Freitag, 19. April 2024

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Eine Lange Nacht von der Geschichte des Sonetts
"Du hast als Denkmal dann mein zart Gedicht"

Das Sonett ist eine europäische Gedichtgattung mit einer erstaunlich langen Geschichte. Erfunden wurde es - nach allem, was man weiß - im 13. Jahrhundert in Neapel am Hofe des Stauferkaisers Friedrich II. Und es hält sich bis heute.

Von Martin Erdmann | 19.01.2019
    Ein aufgeschlagener Band mit einem Gedicht auf einem Tisch. Dazu eine Tasse Kaffee mit schöner Crema.
    Eine Tasse Kaffee beim Gedichtelesen (Thought Catalog/Unsplash)
    Es wanderte in alle Literatursprachen Europas bis nach Georgien und China. Manchmal geriet es in Mode und erregte den Unmut zum Beispiel Goethes, dessen berühmte Zeile "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister" allerdings nicht nur selbst aus einem Sonett stammt, sondern auch einen wesentlichen Zug dieser Gattung zusammenfasst: die Beschränkung auf 14 Zeilen in einer vorgegebenen Anordnung.
    Von Petrarca bis Rilke
    Dabei hat das Sonett inhaltlich eine große Vielfalt erreicht: War es bei Francesco Petrarca noch vorwiegend Liebeslyrik, so kommt bei William Shakespeare die Reflexion über das eigene Schreiben hinzu. Charles Baudelaire erkundet im Sonett die Blumen des Bösen und des Häßlichen. Rainer Maria Rilke benutzt das Sonett für Beobachtungen an Alltagsgegenständen.
    "Sonare" heißt "klingen"
    Dies sind nur ein paar Stationen auf einer kleinen Reise durch die Geschichte des Sonetts, von seinem ersten bedeutenden Repräsentanten Petrarca bis in die unmittelbare Gegenwart über zwei Kontinente hinweg in sieben verschiedenen Sprachen. Das Wort Sonett kommt vom italienischen ,sonare' (klingen), und es bot in allen Sprachen seinen Dichtern immer wieder eine Möglichkeit auszuprobieren, wie die eigene Sprache klingt.
    Was ist ein Sonett?
    Diese Frage kann man entweder in ein paar Sätzen zusammenfassen oder man kann lange Abhandlungen darüber schreiben. Denn im Laufe der Jahrhunderte haben sich zahllose Typen von Sonetten ergeben, die teils auf den Besonderheiten der einzelnen Sprachen basieren, teils Erfindungen einzelner Dichter waren, die zusätzliche Regeln anwandten. Kurz gesagt, gibt es jedoch für das Sonett drei Grundregeln:
    Erstens hat ein Sonett vierzehn Zeilen.
    Diese vierzehn Zeilen werden auf eine bestimmte Art eingeteilt, nämlich in vier Strophen, von denen die ersten beiden je vier Zeilen haben — deshalb nennt man sie auch Quartette —, während die letzten beiden Strophen je drei Zeilen umfassen — das sind die Terzette.
    Die zweite Regel betrifft die Reime. Im ersten Quartett müssen sich je zwei Zeilen reimen, und im zweiten Quartett müssen dieselben Reime aus dem ersten an derselben Stelle wiederkehren. Wenn das Reimschema in der ersten Strophe zum Beispiel a-b-b-a lautet, muß die zweite Strophe auch a-b-b-a reimen. In den sechs verbleibenden Zeilen verwendet man drei andere Reime, für die aber keine bestimmte Anordnung vorgeschrieben ist.
    Drittens sollen alle Zeilen gleich lang sein beziehungsweise dasselbe Versmaß haben. Diese Regel wird in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich gehandhabt, denn in manchen Sprachen ist traditionellerweise die genaue Anzahl der Silben in einer Zeile wichtiger als ein genau eingehaltenes Versmaß, in anderen Sprachen ist es umgekehrt.
