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Eine poetische Reise in den Iran

Der Roman "Eskandar" erzählt von der Geschichte des Irans. Aus der Sicht der Hauptfigur schildert die deutsch-iranische Bestsellerautorin Siba Shakib die langsame Inbesitznahme des Landes durch ausländische Ölunternehmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und endet bei der iranischen Revolution 1979: eine poetische und gleichzeitig lehrreiche Geschichte.

Von Claudia Cosmo | 16.07.2009
    "Ich habe vier Jahre an diesem Buch geschrieben und ich habe sehr viel recherchiert. Man meint, wenn man in einem Land geboren wurde, dort aufgewachsen ist und von dort ist, dass man das weiß, was man wissen muss, um ein Buch zu schreiben. Das ist natürlich eine absolute Illusion. Der habe ich mich von Anfang an auch nicht hingegeben, aber dass es so schwierig würde! Und als Geschichtenerzählerin rennt die Geschichte mit mir natürlich oft davon - und das ist schön. Aber wenn man dann historisch authentisch erzählen will, muss man sich stoppen. Und das war ganz schwer, diese zwei riesigen Blöcke, meine Fantasie und die Realität der letzten 100 Jahre zusammenzuweben, ohne dass es zu faktenlastig wird."

    Als Orientierungshilfe fügt Siba Shakib dann und wann Jahreszahlen ein und verschmelzt das persönliche Schicksal Eskandars mit historischen Ereignissen wie Volksaufständen gegen korrupte Herrscher, Parlamentsauflösungen und die Einflussnahme fremder Nationen wie die der USA oder der Briten.

    Dennoch gelingt es dem Roman, das zu bleiben, was er sein soll: eine fesselnde Geschichte, die ganz im Duktus der orientalischen Erzähltradition steht. Mitten drin: Eskandar, der Junge, der sich eines Tages auf den hohen Berg seines namenlosen Dorfes begibt, um in die Weite zu schauen.

    Der Blick über den eigenen Tellerrand eröffnet dem jungen Perser eine neue Welt. Eskandar lernt den Kanadier Richard kennen, der im Iran nach Öl sucht, Eskandar bei sich aufnimmt und ihm das Lesen und Schreiben beibringen lässt. Eskandar ist ein instinktsicherer Mensch, der eine intensive Verbundenheit mit seinem Land spürt. So braucht er nur sein Ohr auf den Boden zu legen und entdeckt im Beisein von Richard prompt eine Ölquelle.

    Dadurch ebnet Eskandar dem Fremden den Weg zur Ölförderung. Siba Shakibs Romanheld veräußert damit auf ganz naive Art und Weise sein Land, gibt es für andere Nationen frei, die die Ressourcen und auch das Volk im Laufe der Geschichte immer wieder für ihre Zwecke instrumentalisieren werden. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Abhängigkeit von äußeren Bedingungen wird Eskandar bis zu seinem Tod in den Jahren der iranischen Revolution von 1978/79 immer wieder spüren. Daher ist Siba Shakibs Romanfigur auch eine zwiegespaltene Person.

    "Wenn Sie jetzt die Ereignisse sehen im Iran: Ich bin sehr froh, dass dieses Buch rechtzeitig zu den Ereignissen fertig geworden ist, weil: Jetzt können die westlichen Beobachter mithilfe eines solchen Buches sehen, warum der Iran da ist, wo er ist. Und ein Teil, warum der Iran da ist, wo er ist, ist: Wir sind im Grunde gespalten. Insofern: Eskandar ist ein Spiegel unserer gesamten Geschichte und ein Spiegel unserer Befindlichkeiten, Emotionen, Fähigkeiten, Flucht- und Kampfenergien, die wir als Iraner entwickelt haben."

    Siba Shakibs Roman ist nicht als politisches Buch angelegt, aber es wird zwangsläufig dazu. Denn Shakib beleuchtet anhand des Schicksals von Eskandar auch die politische Kultur ihres Heimatlandes. Der Roman veranschaulicht - und das ist wohl seine größte Leistung - das Prinzip von Ursache und Wirkung.

    Insofern ist es ein radikales Buch, im wahrsten Sinne des Wortes. Zum einen, weil Siba Shakib aufzeigt, dass gewaltsam initiierte Veränderungen auf politischem, sozialen und kulturellen Gebiet in einem Land fehlschlagen müssen, das seit Jahrtausenden auf traditionelle und religiöse Kontexte zurückgreift. Das zeigt zum Beispiel die Einführung des Kopftuchverbots in den 40er-Jahren. Damit sollte eine rasche Modernisierung des Iran vorangetrieben werden, was viele Frauen desorientierte und verunsicherte.

    Zum anderen ist der Roman auch aus dem Grund radikal, da Siba Shakib buchstäblich zu den Wurzeln des Irans vordringt, die im Besonderen im kulturellen Reichtum des Landes liegen. All diese Facetten offenbart die Autorin in einer bitter- süßen Erzählform, die an große iranische Poeten wie Hafes erinnern.

