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Eine statistische Verzerrung

Stark sinkende Geburtenraten in Deutschland waren noch vor wenigen Jahren in aller Munde. Wissenschaftler des Vienna Instituts of Demography konnten jetzt allerdings zeigen, dass die Schwankungen der Geburtenzahlen weit geringer sind, als öffentlich diskutiert. Die jährlichen Geburtenziffern wurden lediglich durch verschiedene Faktoren verzerrt.

Von Carina Frey | 06.11.2012
    2009 verkündete die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen für das Jahr 2007 einen Anstieg der Geburtenrate von 1,33 auf 1,37 Kinder pro Frau. Endlich - so hoffte man - ging es in Deutschland mit den Geburten wieder aufwärts. Denn lange Zeit brachten Frauen hierzulande Jahr für Jahr im Schnitt weniger Kinder auf die Welt. Im europäischen Ausland sah es nicht viel besser aus: Auch dort sanken bis zur Jahrtausendwende die Geburtenraten. Dann änderte sich plötzlich der Trend: Frauen bekamen im Schnitt wieder mehr Kinder. Doch das beobachtete Auf und Ab ist vor allem eine statistische Verzerrung, erklärt der Demograf Tomáš Sobotka:

    "Wir wissen jetzt, dass der Rückgang der Geburtenrate in Europa während der 1970er, 1980er und sogar der 1990er teilweise dadurch verursacht wurde, dass Frauen und Männer das Kinderkriegen zunehmend aufschoben."

    Das Gleiche gelte für den beobachteten Anstieg der Geburtenrate, sagt der Forscher vom Vienna Institute of Demography. Auch er sei vor allem darauf zurückzuführen, dass Frauen das Kinderkriegen nicht mehr so stark aufschieben. Um das zu verstehen, muss man wissen, wie die Geburtenrate üblicherweise berechnet wird. Die Statistiker betrachten dafür ein einzelnes Kalenderjahr. Grundlage der Berechnungen sind die Kinderzahlen von Frauen einer bestimmten Altersgruppe, also von 16-Jährigen, 17-Jährigen und so weiter. Diese Kinderzahlen werden durch die durchschnittliche Zahl aller Frauen der jeweiligen Altersgruppe geteilt. Das Ergebnis wird dann für alle Frauen im gebärfähigen Alter addiert. Heraus kommt die konventionelle zusammengefasste Geburtenziffer. Doch diese Zahl wird durch verschiedene Faktoren verzerrt – allen voran durch den sogenannten Tempoeffekt.

    "Entscheidet sich zum Beispiel eine Frau dafür, nicht im Jahr 2012 ein Kind zu bekommen, sondern noch ein Jahr zu warten bis 2013, ist es immer noch wahrscheinlich, dass sie es auf die Welt bringt.. Aber die Tatsache, dass die Frauen das Kinderkriegen immer weiter aufschieben, bedeutet, dass diese Kinder im Jahr 2012 fehlen – und die konventionelle zusammengefasste Geburtenziffer auf ein niedriges Niveau sinkt."

    Da Frauen in den meisten europäischen Ländern seit den 1970er-Jahren das Kinderkriegen Jahr für Jahr weiter nach hinten verschoben, sank die konventionelle zusammengefasste Geburtenziffer kontinuierlich. Erst seit dem Jahr 2000 verlangsamte sich der Trend zum späteren Kind. Der Tempoeffekt verlor an Gewicht, die Geburtenziffer stieg. Demografen haben verschiedene Methoden entwickelt, um solche Verzerrungen zu minimieren. Um den Tempoeffekt herauszurechnen, schauen sie sich die durchschnittliche Veränderung des Gebäralters an und rechnen diese Werte ein. Tomáš Sobotka und seine Kollegen haben die Berechnungsmethoden weiter verfeinert.

    "Einfach gesagt, beinhaltet diese neue Methode zur Bestimmung der Geburtenrate zwei zusätzliche Schritte. Zunächst wird mit einbezogen, wie viele Frauen es in jeder Altersgruppe gibt, und wie viele Kinder sie jeweils haben. Somit wird nicht einfach die Geburtenrate in verschiedenen Altersstufen für alle Frauen berechnet, sondern wir berücksichtigen, ob eine Frau vorher kinderlos war und jetzt das erste Kind bekommt, oder ein Kind hat und nun ein zweites etc. Zusätzlich wird versucht, den Tempoeffekt herauszurechnen."

    Sobotka wendete seinen neuen Indikator auf zwölf europäische Länder an. Dort hatten die herkömmlich berechneten Geburtenraten bis zum Jahr 2000 stetig abgenommen, um dann wieder anzusteigen. Er konnte zeigen, dass das Auf und Ab vor allem statistische Gründe hatte. Tatsächlich sei die Geburtenrate zwischen 1996 und 2008 weitgehend stabil geblieben.

    "Wir fanden heraus, dass die Geburtenraten um das Jahr 2000 wesentlich höher lagen als die konventionelle zusammengefasste Geburtenziffer zeigte. Folglich fällt auch der Anstieg der Fertilität nach dem Jahr 2000 deutlich geringer aus, wenn wir den neuen Indikator verwenden."