    Die Tatsache, daß die ersten beiden Strophen eines Sonetts vier Zeilen haben, die letzten beiden Strophen aber drei, bewirkt eine gewisse Dynamik im Formverlauf, die bereits sehr früh in der Geschichte des Sonetts dazu geführt hat, daß zwischen der zweiten und der dritten Strophe eine inhaltliche Zäsur gesetzt wird.
    Sonette in der Musik
    Auch Komponisten haben sich schon früh vom Sonett angezogen gefühlt, dazu gehören Claude Debussy, Alexander Skrjabin,Pierre Boulez und Arnold Schönberg. Franz Liszt z.B. vertonte Sonette von Petrarca, dem mit die ersten Sonette zugeschrieben werden.
    Grab Petrarcas in seinem Geburtsort Arqua bei Padua
    Grab Petrarcas in seinem Geburtsort Arqua bei Padua (AP)
    Francesco Petrarca (1304 - 1374)
    Petrarca wurde 1304 im mittelitalienischen Arezzo geboren und war mithin gleich alt wie Giovanni Boccaccio und etwa fünfzig Jahre jünger als Dante. Alle drei sind gewissermaßen die Säulenheiligen, die "tre corone", die "drei Kronen" der italienischen Literatur. Denn alle drei standen ziemlich am Anfang der Literatur in italienischer Sprache und schufen, jeder auf seinem Gebiet, eine Sprache, die so reichhaltig und nuanciert war, daß das Italienische fortan als 'richtige‘ Literatursprache galt, die neben dem Latein bestehen konnte: Neben Dantes Verserzählung Comedia, der von Boccaccio der Beiname Divina gegeben wurde, also neben der "Göttlichen Komödie" stehen der Novellenzyklus ´Decamerone`- "Das Dekameron" von Boccaccio und eben die 366 Gedichte von Petrarcas Canzoniere, der "Liedersammlung" oder "Gedichtsammlung".
    Petrarca schrieb daran fast sein ganzes Leben lang und überarbeitete den Canzoniere mehrere Male; gedruckt wurde dieser übrigens erst ein knappes Jahrhundert nach seinem Tode, nämlich 1470. Der überwiegende Teil von Petrarcas literarischer Produktion ist in lateinischer Sprache verfaßt, und er selbst gab dem erst im 19. Jahrhundert so genannten Canzoniere auch einen lateinischen Titel: Rerum vulgarium fragmenta, "Bruchstücke von gewöhnlichen Dingen", wobei "gewöhnliche Dinge‘ hier als 'gemeinsprachliche Dinge‘ zu verstehen sind, als Dinge, die in der Volkssprache aufgezeichnet sind, also in der italienischen Sprache, die man damals ’volgare‘ nannte.
    Das große (wenn auch nicht das einzige) Thema des Canzoniere ist die Liebe, genauer gesagt, jene unerfüllte Liebe eines Mannes zu einer Frau, die wir aus der provenzalischen Lyrik der spätmittelalterlichen Trobadors kennen, an die Petrarca ebenso anknüpft, wie es vor ihm schon die deutschen Minnesänger taten.
    Mentre che ‘l cor dagli amorosi vermi
    fu consumato, e ‘n fiamma amorosa arse,
    di vaga fera le vestigia sparse
    cercai per poggi solitarii et hermi;
    et ebbi ardir cantando di dolermi
    d’Amor, di lei che sí dura m’apparse:
    ma l’ingegno et le rime erano scarse
    in quella etate ai pensier’ novi e ‘nfermi.
    Quel foco è morto, e ‘l copre un picciol marmo:
    che se col tempo fossi ito avanzando
    (come già in altri) infino a la vecchiezza,
    di rime armato, ond’oggi mi disarmo,
    con stil canuto avrei fatto parlando
    romper le pietre, et pianger di dolcezza.
    Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer haben in ihrer Gesamtübersetzung des Canzoniere, die 1989 erschien, versucht, Versmaß und Reimstruktur des Originals soweit wie möglich beizubehalten:
    Solang die Flamme brannte und das Nagen
    Der Liebeswürmer mir das Herz verzehrte
    sucht ich ein holdes Wild auf karger Fährte
    Auf einsam öden Höhen zu erjagen
    Und war so kühn, mich singend zu beklagen
    Amors und jener, die mich nicht erhörte;
    Doch war Talent und Reim von mindem Werte
    Und jung und krank der Sinn in jenen Tagen.
    Der Brand ist tot; es deckt ihn Marmor-Schwere
    Hätt, wie in andern, bis zum Abendscheine
    Er wachsen dürfen und sich fort-entfachen –
    Mit Reim bewaffnet, den ich heut entbehre
    Ergrauten Stils dann redend hätt ich Steine
    Zerspringen und vor Süße weinen machen.
    Für das Verständnis der Sonette gilt noch mehr als für jede Lyrik: Man sollte sie laut lesen. Oft merkt die Leserin und der Leser dann, dass die Klänge und der Rhythmus tragen und zum Verständnis des Gedichtes führen. Da dies bei diesem Thema der Langen Nacht ein entscheidender Nachteil gegenüber der Hörversion ist, sind hier nur einzelne Sonette abgebildet.
    Petrarca, Francesco: Canzoniere; Nach einer Interlinearübersetzung von Geraldine Gabor in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer; dtv 1990

    William Shakespeare (1564 - 1616)
    Das Denkmal von William Shakespeare, aufgenommen im Park an der Ilm in Weimar (Thüringen). 
    Auch 450 Jahre nach seiner Geburt sind Shakespeares Sonette zu hören. (picture alliance / dpa)
    Neben Petrarcas Sonetten gehören sicher die Sonette von Shakespeare noch zu den bekanntesten und in ihrer Wirkungsgeschichte zu den einflußreichsten. Es sind 154 Sonette, die 1609 im Druck erschienen, zu einem Zeitpunkt, da Shakespeare nach über 25 Jahren als Schauspieler, Stückeschreiber und Intendant in London bereits ein kleines Vermögen gemacht hatte und sich allmählich in seinem Geburtsort Stratford-upon-Avon in der Nähe von Birmingham zur Ruhe setzte. Das Sonett war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in England bekannt geworden und führte in kürzester Zeit zu einer wahren Flut von Sonettsammlungen, von denen diejenige Shakespeares die umfangreichste darstellt. Sie ist bis heute die bekannteste des Elisabethanischen Zeitalters geblieben, und so wird auch häufig die eigentümliche englische Variante des Sonetts mit Shakespeare assoziiert, obgleich er sie nicht erfunden hat.
    Das englische Sonett, das auch nach Nordamerika auswanderte und noch bei Edgar Allan Poe und sogar einem so experimentierfreudigen Dichter des 20. Jahrhunderts wie Edward Estlin Cummings zu finden ist, hat zwar auch 14 Zeilen, aber es ist anders gegliedert als das italienische. Es hat drei Quartette und einen Zweizeiler am Schluß. Die Quartette haben jeweils zwei Reimpaare wie im italienischen Sonett, aber anders als dort sind die Reimpaare in jedem Quartett verschieden. Es wird also vom Dichter nicht erwartet, daß er drei vierzeilige Strophen lang seine einmal gewählten Reime durchhält, dafür aber müssen sich die beiden Schlußverse reimen, und diese Regel hat nun dazu geführt, daß diese Schlußverse wie ein Epigramm eine besondere Konzentration der Aussage erfordern, gleichsam eine Schlußpointe, die bei Shakespeare oft mit machtvoller Eleganz daherkommt.
    That time of year thou mayst in me behold
    When yellow leaves, or none, or few, do hang
    Upon those boughs which shake against the cold,
    Bare ruin’d choirs where late ihe sweet birds sang.
    In me thou see’st the twilight of such day
    As after sunset fadeth in ihe west,
    Which by and by black night doth take away,
    Death’s second self, that seals up all in rest.
    In me thou see'st the glowing of such fire
    That on the ashes of his youth doth lie,
    As the death-bed whereon it must expire,
    Consum’d with that which it was nourish’d by:
    This thou perceiv’st which makes thy love more strong,
    To love that well which thou must leave ere long.