    Somit ist es auch kein Wunder, dass Eskandar selbst als Geschichtenerzähler fungiert und zeitweilig in Schiraz lebt, der Geburtsstadt des Dichters Hafes. Den erwachsenen Eskandar zieht es in die Teehäuser der Städte. Dort verbreitet er die überlieferten Geschichten seines Landes: damit, so heißt es im Roman, die Erinnerung nicht verloren gehe. Als Leser hat man das Gefühl, eben in solch einem Teehaus zu sitzen und den Erzählungen Eskadars zu lauschen.

    "Geschichtenerzählen ist im alten Iran stellvertretend für Nachrichtensprecher, Fernsehsender, Zeitungen, Bücher, weil die Menschen eben nicht lesen und schreiben konnten. Und Geschichte ist natürlich auch Gewissen. Geschichte ist Vorbauen für die Zukunft. Viele Kommentatoren, wenn sie heute über den Iran berichten, vermitteln den Eindruck, als wenn das, was heute auf den Straßen des Iran passiert, der Beginn einer Demokratiebewegung [sei]. Bei ihnen ist durchgegangen, dass es solche eine Demokratiebewegung schon vor 103 Jahren gegeben hat, als sich Leute für die Demokratie eingesetzt haben und nach Teheran geritten sind und beim König durchgesetzt haben, dass er die Verfassung und ein Parlament zulässt. Also ist das, was heute passiert, nicht der Anfang einer Demokratiebewegung, sondern die Fortsetzung der Demokratiebewegung. Und Eskandar erinnert uns immer daran, dass wir uns erinnern sollen!"

    Die Romanfigur Eskandar fungiert nicht nur als Wächter über die kollektive Erinnerung eines Landes, er ist auch ein Aktivist. Siba Shakib lässt ihn an allen wichtigen Ereignissen teilhaben: So schließt er sich zum Beispiel der Demokratiebewegung an und arbeitet in den 50er-Jahren sogar für den Premierminister Mohammad Mossadegh.

    Im Laufe seines Lebens begegnet Eskandar den unterschiedlichsten Menschen, die plötzlich aus der Vergangenheit auftauchen und ihm wieder begegnen; so wie seine Freundin aus Kinderzeiten Roxana oder der Freiheitskämpfer Hodjat. Jede einzelne Figur des Romans verkörpert jeweils eine Facette der iranischen Gesellschaft. Immer wieder baut sich im Leser das verblüffende Gefühl der Gleichzeitigkeit auf: Moderne, unkonventionelle Lebensweisen treffen auf alte Traditionen. So symbolisiert Eskandars alter Weggefährte Hodjat Treue, Tapferkeit, aber auch Rückgewandtheit und Stillstand. Eskandars Ehefrau Aftab steht dagegen für eine selbstbewusste, wissensbegierige Person, die in die Zukunft schaut. Der schönen Marokh begegnet Eskandar im Harem eines mächtigen Verwalters. Im Laufe des Romans entwickelt sich Marogk jedoch von einer zielstrebigen, zu einer orientierungslosen Frau.

    "Sie ist verbittert; und auch das kenne ich aus meinem Umfeld im Iran, dass es manche Frauen einfach nicht geschafft haben - und böse und ärgerlich geworden sind über diesen ganzen Druck, den sie ertragen mussten. Und völlig wertfrei gucke ich mir das an und beschreibe das in 'Eskandar'. Und man leidet mit ihr und wünscht sich, hätte sie irgendwann einmal in ihrem Leben Zeit gehabt, sich zu entwickeln."

    Anhand des Romans lassen sich nicht nur Individualschicksale mitverfolgen. Siba Shakib verdeutlicht auch, wie sich der Iran über Jahrzehnte lang entwickelt hat. Es ist eine zirkuläre Bewegung, bei der sich gesellschaftliche und politische Muster immer zu wiederholen scheinen.

    Am Ende des Romans haben Eskandars Enkel und jüngere Familienmitglieder seine Rolle als Geschichtenerzähler übergenommen. Mit der Kamera halten sie seine Erinnerungen fest, dokumentieren aber auch schreckliche Ereignisse wie die des Revolutionsjahres 1978.

    Eskandar erlebt noch als über 100-Jähriger die Aufstände gegen das gewaltsame Regime des Königs und dessen Geheimdienstes SAVAK. Junge Menschen gehen auf die Straße, werden verhaftet, geschlagen und wie Eskandars Tochter Sarah sogar getötet: Szenen, die in diesen Tagen ihre aktuelle Entsprechung erfahren.

    Mit 'Eskandar' hat Siba Shakib einen dichten, emotionalen Roman geschrieben, der den Iran als kulturreiches, aber aufgewühltes Land zeigt. Am Schluss findet die Hauptfigur Eskandar seine Ruhe und stirbt. Ob er den Frieden mit seinem Heimatland gemacht hat, bleibt offen.

    Siba Shakib: Eskandar
    C. Bertelsmann