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"Eine Verfassung schüttelt man nicht aus dem Ärmel"

Mit Blick auf die mögliche Verlagerung von nationalen Kompetenzen an Europa hält Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) die Diskussion über eine deutsche Verfassungsänderung für demokratisch sinnvoll. Für eine Änderung des deutschen Grundgesetzes brauche man ein paar Jahre Zeit, mahnt Thierse.

Das Gespräch führte Bettina Klein | 27.06.2012
    Bettina Klein: Zum Wochenende hin baut sich noch mal eine erhebliche Spannung auf in Berlin und Brüssel in Sachen Europapolitik. EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag, danach (ungewöhnlich genug) um 17 Uhr eine weitere Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, danach Abstimmung über Fiskalpakt und den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM in Bundestag und Bundesrat. Und wenn alles glatt über die Bühne geht, dann verspricht das erst mal ein ruhiges Wochenende für alle Beteiligten, aber dennoch: Ungeachtet dessen herrscht Unsicherheit in der Hauptstadt – insofern, als zwar die Gesetze mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden könnten, andererseits innerhalb der Fraktionen bereits von dem einen oder anderen Abgeordneten Klagen geschrieben werden. Ob die Erfolg haben, was Karlsruhe in diesen Fällen dazu sagen wird, das ist die große Unbekannte.
    In diesem Zusammenhang ist ein alter Bekannter in der Debatte zurück.

    "Artikel 146: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

    Klein: Artikel 146 war heftig im Gespräch im Zuge der Wiedervereinigung, seitdem war lange nicht mehr die Rede von ihm. Erst als sich jemand doch noch mal das Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag gründlich vorgenommen hatte, fiel auf, was da stand. Abgesehen von den klaren Grenzen für eine weitere Kompetenzverlagerung nach Brüssel, war dort auch sinngemäß der Hinweis zu lesen, wenn die Europapolitik mit diesem Grundgesetz nicht mehr umsetzbar sei, könne sich das deutsche Volk ja schließlich eine neue Verfassung geben, gemäß Artikel 146 – eigentlich nur eine Erinnerung, denn diese Möglichkeit steht ja eben ohnehin im Grundgesetz. - Unter anderem darüber möchte ich jetzt sprechen mit Wolfgang Thierse (SPD), Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Herr Thierse, brauchen wir jetzt und sofort eine neue Verfassung nach Artikel 146?

    Thierse: Ich glaube nicht, und selbst wenn es Menschen gäbe, die der Meinung wären, dass man sie bräuchte, dann würde das ja nicht so schnell gehen, denn eine Verfassung schüttelt man nicht aus dem Ärmel, die muss intensiv ausgearbeitet werden und sie muss vor allem – und das ist der eigentliche demokratische Sinn – dann breit diskutiert werden, und dazu braucht man ein paar Jahre Zeit, denke ich.

    Klein: Gehen Sie denn zunächst mal davon aus, dass das, was in dieser Woche noch beschlossen werden wird von Bundestag und Bundesrat, sich auf dem Boden des Grundgesetzes noch befindet?

    Thierse: Also ich beziehe mich auf den Artikel 23, in dem ja ausdrücklich steht, dass zur Verwirklichung eines vereinten Europas die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirken kann und dass dann, wenn es dabei zu Regelungen kommt, die das Grundgesetz berühren, die Regelungen eines anderen Artikels greifen, nämlich dass dazu eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist. Ob nun für Fiskalpakt und ESM diese zwei Drittel notwendig sind, dazu habe ich höchst unterschiedliche Meinungen von Juristen gehört, und deswegen verstehe ich, dass man sich gewissermaßen darauf einigt, um auf der sicheren Seite zu sein, wäre es gut, wenn wir diese Zweidrittelmehrheit jeweils im Bundestag bekämen.

    Klein: Und Sie gehen auch davon aus, dass die zustande kommen wird?

    Thierse: Also ich nehme es an. Wenn ich das richtig höre, dass CDU, FDP, SPD, Grüne in ihrer riesigen Mehrheit dafür stimmen, dann ist das eine sehr deutliche Zweidrittelmehrheit. Das schließt ja nicht aus, dass hinterher dabei geklagt wird; das wissen wir ja, dass es diese Klagen gibt und dass das Bundesverfassungsgericht das prüft.