    (Sonett Nummer 73; deutsche Fassung: Stefan George)

    Die zeit des jahres magst du in mir sehn
    Wo gelbe blätter - keine - wenige hangen
    Auf diesen ästen die im wind sich drehn -
    Chor-trümmer kahl wo einst die vögel sangen.
    In mir siehst du zwielicht von solchem tag
    Der nach der sonne weggang bleicht im west -
    Das schwarze nacht gar bald entführen mag.
    Zwilling des tods umhüllt sie alles fest.
    In mir siehst du das brennen solcher glut
    Die auf den aschen ihrer jugend schwebt
    Wie auf dem totenbett wo sie bald ruht —
    Durch das verzehrt wovon sie einst gelebt.
    Dein lieben wächst - wirst du dir dess bewusst -
    Und du liebst wohl das du bald lassen musst.
    Stefan George, Shakespeare Sonnette. Umdichtung. Vermehrt um einige Stücke aus dem Liebenden Pilgrim. Hrsg. v. Ute Oelmann [= Sämtliche Werke in 18 Bden., Bd. 12] (Stuttgart 2008)
    Das Sonett scheint durch die Strenge seiner Regeln zur Selbstreflektion anzuregen. Im besten Falle entstehen so Beiträge zu einer Poetik des Schreibens, die selber poetisch sind:
    Or I shall live your epitaph to make,
    Or you survive when I in earth am rotten;
    From hence your memory death cannot take,
    Although in me each part will be forgotten.
    Your name from hence immortal life shall have,
    Though I, once gone, to all the world must die;
    The earth can yield me but a common grave,
    When you entombed in men’s eyes shall lie.
    Your monument shall be my gentle verse,
    Which eyes not yet created shall o’er-read;
    And tongues to be your being shall rehearse,
    When all the breathers of this world are dead.
    You still shall live, such virtue hath my pen,
    Where breath most breathes, even in the mouths of men.
    Ob ich einst deine grabschrift machen werde –
    Ob du fortlebst - lieg ich in staub zerfressen:
    Kein tod raubt deinen namen vonder erde –
    Ist auch von mir ein jeder teil vergessen.
    Wenn dann dein nam unsterblich lebt: so hab
    ich - einmal tot - niemand der mein gedenkt.
    Mir gibt die erde nur ein alltagsgrab -
    Du lebst in aller menschen blick gesenkt.
    Du hast als denkmal dann mein zart gedicht
    Das heut noch unerschaffne augen lesen.
    In spätren zungen dann dein wesen spricht
    Wenn alle haucher dieser zeit verwesen.
    Dann lebst du noch — mein wirken ist der grund -
    Wo hauch am meisten haucht: in menschenmund.
    Frankreich, Spanien und Deutschland
    Zu Shakespeares Lebzeiten war das Sonett bereits ins Französische und Spanische gekommen, und Namen wie Pierre de Ronsard oder Lope de Vega seien hier als gewichtige Vertreter der Gattung in ihren Sprachen wenigstens erwähnt. Und noch ein kurzer Blick auf die deutsche Barockliteratur mit zweien der bis heute bekanntesten Sonette aus jener Zeit; von zwei Dichtern, die beide umfangreiche Sonettsammlungen veröffentlicht haben: Andreas Gryphius und Paul Fleming.
    Es ist alles eitell.
    Du sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden.
    Wasdieser heute bawt/ reist jener morgen ein:
    Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein
    Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
    Was itzund prächtig blüht sol bald zertretten werden.
    Was itzt so pocht vndt trotzt ist morgen asch vnd bein.
    Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
    Itz lacht das gluck vns an / bald donnern die beschwerden.
    Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
    Soll den das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
    Ach! Was ist alles dis was wir für köstlich achten/
    Als schlechte nichtikeitt / als schaten staub vnd windt.
    Als eine wiesen bium / die man nicht wiederfindt.
    Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.
