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Eine Meisterin der Gefühlserkundung

Die französische Wochenzeitung "Le Figaro littéraire" hat sie einmal eine "Meisterin der Erkundung von Gefühlen und von Frauenporträts in der Nachfolge einer Jane Austen oder eines Henry James" genannt. Véronique Olmi gilt als eine der bekanntesten Dramatikerinnen Frankreichs. Im Mittelpunkt stehen immer die Frauen, so auch in ihrem neuesten Buch "Die erste Liebe".

Von Dina Netz | 17.10.2011
    Man mag ohnehin nicht so recht glauben, dass es ein harmonischer Hochzeitstag geworden wäre: Emilie will den Abend ihrer Silberhochzeit nicht, wie von Ehemann Marc vorgeschlagen, in einem noblen Pariser Restaurant verbringen, sondern selbst ein romantisches Abendessen vorbereiten. Aber sie ist darin nicht sehr geschickt, muss mehrmals zum Supermarkt und vergessene Zutaten holen, streitet sich mit dem Weinverkäufer. Sie spürt, dass Marc denkt, dass sie sich dämlich anstellt, wird darüber gereizt. Ohnehin steht also der Abend der Silberhochzeit unter keinem leuchtenden Stern. Und dann wickelt Emilie den Wein aus der Anzeigenseite der Tageszeitung, und diese harmlose Handlung bringt alles ins Wanken. Sie liest:

    ",Emilie, Aix 1976. Komm so schnell wie möglich zu mir nach Genua. Dario.'
    Ich habe nichts gedacht. Ich habe mir keine Fragen gestellt. Ich habe mich wie von selbst bewegt. Ich habe den Herd ausgestellt. Ich habe die Kerzen ausgepustet. Ich habe einen Zettel für Marc auf den Küchentisch gelegt: ,Mach dir BLOSS keine Sorgen.' Ich habe eine leichte Jacke über mein leichtes Kleid gezogen. Ich habe meine Autoschlüssel genommen. Meine Tasche. Mein Mobiltelefon vergessen. Und bin hinausgegangen."


    Selbst im größten emotionalen Aufruhr denkt Emilie also noch an Herd und Kerzen – sie ist mit Ende 40 offenbar eine sehr kontrollierte Frau, Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Véronique Olmi erklärt, was sie an ihrer Protagonistin interessiert hat:

    "Ich habe eine 48-jährige Heldin gewählt, die im Leben steht. Sie ist Mutter, Ehefrau, hat einen Job. Es geht ihr nicht schlecht, und trotzdem lässt sie von einem Moment auf den anderen, einem plötzlichen Impuls folgend, alles stehen und liegen, um quer durch Frankreich und Italien zu fahren. Dabei weiß sie noch nicht mal, warum dieser Mann sie zu sich ruft."
    Im Auto nach Genua versucht Emilie sich klar zu werden, warum sie dem Ruf so prompt gefolgt ist. Offenbar ist Olmis Protagonistin jahrelang vor allem für die drei Töchter und den Ehemann da gewesen und hat sich selbst darüber etwas aus den Augen verloren.

    Die Erinnerung an Dario hat eine Seite in ihr zum Klingen gebracht, die lange verstummt war. Zu ihrer Tochter sagt sie, sie mache sich auf den Weg zu dem einzigen Mann, den sie je geliebt habe. Vielleicht stimmt das gar nicht, aber ihre Beziehung zu dem schönen italienischen Verführer hatte eben den Charme der ersten Liebe. Und Dario war tatsächlich besonders:

    "Er ist anders. Seine Frau nennt Dario invitato, den Eingeladenen. Er hört den anderen zu, er zieht die anderen an, Frauen, Kinder. Von außen denkt man, dass er alles hat: Seine Mutter liebt ihn, er ist schön, begabt, reich. Dario muss offensichtlich nicht kämpfen für seinen Platz im Leben."

    "Er hatte die Anmut jener, die den Augenblick lieben. Die sich bewegen, ohne zu rennen. Die ohne Zurückhaltung lachen und nie die Hoffnung verlieren. Und es war keine Philosophie, keine Religion, nicht mal ein Lebensmotto. Dario verkörperte einfach, ohne es zu wissen, das Beste, was das Leben zu bieten hat."

    Die Liebe zu Dario, der nicht ganz von dieser Welt ist, ist nie entzaubert worden: Er zog plötzlich mit seinen Eltern nach Genua, die Beziehung brach abrupt ab.