    Klein: Sollte Karlsruhe zu der Erkenntnis kommen, dass das so mit der Verfassung nicht geht, was dann? Dann treten wir sofort ein in eine neue Verfassungsdebatte, die dann in einen Volksentscheid über eine neue Verfassung, ein neues Grundgesetz münden wird?

    Thierse: Das ist nicht ganz realistisch. Ich sage es noch einmal: So eine Verfassungsänderung oder gar eine neue Verfassung kann man nicht aus dem Ärmel schütteln. Ich glaube, man muss anders denken. Wenn in der weiteren Entwicklung der Europäischen Union – und die Krisenbewältigung, wir haben sie ja noch lange nicht bewältigt, weist darauf hin, dass wir eigentlich mehr Europäische Union brauchen, mehr gemeinsame Politiken -, wenn man eine gemeinsame Währung hat, dann liegt es doch in deren zwingender Logik, dass man gemeinsame Fiskalpolitik, gemeinsame Währungspolitik, gemeinsame Haushaltspolitik immer mehr vereinbaren muss. Und wenn das dann in eine Richtung geht, die deutlich mehr Kompetenzen vom Deutschen Bundestag nach Europa verlagert, dann wird man über eine solche Verfassungsänderung sehr grundsätzlicher Art neu diskutieren werden. Aber dann finde ich es auch gut. Wir müssen in Deutschland wirklich intensiv darüber debattieren, was unsere Zukunft in Europa und was die Zukunft der Europäischen Union mit Deutschland zusammen sein soll. Da können wir uns nicht mehr davor drücken, das ist immer mehr als politische Technik, und deswegen sage ich, der Gedanke daran, dass wir in Bälde – ich weiß nicht wann, ob in zwei, drei oder fünf Jahren – über eine solche Verfassungsveränderung grundlegender Art debattieren müssen, ist eine demokratische Chance auch für die Debatte über die europäischen Perspektiven Deutschlands.

    Klein: Also ich verstehe Sie schon richtig, dass Sie schon das für die Zukunft halten werden, dass an dieser Debatte über eine neue Verfassung und am Ende dann auch tatsächlich eine neue Verfassung zu erlassen kein Weg vorbeiführen wird, in den nächsten Jahren zumindest?

    Thierse: Ich will das nicht so ausschließen, aber ich bin kein Prophet, ob daran kein Weg vorbeiführt. Aber ich halte es nicht für unwahrscheinlich und ich halte es sogar demokratisch für sinnvoll, dass wir diese Debatte führen, denn jetzt haben doch viele Menschen in Deutschland den Eindruck, also die reden da über alle möglichen technischen Tricks, wie da eine Währungskrise, eine Finanzmarktkrise bewältigt wird, und es gibt eine ganz tiefe Verunsicherung, wie weit belastet uns das. Bisher war man gewohnt, dass die EU gewissermaßen eine Zugewinngemeinschaft ist für die beteiligten Länder; jetzt bemerken sie, sie muss auch eine Lastenausgleichs-, eine Solidargemeinschaft sein, das ist schmerzlich. Aber diese Debatte zu führen und sich nicht mehr davor zu drücken, das ist, glaube ich, notwendig, und wenn dazu eine Verfassungsdebatte dient, dann halte ich das für sinnvoll.

    Klein: Aber, Herr Thierse, auf der anderen Seite: Wir debattieren ja eigentlich seit Jahren auch öffentlich, auch hier auf diesem Sender, es wird immer wieder erklärt, wir brauchen, wir müssen wahrscheinlich mehr Kompetenzen nach Europa verlagern, wir müssen neue politische Fundamente schaffen. Also es wird gesprochen, es wird diskutiert. Was fehlt da noch? Fehlt tatsächlich eine Volksabstimmung schon relativ bald, wie es ja auch Wolfgang Schäuble angeregt hat?