    Andreas Gryphius (1616 - 1664)
    An Sich
    Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
    Weich keinem Glücke nicht. Steh’ höher als der Neid.
    Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /
    hat sich gleich wieder dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen.
    Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.
    Nim dein Verhängnüß an. Laß’ alles unbereut.
    Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
    Was du noch hoffen kannst/ das wird noch stets gebohren.
    Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
    ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
    Diß alles ist in dir / laß deinen eitlen Wahn /
    und eh du förder gehst / so geh’ in dich zu rücke.
    Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann/
    dem ist die weite Welt und alles unterthan.
    Paul Fleming (1609 - 1640)
    Buchcover: Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen
    Buchcover: Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen (Rowohlt / imago/Westend61)
    Charles Baudelaire (1821 - 1867)
    Mit Charles Baudelaire kamen ein neuer Tonfall und neue Themen ins Sonett. Fast alle Gedichte, die er geschrieben hat, sind in der Sammlung Les fleurs du mal enthalten: Der Titel wird meist mit ´Die Blumen des Bösen` übersetzt, man könnte auch ´Die Blumen des Schlechten` oder ´Die Blumen des Übels` sagen. Mit diesem Buch wurde er berühmt, für die einen als Erneuerer der französischen Dichtung, später als (Mit)begründer der literarischen Moderne, für die anderen war Baudelaire – in seiner Zeit – ein Provokateur, der die Grenzen des guten Geschmacks verletzte. Nur drei Wochen nach Erscheinen der Fleurs du mal 1857 wurde das Buch verboten. Baudelaire hatte als erster gezeigt, dass es möglich war, in der Lyrik nicht nur das Schöne, Wahre, Gute, sondern auch das Hässliche und das Böse dazustellen – und zwar nicht etwa als etwas Verabscheuungswürdiges oder etwas, das Leiden oder Trauer auslöst. Es gibt in den ´Blumen des Bösen` mehrmals Anrufungen und Lobpreisungen des Teufels, Baudelaire preist den Rausch im Alkohol und im Opium, und auch die Darstellungen einiger Liebesnächte waren für die damalige Zeit entschieden zu freizügig.
    La mort des amants
    Nous aurons des lits pleins d'odeurs légères,
    Des divans profonds comme des tombeaux,
    Et d'étranges fleurs sur des étagères,
    Ecloses pour nous sous des cieux plus beaux.
    Usant à l'envi leurs chaleurs dernières,
    Nos deux coeurs seront deux vastes flambeaux,
    Qui réfléchiront leurs doubles lumières
    Dans nos deux esprits, ces miroirs jumeaux.
    Un soir fait de rose et de bleu mystique,
    Nous échangerons un éclair unique,
    Comme un long sanglot, tout chargé d'adieux;
    Et plus tard un Ange, entr'ouvrant les portes,
    Viendra ranimer, fidèle et joyeux,
    Les miroirs ternis et les flammes mortes.
    Deutsche Fassung:
    Der Tod der Liebenden
    Wir haben betten voller leichter düfte ·
    Wir haben polster wie die gräber tief
    Und seltne blumen ragen in die lüfte
    Die schönres land für uns ins dasein rief.
    Die lezte glut verbrennt auf gutes glück
    In unsrer herzen beiden flammentiegeln
    Ihr zwiefach leuchten aber strahlt zurück
    In unsren geistern · diesen zwillingsspiegeln.
    Ein abend kommt mit blau und rosa blinken ·
    Da flackert es noch einmal lichterloh:
    Ein langer seufzer und ein scheidewinken.
    Hernach erscheint ein engel auf der schwelle
    Um wieder zu beleben treu und froh
    Die trüben spiegel und die tote helle.
    Der österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke, einer der einflußreichsten deutschsprachigen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer zeitgenössischen Aufnahme.