    Und noch etwas macht diese erste Liebe zu etwas Besonderem, denn Dario hat Emilie aus dem Bannkreis ihrer Familie gerettet, vor allem aus den Fängen der strengen Mutter, einer zutiefst unglücklichen Frau, die sich in einen restriktiven Katholizismus geflüchtet hatte:

    "Ihre Beziehung ist heilig, weil dieser Mann Emilie als erster die leuchtende Tür zu einem Leben geöffnet hat, das für sie gemacht war. Sie kommt aus einem engen Milieu voller Verbote und Bigotterie. Und dieser Jugendliche hat ihr, ohne viel zu reden, einfach durch seine Ausstrahlung, gezeigt, dass das Leben schön ist und dass es eine wunderbare Gefahr darstellt, die man eingehen muss."

    Die Begegnung mit dem jugendlichen Dario war also auch der Moment des Aufbruchs in ein selbstbestimmtes Leben. In den schwachen Momenten ihrer Reise meint Emilie, die Unbefangenheit ihrer Jugend in Genua wiederfinden zu können. Aber natürlich ist sie zu klug, um das wirklich zu glauben.

    "Sie sucht dieses aufregende Gefühl, das man als Jugendliche hat, wenn man denkt: Das Leben ist auch für mich gemacht, und ich werde es auskosten. Aber ich habe ein Buch geschrieben über vergehende Zeit, und natürlich wird Emilie nicht ihre Jugend wiederfinden. Sie glaubt nicht eine Sekunde lang, dass sie wieder 16 sein und einen Slow mit Dario tanzen wird – dann wäre sie eine unreife und frustrierte Frau, das hat mich nicht interessiert. Mich hat interessiert, dass Emilie älter geworden ist, Kinder bekommen hat. Sie nimmt genau wahr, dass die Zeit uns weiterbringt, dass sie uns poliert wie einen Kieselstein."

    Véronique Olmis Roman besteht aus zwei Teilen: aus Emilies Aufbruch und ihrer Erinnerung an Dario. Und aus ihrer Ankunft in der Realität, ihrem Aufenthalt beim heutigen, fünfzigjährigen Dario. Wen und was sie in Genua tatsächlich antreffen würde, damit hatte sie nicht im Entferntesten gerechnet: einen Dario nämlich, der sein Gedächtnis verloren hat und eine verzweifelte Ehefrau, die Emilie zu Hilfe ruft. Und je stärker Emilie sich darauf einlässt, Darios Frau zu helfen, die Ursache für seine Krankheit zu finden, desto stärker zieht sie den Sinn ihrer Reise in die Vergangenheit in Zweifel: 30 Jahre, in denen man keinen Kontakt hatte, kann man nicht einfach wegwischen; noch nicht einmal überbrücken, denn letztlich weiß sie von Darios erwachsenem Leben gar nichts. Und so führt ihre Reise Emilie nicht nur nach Paris, sondern auch zu sich selbst zurück. Wie so oft in Olmis Büchern, sind die männlichen Figuren dabei nur Impulsgeber für die komplexeren Frauenfiguren, die starke Turbulenzen überstehen müssen.
    Das klingt ein bisschen küchenpsychologisch und kitschig, und in der Tat haben Véronique Olmis Bücher einen leichten Hang zur Selbstfindungsprosa. Auch ist "Die erste Liebe" im Gegensatz zu Olmis sonst sehr knappen Romanen fast 300 Seiten lang, von denen man einige mit sich wiederholenden Beschreibungen oder rätselhaften Figuren gut entbehren könnte. Trotzdem ist es ein beeindruckendes, einfühlsames und geradezu weises Buch: Die knappen Dialoge lassen das Unaussprechliche stets mit anklingen – Claudia Steinitz hat sie behutsam und zugleich elegant ins Deutsche übersetzt. Und die Worte, die Olmi für die Charakterisierungen ihrer Figuren und die schwankenden Gefühle Emilies findet, sind bildhaft, klar und schön:

    "Wer weiß, ob wir nicht dem Leben selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen wollten, in dem wir Dario wieder in sein Zentrum rückten, wie man die Poesie ins Zentrum aller Dinge rückt, um die Leere aus einer Welt zu entfernen, die sonst nur das wäre, was man in ihr sieht, die nur das bedeuten würde, was man von ihr nimmt, eine Welt ohne Zauber, ohne Heiligkeit, eine Welt, die man verstehen würde. Und vor Verzweiflung durchdrehen."

    Véronique Olmi: "Die erste Liebe", Verlag Antje Kunstmann. München 2011, 288 Seiten, 19,90 Euro