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"Eine offene Geschichtstheorie der Moderne"

Mit einem zweitägigen Kongress in Wiesbaden begeht die Helmuth-Plessner-Gesellschaft den 120. Geburtstag ihres Namenspatrons, des deutschen Soziologen, Philosophen und Zoologen Helmuth Plessner. Ihr Präsident Joachim Fischer will sich zu diesem Anlass für die Einrichtung eines Helmuth-Plessner-Preises aussprechen, der "in einem edlen Wettbewerb mit dem Frankfurter Theodor-W.-Adorno-Preis" stehen könne, so Fischer.

Joachim Fischer im Gespräch mit Michael Köhler | 04.09.2012
    Michael Köhler: Heute ist der 120. Geburtstag des deutschen Soziologen, Philosophen und Zoologen Helmuth Plessner, der nach dem Krieg erster Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Philosophie wurde. Er wurde 1892 in Wiesbaden geboren, wo heute ein zweitägiger internationaler Kongress über ihn beginnt. Plessner gilt neben Max Scheler und Arnold Gehlen als die prägende Gestalt der philosophischen Anthropologie der Deutschen. Viele seiner Bücher, die Titel seiner Bücher, sind zu Schlagworten geworden. "Die Stufen des Organischen und der Mensch", "Lachen und Weinen", insbesondere aber "Die verspätete Nation." Geschrieben 1935 im Exil, '59 neu veröffentlicht. Verspätet sei diese Nation Deutschland, weil sie ein Kulturstaat war, bevor sie sich politisch einigte und weil sie nie auf einem verbindenden, leitenden Gedanken gründete wie andere Nationen.

    Was haben die Deutschen, diese Zögerer und notorischen Spätanfänger, im Europa der Krisen eigentlich heute für eine Rolle? Das habe ich Joachim Fischer, den Präsidenten der Helmuth-Plessner-Gesellschaft, gefragt. Welchen Beitrag kann Deutschland im Europa der Krisen leisten: Stabilität, Vernunft, Berechenbarkeit?

    Joachim Fischer: Ja das ist deshalb eine zwar historische, aber einschlägige Schrift geblieben - sie ist ein Klassiker des Deutschland-Diskurses, man könnte sagen von Fichte bis Dahrendorf -, weil Plessner, man würde sagen, es ist ein Sonderwegsbuch, ein Buch über den besonderen Pfad Deutschlands in die Moderne. Die These ist, vergleichend zu den westeuropäischen Staaten: Die haben sich gleichsam in der frühen Aufklärung verfassungsstaatlich gründen können und sind als Großmächte aufgestiegen, Frankreich, England, während Deutschland im 19. Jahrhundert sehr spät kommt, als die Aufklärung nicht mehr wirklich in Kraft ist und insofern keine wirkliche humanistische Idee für die Nationalstaatsgründung hat, keine werbende Menschheitsidee, sondern bloße Energie, ein bloßes Kraftfeld darstellt. Und das macht die ganze Problematik Deutschlands aus bis durch natürlich schon den Ersten Weltkrieg, durch die 20er-Jahre bis schließlich '33. Plessner versucht eben aufzuklären, warum das deutsche Bürgertum '33 kapituliert in einer europäischen Krise und sich so etwas wie einer rassenbiologischen Idee ausliefert.

    Köhler: Nehmen wir doch mal den Titel wörtlich und versuchen, ihn ein bisschen auszufalten. Plessner ist bei uns bekannt, insbesondere als Philosoph. Nun ist nicht nur die Nation, sondern der Mensch schlechthin ja auch ein Spätanfänger, einer, der quasi immer nachholen muss, dass er von Natur aus zu spät kommt. Etwas anspruchsvoller gesagt mit Plessner: Er ist exzentrisch positioniert. Er hat sich einerseits und andererseits kann er sich begucken, über sich reflektieren. Kann das ein Vorteil in der gegenwärtigen Situation sein?

    Fischer: Insofern ein Vorteil - diese philosophische Anthropologie, die Sie ansprechen, mit dem Schlüsselbegriff für den Menschen, exzentrische Positionalität -, ein Vorteil, weil anders, wenn ich das mal vergleichen darf, als geschichtsphilosophische Ansätze zum Beispiel der Frankfurter Schule, die immer so doch eine Identitätsmöglichkeit am Ende der Geschichte im Auge haben, ist für Plessner der Mensch, exzentrisch positioniert, ein Lebewesen des ständig neuen Aufbruchs. Im Grunde ist es, man könnte sagen, eine Art Kleidertheorie des Menschen, eine Art Stiltheorie. Der Mensch muss sich als, kann man so sagen, nacktes Wesen immer erneut stilisieren, eine Fassung geben, ein Kleid geben, und darin findet er sich, er stabilisiert sich, er findet einen Ausdruck. Aber seine Möglichkeiten sind damit nicht erschöpft, und deshalb bricht er zu einem neuen Stil auf. Sie können das auch übertragen auf Baustile. Insofern ist diese philosophische Anthropologie von Plessner von vornherein als eine offene Geschichtstheorie der Moderne angelegt.

    Köhler: Ein letztes für den Moment. Sie finden in Wiesbaden zusammen am 120. Geburtstag von Helmuth Plessner, der im Krieg ins Exil gehen musste. Sie haben eine Anregung mitgenommen, Professor Fischer, als Präsident der Plessner-Gesellschaft. Welcher Impuls geht von Wiesbaden aus oder welchen wollen Sie da setzen?

    Fischer: Wiesbaden bedeutet, dieser Kongress, dass wir Plessner nach Hause bringen wollen, dass er in Wiesbaden entdeckt werden soll, und ich persönlich als Präsident der Gesellschaft werde einen Wiesbadener Helmuth-Plessner-Preis vorschlagen, die Idee in die Welt setzen, und zwar in einem edlen Wettbewerb mit dem Frankfurter Theodor-W.-Adorno-Preis. Und wenn ich das noch ganz kurz sagen kann: Die Begründung ist, dass Plessner seine Schlüsselwerke alle - er war zwar in der Universität Köln, aber alle in den 20er-Jahren - am elterlichen Esstisch in Wiesbaden in den Sommerferien geschrieben hat. Insofern ist Wiesbaden seine Werkstatt. Und zweitens gibt es ja seit 1989 eine Debatte darum, welche Denkrichtung der Nachkriegszeit eigentlich bedeutender für die intellektuelle Ausstattung der Bundesrepublik Deutschland geworden ist, ob die kritische Theorie des Spätkapitalismus von Horkheimer und Adorno, oder vielleicht doch auch eine Figur wie Plessner, der mit seiner Anthropologie eine Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung der Moderne geliefert hat. Es steckt ja in Luhmann sehr viel Plessner. Und das sind die zwei Gründe, die dafür sprechen könnten, dass man diesen Helmuth Plessner mit seiner Werkfülle, aber auch als republikanische bedeutsame Figur der Bundesrepublik mit einem solchen Preis ehren könnte, der zum Beispiel alle drei Jahre vergeben würde.

    Köhler: Sagt Joachim Fischer, Soziologieprofessor in Dresden, Präsident der Plessner-Gesellschaft, zum heute beginnenden internationalen Kongress der Plessner-Gesellschaft über die verspätete Nation. Die mäßige Telefonqualität am Rande des Kongresses bitte ich zu entschuldigen.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.