    Thierse: Na ja, der hat keinen Termin genannt und so eine Volksabstimmung jetzt, wo es darum geht, möglichst schnell Krisenbewältigungsmechanismen in Kraft zu setzen, ESM, Fiskalpakt, also die wechselseitige Verpflichtung der Mitglieder der Europäischen Union zu mehr Haushaltsdisziplin, gewissermaßen nach dem Muster der deutschen Schuldenbremse, das eine muss schnell passieren. Es hilft nichts, es muss schnell passieren. Und das andere müssen wir uns ernsthaft vornehmen, weil ich nicht glaube, dass mit diesen Dingen, die wir diese Woche verabschieden, dauerhaft die Krise bewältigt ist. Also: Schritte zu mehr europäischer Integration müssen in unserem Volke ganz anders und ernsthaft und konsequenzreich debattiert werden und nicht sozusagen nur überlassen werden den Spezialisten, den Juristen, den politischen Technikern.

    Klein: Wenn wir noch mal schauen auf die Möglichkeit einer neuen Verfassungsgebung nach Artikel 146. Ist es so einfach und ist es angeraten, auf das bewährte Grundgesetz, was als einer der großen Erfolge der Nachkriegsgeschichte ja gilt, zu verzichten? Man hat, als es um die deutsche Wiedervereinigung ging – ja auch aus anderen Gründen natürlich, aber damals auch – gesagt, rüttelt nicht am Grundgesetz. Ist das auch mit Gefahren verbunden?

    Thierse: Das ist mit Gefahren verbunden und es gibt ja auch Teile des Grundgesetzes, die nicht änderbar sind, der Grundrechtsteil zum Beispiel. Der ist etwas besonders Kostbares, und ich glaube nicht, dass irgendjemand bereit ist, abgesehen davon, dass das auch rechtlich ganz schwierig ist, verfassungsrechtlich, daran etwas zu ändern. Also es ist schon gut, dass wir unser Grundgesetz verteidigen. Aber es ist die Frage, ob wir – das muss Gegenstand der Diskussion sein – den bisherigen Artikel 23, andere Artikel, wo es um die hoheitlichen Rechte des Staates und seiner Organe geht, ob wir dort tatsächlich so eingreifende Veränderungen vornehmen müssen, dass es sich wirklich um ein qualitativ anderes Grundgesetz handelt.

    Klein: Es gibt warnende Stimmen, Herr Thierse, Entschuldigung, die sagen, passt bloß auf, diese Büchse der Pandora zu öffnen, wenn wir die Verfassungsdiskussion beginnen, dann werden Forderungen nach allem Möglichen entstehen und das wird uferlos sein, und ein Grundgesetz kann nicht alle Gesetze beinhalten.

    Thierse: Das ist ohne Zweifel richtig, wie man ja sieht. Der Artikel 23 ist aufgebläht, das ist der Europa-Artikel, das nähert sich schon fast einer normalen gesetzlichen Regelung, was dort alles vereinbart worden ist. Deswegen sage ich ja, ein neues Grundgesetz zu schaffen, darüber eine Volksabstimmung herbeizuführen, ist viel, viel schwieriger als diejenigen, die das jetzt leichthin fordern. Deswegen sage ich, jetzt das so ganz schnell mal zu machen, geht nicht. Wir haben ja damals nach der deutschen Einheit auch darüber gesprochen, Beitritt nach Artikel 23, oder brauchen wir 146, und wir haben uns für 23 entschieden aus einem pragmatischen Grund, weil wir nicht zugleich die deutsche Einheit vollziehen konnten und ihre Probleme möglichst schnell bewältigen konnten und dabei noch eine neue Verfassung schaffen sollten. Und wenn man am Grundgesetz nur wenig ändert, dann ist auch eine Volksabstimmung über die paar Änderungen des Grundgesetzes nicht unbedingt sinnvoll. Man stelle sich vor, an dieser Volksabstimmung nehmen nicht genügend teil, dann wird unser Grundgesetz nicht neu legitimiert, sondern eher delegitimiert.

    Klein: Also eine Menge von Fragen, deswegen plädiert Wolfgang Thierse für mehr Zeit, wenn es denn zu einer neuen Verfassungsdebatte kommen soll. – Das war der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse (SPD). Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Thierse: Gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.