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Eine Stimme von zu vielen

Agu ist ein afrikanischer Junge, der in einem zeitlich und geografisch nicht näher festgelegten Bürgerkrieg zwangsweise zum Kindersoldaten gemacht wird. Das schockierende Thema der Kindersoldaten, die ja beides zugleich sind, Täter und Opfer, wird teilweise auf recht schlichte Art behandelt: Es taugt sehr gut zu Effekthascherei, und natürlich auch zu Projektionen darüber, was wildgewordene Afrikaner zu tun imstande sind. Der Debütroman Uzodinma Iwealas hebt sich von entsprechenden Büchern und Filmen wohltuend ab. Sein Buch ist keine Betroffenheitsprosa, es passt sich nicht an westliche Erzählweisen und Projektionen an.

Von Sabine Peters | 23.05.2008
    Uzodinma Iweala wurde 1982 in den USA geboren, er wuchs dort und in Nigeria auf. Das heißt, er gehört beiden Kulturen an und lebt auch nach wie vor in beiden Ländern. Sein Roman mit dem Titel "Du sollst Bestie sein" ist vollständig aus der Innenperspektive des Kindersoldaten Agu geschrieben. Der Leser kann also nicht auf entlastende Distanz gehen, er erlebt die verstörenden Räusche und Zusammenbrüche Agus fast hautnah mit.

    Die moralische Frage, ob "man" sich in einen Menschen mit extremen Lebenserfahrungen überhaupt einfühlen "darf", wird immer wieder heftig diskutiert. In diesem Zusammenhang sei etwa an Dorothea Dieckmann erinnert, die sich in ihrem Roman "Guantanamo" in die Figur eines dort gefangenen Häftlings versetzte und damit teilweise Empörung auslöste. Weder Dieckmann noch Iweala haben persönliche Erfahrungen mit ihren Themen. Aber natürlich haben beide sorgfältig recherchiert; Iweala arbeitete längere Zeit an Forschungsprojekten zum Thema Kindersoldaten mit. Darüber hinaus soll hier noch einmal festgehalten sein: Es kann in einem gelungenen literarischen Text eine "Wahrheit" geben, die nicht von einer klar umrissenen Position überzeugen will, sondern vor allem durch ihren eigenartigen Vorgang des Tastens Glaubwürdigkeit erreicht.

    So ist es in dem Roman "Du sollst Bestie sein". Das Buch beginnt mit dem unsanften Erwachen Agus, der versucht, sich zurechtzufinden. Er riecht Regen und Schweiß, er hört Männergebrüll, er fühlt Schläge und Tritte; er sieht sich umringt von Soldaten, die ihn vor die Alternative stellen, Soldat zu werden oder zu sterben. Damit ist er im Geisterland angekommen oder in der Hölle. Erst in kleinen Rückblenden erfährt man, dass er gerade lesen gelernt hatte und von den Eltern christlich erzogen wurde. Agu war ein ganz normales, eigentlich sogar ein glückliches Kind. Die bruchstückhafte Erinnerung an diese Zeit taucht in seinem Monolog aber nur noch wie ein ungläubiges Staunen auf. Als sei der eigenen Vergangenheit nicht zu trauen. In der Gegenwart, als Soldat im Bürgerkrieg, wo es nur "den Feind" und "uns" gibt, kann er sich als Kind nicht mehr wahrnehmen, er verliert den Kontakt zu sich selbst.

    Iweala stellt diese wachsende Entfremdung des Jungen von sich selbst in einer Sprache dar, die an der Oberfläche einfach oder restringiert zu sein scheint: Bestimmte und unbestimmte Artikel fehlen, die Syntax ist unvollständig, man hört Unbeholfen-Kindliches. Man hört auch Comic-Sprache, Pidgin-Elemente, den Tonfall von Märchen und Legenden, fremdartige Metaphern - und all das, poetisch verdichtet, wird zu einer beeindruckenden Kunstsprache. Die Schönheit der Sprache macht dieses Buch für seine Leser allerdings nicht erträglich, sie steigert den Schrecken.

