, woraus ein Haus gemacht ist. Ein Haus besteht aus Ziegelsteinen und Mörtel, und es kann einstürzen. Ein Haus ist nicht sehr solide. Von einem Augenblick zum anderen kann es einstürzen. Hinter den heiteren Blumenväschen, hinter den Teekannen, den Teppichen, den gewachsten, gebohnerten Fußböden verbirgt sich das andere, wahre Gesicht des Hauses, das entsetzliche Gesicht des eingestürzten Hauses.
    Wir werden nicht mehr von diesem Krieg genesen. Es ist zwecklos. Wir werden nie mehr unbeschwerte Menschen sein, Menschen, die denken und studieren und in Frieden ihr Leben ordnen. Ihr seht, was man aus unseren Häusern gemacht hat. Ihr seht, was man aus uns gemacht hat. Wir werden nie mehr ruhige, gelassene Menschen sein."
    Es sind die schmerzvollen Erfahrungen, die Natalia Ginzburg das Vertrauen in die sicheren Behausungen erschütterten. Und so ist es nicht überraschend, dass auch die Personen in ihren Büchern oft etwas Unbehaustes an sich haben. Manche wohnen bei Freunden, bitten Bekannte um Zuflucht. In einem Theaterstück taucht eine junge Frau sogar bei der Ehefrau ihres Geliebten auf, weil sie keinen Ort weiß, wo sie hingehen kann.
    Aber auch wenn die Personen eine feste Bleibe besitzen, fühlen sie sich dort oft nicht zu Hause, und die Ginzburg beschreibt die Räume so, dass man das auch sofort nachvollziehen kann. Etwa das kalte Haus der Tante im Erstling "Die Straße in die Stadt", in dem das Mädchen auf die Geburt ihres unehelichen Kindes wartet. Oder das Pensionszimmer, in dem die junge Frau in dem Roman "So ist es gewesen" vor ihrer unglücklichen Ehe lebt. Allein durch die Beschreibung der Atmosphäre dieses Zimmers macht Natalia Ginzburg sofort klar, warum diese Frau in eine so tragische Situation geraten kann.
    "Ich stellte mir immer eine Menge Dinge vor, wenn ich in der Pension auf meinem Bett lag, und dachte, wie schön es wäre, wenn ich heiratete und meine eigene Wohnung hätte. Ich stellte mir vor, wie ich meine Wohnung mit tausend eleganten Kleinigkeiten und Grünpflanzen einrichten wollte, und wie ich dann in einem großen Sessel liegend Taschentücher sticken würde.
    Den Mann, den ich heiraten würde, hatte einmal dieses Gesicht, einmal jenes, aber die Stimme war immer dieselbe, und innerlich hörte ich diese Stimme immer dieselben ironischen und zärtlichen Worte wiederholen. Es war eine finstere Pension mit dunklen Tapeten an den Wänden, und im Zimmer neben meinem wohnte die Witwe eines Oberst, die jedes Mal, wenn ich einen Stuhl verrückte oder das Fenster öffnete, mit einer Bürste an die Wand klopfte. Morgens musste ich früh aufstehen, um zu der Schule zu eilen, an der ich unterrichtete. Während ich mich rasch anzog, aß ich ein Brötchen und kochte mir auf dem Spirituskocher ein Ei. Wütend klopfte die Witwe des Oberst mit ihrer Bürste an die Wand, wenn ich im Zimmer herumlief und meine Kleider zusammensuchte, und die Tochter der Pensionseigentümerin, die hysterisch war, kreischte im Badezimmer wie ein Pfau, weil man ihr heiße Duschen verordnet hatte, die sie angeblich beruhigen sollten.
    Ich stürzte auf die Straße, und während ich in der eisigen Morgenluft einsam und allein auf die Trambahn wartete, unterhielt ich mich damit, eine Menge seltsamer Geschichten zu erfinden, die mich wärmten; daher kam ich manchmal mit einem so geistesabwesenden und entrückten Gesicht in die Schule, dass es bestimmt recht komisch aussah."