    Der österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke, einer der einflußreichsten deutschsprachigen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture-alliance / dpa)
    Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
    Wiederum neue Themen fügte Rainer Maria Rilke den Sonetten hinzu – Alltagssprache und alltägliche Dinge werden fast wie in einem Stilleben verwendet:
    Blaue Hortensie
    So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
    sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
    hinter den Blütendolden, die ein Blau
    nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
    Sie spiegeln es verweint und ungenau,
    als wollten sie es wiederum verlieren,
    und wie in alten blauen Briefpapieren
    ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
    Verwaschenes wie an einer Kinderschürze,
    Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:
    wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
    Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
    in einer von den Dolden, und man sieht
    ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.
    Heiner Müller (1929 – 1995)
    Wie viele Gedichtgattungen ist auch das Sonett im 20. Jahrhundert von der Vorherrschaft der freien Verse extrem zurückgedrängt worden. Viele Dichter, die sich als modern oder avantgardistisch empfanden, verschmähten den Reim als ein veraltetes Mittel der Formbildung oder konnten sich bestensfalls noch zu einem ironischen Umgang mit ihm verstehen (wobei man nicht vergessen darf, dass solche Grabenkämpfe, wie sie auch in anderen Künsten üblich waren, also Reim gegen Nicht-Reim, figürliche Malerei gegen abstrakte, tonale Musik gegen atonale, auch ideologisch motiviert waren: Ungereimte Gedichte in freien Versen, abstrakte Malerei, atonale Musik galten im nationalsozialistischen Deutschland und ideologisch verwandten Diktaturen als "entartet". Wie jeder weiß, hatte dies leider nicht zur Folge, dass solche Kunst im Sozialismus grundsätzlich besser aufgehoben gewesen wäre.) Der DDR-eigene Konservativismus und Klassizismus, der die rege Sonettproduktion etwa von Johannes R. Becher und Stephan Hermlin umhüllte, prägte auch Heiner Müller. In seinen Gedichten finden wir ebenso wie in seinen Theaterstücken die formzertrümmernde Sprache neben der virtuosen Beherrschung des fünfhebigen Jambus, sei es als (ungereimter) Blankvers, sei es gereimt wie im folgenden Sonett, das am 9. Januar 1995 der der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien:
    Traumwald
    Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
    Er war voll Grauen Nach dem Alphabet
    Mit leeren Augen die kein Blick versteht
    Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
    Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
    Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
    Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
    Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
    Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
    Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
    Die letzte Tagesspur ein goldener Strich
    Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
    Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
    Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.
    Vor meiner Schreibmaschine dein Gesicht
    Vor meiner Schreibmaschine dein Gesicht
    Dein Auge das mich fragt Was willst du sagen
    Gegen die Weh Wie kannst du sie ertragen
    Was willst du tun daß sie zusammenbricht
    Ich sitze krumm an meiner Schreibmaschine
    Es geht auf Mitternacht und nebenan
    Schläft unsre Tochter Braucht sie was ich kann
    Oder ist es ihr Tod den ich bediene
    Dein Auge hält mich Fest in deinem Blick
    Hör ich mich sagen daß mein Leben lohnt
    Auf dieser Welt nicht nur von uns bewohnt
    Mit deinen Augen sieht mein Kind mich an
    Wie lange bleibt es von der Weh verschont
    Wenn ich die Frau bin und du bist kein Mann
    Und zum Schluss ein Sonett mit dem Titel Sonett:
    Das Sonett (1947)
    Wenn einer Dichtung droht Zusammenbruch
    und sich die Bilder nicht mehr ordnen lassen,
    wenn immer wieder fehlschlägt der Versuch,
    sich selbst in eine feste Form zu fassen,
    Wenn vor dem Übermaße des Geschauten
    der Blick sich ins Unendliche verliert,
    und wenn in Schreien und in Sterbenslauten
    die Welt sich wandelt und sich umgebiert –
    wenn Form nur ist: damit sie sich zersprenge
    und Ungestalt wird, wenn die Totenwacht
    die Dichtung hält am eigenen Totenbett –
    alsdann erscheint, in seiner schweren Strenge
    und wie das Sinnbild einer Ordnungsmacht,
    als Rettung vor dem Chaos – das Sonett.
    Johannes R. Becher
    (Wdh. v. 3./4.6.2006)