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Eine unbekannte Frau dem Vergessen entrissen

Dora Lux war eine Studienrätin in der Weimarer Republik. Die Nazis erteilten ihr 1933 Berufsverbot, sie tauchte unter. Nach dem Krieg unterrichtete sie Hilde Speer, Tochter von Hitlers Vertrautem Albert Speer. Diese - heute heißt sie Hilde Schramm - hat nun das Leben von Dora Lux erforscht - in einer Biografie.

Von Otto Langels | 16.07.2012
    "Ich war damals 17, und das war zwei Jahre vor dem Abitur. Sie hat mir außerordentlich gefallen als alte Dame mit einem verschmitzten Lächeln, aber mit sehr großer Klugheit und vielleicht sogar Weisheit, die einen Unterricht – heute würde ich sagen – gegen den damaligen Zeitgeist machte",

    erinnert sich Hilde Schramm heute an Dora Lux, ihre frühere Geschichtslehrerin an der Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg. Hilde Schramm ist die älteste Tochter von Hitlers Architekten und Rüstungsminister Albert Speer, im Nürnberger Prozess als Kriegsverbrecher verurteilt. Ihre Herkunft zwang ihr, wie sie in der Einführung zu ihrer Biografie über Dora Lux schreibt, eine frühe und nicht abschließbare Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf. Wohl nicht zuletzt rührt daher ihr Interesse an Dora Lux.

    "Sie war eine NS-Verfolgte insofern, als sie Berufsverbot hatte seit 1933, kontinuierlich, und sie hatte das Berufsverbot, weil sie eine Jüdin war. Präsent war auch, dass sie die Zeit des Nationalsozialismus in ihrem ansonsten herausragend guten Geschichtsunterricht nach meiner Einschätzung so gut wie gar nicht thematisierte und ich das Gefühl erinnere, froh darüber gewesen zu sein, weil ich mich dadurch geschont fühlte."

    Was damals über Dora Lux' Leben während der NS-Zeit nicht zur Sprache kam, hat Hilde Schramm Jahrzehnte später durch umfangreiche Recherchen zu ergründen versucht; wobei die Autorin ihre kenntnisreiche Darstellung wohlweislich nicht als Biografie, sondern als Nachforschungen bezeichnet. Denn die habilitierte Erziehungswissenschaftlerin durchbricht die biografische Skizze immer wieder durch längere theoretische Ausführungen, zum Beispiel zum Bildungswesen, zu den Zulassungsbeschränkungen für Frauen an Universitäten oder zum Geschichtsunterricht.

    Hilde Schramm schreibt in einem nüchternen, sachlichen Ton, als wolle sie der Zuneigung für Dora Lux nicht zu viel Raum geben. Sie erzählt einfühlsame Details aus dem Leben ihrer einstigen Lehrerin, nennt sie jedoch distanziert "Frau Dr. Lux". Sie klammert ihre eigene Biografie bewusst nicht aus, streut aber nur vereinzelt persönliche Bemerkungen ein. Dora Lux, 1882 als Dora Bieber in der Provinz Posen geboren, kam als Neunjährige mit ihrer Familie nach Berlin, wo sie 1901 das Abitur ablegte.

    "Das ist sehr, sehr früh. Nach meiner Berechnung gehört sie zu den 50 ersten Abiturientinnen in ganz Deutschland; und dann, das ist vielleicht noch schwieriger gewesen damals, erstes und zweites Staatsexamen für's höhere Lehramt zu machen. Das hat sie geschafft, mit vielen Widerständen, die es zu überwinden gab, und Zurückweisungen: Da gehört sie zu den ersten neun Frauen, die in ganz Deutschland diese volle akademische und schulpraktische Ausbildung für Gymnasiallehrerinnen gemacht hat."