    Der Kommandant selbst führt Agus Hand, als der Junge seinen ersten Mord an einem hilflosen Erwachsenen begeht. Die hungernden, geschwächten Kinder werden unter Drogen gesetzt und lernen, das Morden sei nichts anderes, als ob man eine Ziege töte. Oder: Es sei so etwas wie Verliebtsein. Die Kinder lernen weiter, beim Menschenschinden und Menschenabschlachten zu lachen. Der moralische Konflikt, den Agu in den seltener werdenden wachen Momenten erlebt, zerreißt ihn fast. Ist er ein "böser Junge", wie die Mutter sagen würde? Sind er und seinesgleichen Bestien? Das darf nicht wahr sein. Er ist ja auch gar kein Junge mehr, er ist Soldat und muss killen, wie David den Goliath aus der Bibel. Dabei ist es besser, nicht an Religion, an Gott und die Gebote zu denken. Denn er ist jetzt und hier in der Hölle.

    Die Gewaltorgien, an denen Agu teilnimmt, werden von Iweala gnadenlos genau, unter Einbeziehung aller Sinne beschrieben. Der Leser muss sehen, dass das Fleisch einer ermordeten Frau im Baum hängt. Er hört das Geräusch, wenn Kinder auf dem Brustkorb eines Mädchens, ach was, eines "Feindes" herumspringen. In schwer erträglicher Comicsprache kommentiert Agu: "KAWUDD, KAWUDD, KATSCHAKK" - das geht so lang, bis nur noch Blut aus dem Mund des Mädchens kommt.

    Es bleiben in diesem Roman rudimentäre Reste von Menschlichkeit und von Aufbegehren: Agu hat unter den Kindersoldaten einen Freund, der wie er selbst vom Kommandant vergewaltigt wird und den er schützen möchte. Oder: Er hat das Gefühl, das Gewehr auf seinem Rücken sei sein Beherrscher und sein Besitzer, er sei nur Diener des Gewehrs. Er will es mehrfach wegwerfen - aber dann wird der Kommandant i h n wegwerfen. Iweala lässt den Jungen schließlich in ein christlich geführtes Heim kommen, wo er und seinesgleichen versorgt und auch therapeutisch begleitet werden. Aber ob und wie es sich mit dem Trauma der Gewalt weiter leben lässt, bleibt offen.

    In einem Interview sagte Iweala auf die Frage, warum er zum Thema Kindersoldaten geschrieben habe, sinngemäß: Er habe nicht beim passiven Entsetzen stehenbleiben wollen. Der Vorgang des Schreibens sei seine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema gewesen. Iweala hält den USA vor, Afrika zwar nicht zu hassen, aber zu vernachlässigen. Denn Stabilität in Afrika sei für Amerika kein ökonomischer Imperativ. Der Vorwurf trifft natürlich ebenso auf die Europäer zu; er trifft alle politischen und ökonomischen Institutionen, die mit Rüstungsexporten gute Geschäfte machen, aber im Vergleich dazu nur beschämende Summen für Frieden schaffende Maßnahmen ausgeben.

    Soll man dem Roman "Du sollst Bestie sein" vorhalten, dass er nicht konkrete Verursacher in einem konkreten Bürgerkrieg nennt, dass er von denen schweigt, die an entsprechenden Kriegen profitieren? Es gibt aber zu diesem Thema eine ganze Reihe von Sachbüchern und Untersuchungen, etwa von Amnesty International. Der Wert von Iwealas Buch besteht darin, die globale, universale Situation der Kindersoldaten auf überzeugende Weise in die Literatur gehoben zu haben. Iweala hat zahllosen Kindersoldaten eine Stimme gegeben.

    Uzodinma Iweala: Du sollst Bestie sein! Roman.
    Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay.
    Ammann, Zürich 2008, 157 Seiten, 18,90