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Eine literarische Entdeckungsreise von Jean-Marie Gustave Le Clézio

Der Schriftsteller Jean-Marie Le Clézio hat im Jahr 2005 an einer Exkursion zum Inselstaat Vanuatu im südlichen Pazifik teilgenommen. Er war von dem Autor, Lyriker und Kulturtheoretiker Edouard Glissant ausgewählt worden, um den literarischen Zustandsbericht über die dortigen Völker am Wasser schreiben. Herausgekommen ist eine außergewöhnliche Kulturreportage. Le Clézios Titel dafür ist bezeichnend: "Raga. Besuch auf einem unsichtbaren Kontinent."

Von Martin Zähringer | 10.12.2008
    Raga ist der einheimische Name für Pentecost oder auch Pfingstinsel, bekannt für die berühmten Lianenspringer. Sie gehört zu den 83 Inseln des Pazifikstaates Vanuatu, und Vanuatu selbst, früher als Neue Hebriden bekannt, ist einer der im ganzen Pazifik verstreuten Archipele. Zusammen bilden solche Archipele wie Polynesien, Melanesien oder Mikronesien den unsichtbaren Kontinent - Ozeanien. Dazu Le Clézio in seinem Buch:

    Es wird gesagt, Afrika sei der vergessene Kontinent. Ozeanien ist der unsichtbare Kontinent. Er blieb unsichtbar, weil die Reisenden, die sich als erste hinwagten, ihn nicht als Kontinent wahrnahmen, und weil Ozeanien noch immer die internationale Anerkennung fehlt, als wäre hier nur eine Passage, etwas Fehlendes.

    Dieses Fehlende zeigt uns Le Clézio. Seine Helden sind nicht Louis Antoine de Bougainville oder Captain Cook, sondern wesentlich frühere Bezwinger des Pazifik wie Matansesé, Matansí oder Matantaré. Le Clézio wertet kritisch kolonialhistorische Quellen aus, ebenso kritisch Reiseberichte und Ethnografien. Er verwendet auch Märchen und Mythen der Insel, vor allem aber sucht er den Dialog. Von der Inselbewohnerin Charlotte Wèi hört er ihre Geschichte als Initiatorin einer mikroökonomischen Initiative, mit der die Frauen der Insel und ihre traditionelle Flechtmattenproduktion wieder in das reguläre Tauschgeschehen integriert wurden. Von Häuptling Willie hört er die Legende vom kleinen Mädchen Veveo: Veveo wurde bei einer der ständigen Fluchten der Einheimischen vor den Sklavenschiffen der Kolonialmächte am Strand vergessen, die Weißen nahmen sie mit. Generationen später, so vernimmt Le Clézio, kam einmal die englische Königin mit ihrem Prinzgemahl zu Besuch. Die Insulaner strömten in Scharen zum Strand - aber nicht um den hohen Besuch zu ehren, sondern um den englischen Prinzen in Empfang zu nehmen, als gerechte Gegengabe für die entführte Veveo.

    Solche Geschichten und Erzählungen lauscht Le Clézio den Bewohnern ab, aber er benutzt sie nicht als billige Quelle für seine Stoffsammlung, sondern lässt darin ihr eigenes Wissen zum Ausdruck kommen. Der bedachte Wechsel von poetischer und imaginärer Betrachtungsweise mit historisch-kritischer Reflexion erweitert zudem das dialektische Spiel der Positionen. Ein Beispiel für Le Clézios literarische Dynamik des Wechsels aus dem Kapitel Die Kunst des Widerstandes:

    Ein Stäubchen, das in der Luft hängt, ein bleibender Geruch nach Verbranntem, oder aber die Stille nach einer Feuersbrunst. Ein Boden, der ständig bebt, wie eine bewegliche Haut. Das Meer kann jeden Moment alles verschlingen. Die Meeresvögel sind gewissermaßen die einzigen dauerhaften Bewohner. In den Meerestiefen seltsame, monströse Fische, Neunaugen, steinförmige, skorpionartige. Ab und zu schnellt ein Mondfisch aus dem Wasser und stirbt auf dem Strand, wie verfolgt von einem Wahn.

    Etwas später wechselt der Ton:

    Als der Westen Zugriff auf die Archipele dieses Ozeans bekam, war es bereits zu spät. Die Trommeln von Ambrym, von Efate, die Muschelhörner von Tahiti hatten nicht genügt, um Eindringlinge fernzuhalten, die auf Stahlschiffen daherkamen, und auch nicht die zusammenhängende Masse von Leuten abzuwehren, die ihnen folgte, Siedler, Touristen, Pädophile - Vierzehnjährige wurden mit Gauguin oder Fletcher verheiratet - und dazu Missionare, die die Dämonen ausrotten und die Nacktheit der Einwohner bekleiden wollten.

    Die Komposition verschiedener Stile und Tonarten, Sprechweisen und Textsorten ist kein ästhetischer Sebstzweck, sie nimmt bewusst wesentliche kulturelle Gegensätze auf. Es geht um die Gewaltbeziehungen zwischen kontinentaler und archipelischer Geschichte, die Le Clézio übrigens auch in den kreolischen Sprachformen vor Ort erkennt und beschreibt. Mit diesem Thema ist er nun ganz nah bei Édouard Glissant, dem Philosphen und Dichter der atlantischen Archipele. Der Theoretiker der Kreolisierung wird des öfteren in "Raga" direkt und indirekt zitiert. Glissant ist der Schöpfer eines archipelisch-rhizomatischen Denkens in Anlehnung an Deleuze und Guattari, das er in einem scharfen Gegensatz zum von ihm so genannten kontinentalen Systemdenken sieht:

    Eine neue Art des Denkens, ein intuitiveres, auffälligeres, bedrohteres, das dafür aber eingestimmt ist auf die Chaos-Welt und ihre Unvorhersehbarkeit, wird vielleicht gestützt von den Erkenntnissen der Geistes- und Sozialwissenschaften, es verweist aber auch auf eine Vision des Poetischen und Imaginären auf der Welt. Dieses Denken nenne ich archipelisch, das heißt, es ist nicht-systematisch, sondern induktiv, es erforscht das Unvorhergesehene des Welt-Ganzen, es bringt den mündlichen Ausdruck mit dem Schriftlichen in Übereinstimmung und umgekehrt.

    Dieses archipelische Denken begleitet auch das publizistische Projekt "Völker am Wasser", das demnächst mit einem Beitrag von Glissant selbst fortgesetzt wird. Glissant hat in verstreuten Aufsätzen und Büchern auch eine dynamische Poetik der Vielheit und der Beziehungen formuliert, die in Jean-Marie Le Clézios gesamtem Werk durchscheint. Wenn man ihm, der ja in seinen Romanen tatsächlich eine kulturelle und repräsentative Vielheit pflegt, den Vorwurf des Ethnokitsches macht, dann ist das zu kurz gegriffen. In seinem brillianten Report über die Pazifikinsel Raga zeigt Le Clézio sich deutlich in diesem archipelisch-poetischen Licht. Es verleiht dem unsichtbaren Kontinent und seinem Chronisten auf faszinierende Weise Kontur und Farbe.