    Außerdem promovierte sie in München, als zweite Frau an der Philologischen Fakultät und als vierte Frau in ganz Deutschland in klassischer Philologie. Es sagt einiges über Dora Lux' Selbstbewusstsein, dass sie sich in einer Zeit an der Universität behauptete, als Professoren Studentinnen als exotische Wesen betrachteten. Sie arbeitete als Gymnasiallehrerin, heiratete 1915 den Sozialisten Heinrich Lux und bekam zwei Kinder. Dennoch schaffte sie es, Familien- und Berufsleben zu vereinbaren, bis sie 1933 fristlos entlassen wurde - wegen ihrer jüdischen Herkunft. Ihre Eltern waren zum Christentum übergetreten, Dora Lux selber bekannte sich zum Freidenkertum, dennoch galt sie nach den Rassekriterien der Nazis als Jüdin. Doch sie weigerte sich, sich einen Strick um den Hals zu legen, wie sie selbst sagte.

    "Sie hat sich keine Kennkarte geholt, mit "J" gestempelt, der Name hieß Judenkennkarte und war für alle Juden unbedingte Pflicht, wurde hoch geahndet, wenn man das nicht befolgte, diese gesetzliche Anordnung. Und sie hat sich den Zwangsvornamen Sara nicht geholt, das gehörte auch zu den Registrierungsmaßnahmen bei der Meldebehörde."

    Es sei weniger ein Zeichen bewussten Widerstands, sondern ein Akt der Selbstachtung gewesen, vermutet Hilde Schramm, dass Dora Lux sich von den Nazis nicht als Jüdin abstempeln lassen wollte. Die emanzipierte, freiheitsliebende und mutige Frau lebte ihr Leben weiter wie zuvor und verwendete bei Kontrollen einen Postausweis ohne aufgedrucktes "J".

    Zugute kam ihr, dass der Verfolgungsapparat der Nazis nicht perfekt funktionierte und sie zum Beispiel nicht in der jüdischen Gemeinde Berlin registriert war. Dennoch ging Dora Lux ein lebensgefährliches Risiko ein, denn wenn die Gestapo ihre jüdische Herkunft aufgedeckt hätte, wäre sie deportiert worden. Ob sich viele Verfolgte auf diese Weise dem Zugriff der Nazis entziehen konnten, ist noch nicht näher untersucht worden.

    Hilde Schramm ist bei ihren Nachforschungen auf zwei vergleichbare Fälle gestoßen. Dora Lux ließ sich auch in ihren politischen Äußerungen nicht einschüchtern. Sie publizierte in der Zeitschrift "Ethische Kultur" noch nach 1933 Artikel, in denen sie zum Beispiel Schriftsteller würdigte, deren Bücher die Nazis öffentlich verbrannt hatten.

    "Daneben gibt's aber auch Artikel, in denen sie sie wirklich empört über die ungeheuer schnelle Anpassung zum Beispiel der Medien an die NS-Vorgaben. Oder es gibt Artikel, in denen sie einfordert, dass die Minderheiten und die Regimegegner nach dem Völkerrecht, Menschenrecht behandelt werden."

    Nach 1945 arbeitete Dora Lux wieder als Lehrerin, sie unterrichtete bis wenige Jahre vor ihrem Tod in Heidelberg. 1949 stellte sie einen Antrag auf Wiedergutmachung für zwölf Jahre Berufsverbot. Die Behörden brauchten vier Jahre, um ihre Ansprüche zu prüfen und bewilligten schließlich 4734 Mark als Entschädigung. Dora Lux starb 1959 im Alter von 76 Jahren.

    Eine ungewöhnliche und bemerkenswerte Frau bot der Welt, wenn nötig, in ruhiger Selbstverständlichkeit die Stirn, lautet Hilde Schramms Resümee. Mit ihrem Buch hat sie eine unbekannte Frau dem Vergessen entrissen und ihr ein Denkmal gesetzt.

    Hilde Schramm: "Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux: 1882-1959. Nachforschungen."
    Rowohlt Verlag,
    432 Seiten, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3-498-06421-1