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Eine verkappte moralische Geschichte

Ausgangspunkt des neuen Romans der Britin Sadie Jones ist die Feier des 20. Geburtstags von Emerald Torrington. Der Abend nimmt einen anderen Verlauf als erwartet, weil ein Zugunglück unerwartete Gäste ins Haus bringt.

Von Michael Schmitt | 01.02.2013
    "Der ungeladene Gast" spielt in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und ein dem Adel nachempfundenes Leben auf dem Land ist eigentlich nicht mehr ganz zeitgemäß oder gar selbstverständlich. Neben dem Unternehmer tritt auch noch eine Cousine auf, die als Studentin eingeschrieben ist, statt nur an Pferde zu denken; weiterhin erscheint ein Cousin, der als angehender Mediziner Statur hat, aber durch seine spröde Art vor der großzügigen Fassade zunächst nur blass und unscheinbar wirkt. Aber: Aus all diesen Kontrasten macht die Autorin jedoch viel zu wenig, lässt sich auf die meisten Figuren niemals richtig ein, sondern setzt, je weiter die Geschichte voranschreitet, immer mehr auf eine wenig plausible und genauso fahrig und halbherzig inszenierte Schauergeschichte.

    Was könnte aus einer schönen Frau vom Zuschnitt der "Kameliendame" werden, wenn sie nicht im Unglück und in jungen Jahren sterben müsste, so wie in Alexandre Dumas Erfolgsroman gleichen Titels von 1848 und in der Oper "La Traviata", die Giuseppe Verdi nach dieser Vorlage komponiert hat? Wenn sie nicht wie die fiktive Marguerite Gautier im Roman und wie die wirkliche Marie Plessis, die Dumas als Vorbild diente, eine Pariser Prostituierte gewesen wäre? Wenn sie statt dessen eine unbemittelte junge Frau im London des späten 19. Jahrhunderts gewesen wäre, die ihre Liebesdienste im Kreis von Bohemiens und Künstlern, im Umfeld von Bloomsbury anbieten musste, dabei aber nicht zugrunde ging, sondern mit etwa vierzig Jahren in zweiter Ehe als Gattin eines erfolgreichen Anwalts und als Mutter von drei Kindern auf einem allerdings völlig überschuldeten Landsitz leben könnte? Wenn also alles ein wenig prosaischer, aber auch weniger dramatisch gekommen wäre?

    In Sadie Jones' neuem Roman "Der ungeladene Gast" wird an einer Stelle direkt auf Marguerite Gautier, die "Kameliendame", angespielt, also darf man dieser Spur beim Lesen guten Gewissens folgen. In ihrem Roman heißt die Dame Charlotte, ihre Kinder sind zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren alt, und sie liebt ihren Mann, der seinem bürgerlichen Beruf in der Stadt nachgehen muss. Aber wollte die britische Schriftstellerin, die durch drei Romane bekannt genug geworden ist, um vom Verlag als potenzielle Bestsellerautorin angepriesen zu werden, tatsächlich eine britisch-unterkühlte Version der Vorlage abliefern? Vielleicht sogar eine Ironisierung? Man könnte es vermuten, wenn man die vielen burlesken Episoden in Betracht zieht, die Sadie Jones in ihre Geschichte einstreut. Oder wenn man all die Zeichen deutet, die auf ein Ende der bohemienhaften oder gar landadeligen Lebensweise verweisen und statt dessen die solideren Qualitäten der bürgerlichen Existenzen und gemäßigten Temperamente herausstellen. Aber sicher sein kann man sich nicht, denn der Roman, der von einem einzigen Tag und dem darauf folgenden Morgen auf dem Landsitz und von der Geburtstagsfeier der zwanzigjährigen Tochter Emerald erzählt, bietet so viele und so schnell wechselnde divergierende Motive auf, dass er darüber auseinanderfällt und weder als Farce noch als Gesellschaftskritik überzeugt.

    Charlotte ist als labile Hausfrau und Mutter in gewisser Weise der problematische Mittelpunkt des Haushaltes, aber nicht eigentlich die zentrale Gestalt. Das ist vielmehr ihre älteste Tochter, die zwanzigjährige Emerald. Aus deren Perspektive wird das Leben der Familie geschildert, sie ist die Figur, wegen der sich die Gäste einfinden, darunter auch ein betuchter Nachbar, ein etwas derber, aber energischer junger Industrieller, der unter Umständen einen geeigneten Ehemann abgeben könnte.

    "Der ungeladene Gast" spielt in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und ein dem Adel nachempfundenes Leben auf dem Land ist eigentlich nicht mehr ganz zeitgemäß oder gar selbstverständlich. Neben dem Unternehmer tritt auch noch eine Cousine auf, die als Studentin eingeschrieben ist, statt nur an Pferde zu denken; weiterhin erscheint ein Cousin, der als angehender Mediziner Statur hat, aber durch seine spröde Art vor der großzügigen Fassade zunächst nur blass und unscheinbar wirkt. Aber: Aus all diesen Kontrasten macht die Autorin jedoch viel zu wenig, lässt sich auf die meisten Figuren niemals richtig ein, sondern setzt, je weiter die Geschichte voranschreitet, immer mehr auf eine wenig plausible und genauso fahrig und halbherzig inszenierte Schauergeschichte.

    Denn die Geburtstagsfeier, für die alles aufgeboten wird, was die Vorratskeller des verarmten Hauses hergeben, wird empfindlich gestört, als im Haus telefonisch die Nachricht von einem Eisenbahnunglück mit vielen Toten und Verletzten eintrifft und man die Familie auffordert, die überlebenden Fahrgäste, für die in der Nacht niemand mehr sorgen könne, so lange zu beherbergen, bis die Bahn für ihren Weitertransport sorgen werde. Und dann kommen diese Fahrgäste wirklich und in großer Zahl, sämtlich - mit einer mysteriösen Ausnahme - Menschen aus der dritten Klasse, also arme Leute, frierend, verstört, wie Schatten, fast schon wie Zombies. Und weil sie eigentlich nur stören, weil man nichts mit ihnen anzufangen weiß, werden sie gewissermaßen in einem Raum des Anwesens abgestellt, ohne dass die Festgesellschaft sich Sorgen darüber macht, ob man die ungebetenen Gäste nicht doch mit Matratzen, mit Verpflegung und anderen Handreichungen versorgen müsste.

    Bis die Familie und ihre Gäste sich eines Besseren besinnen, vergeht viel Zeit, in der auch an der festlich gedeckten Tafel nicht alles glattgeht, denn einem der Gäste gelingt es, den Speisesaal zu betreten und sich dort einzunisten - ein zynischer, unangenehm direkter, ein wenig faustisch charakterisierter Mann, der anfangs tändelnd, zuletzt sehr direkt Charlottes Vergangenheit kundtut und damit die Feier endgültig ruiniert. Die gute Gesellschaft hat also nicht nur ein Problem im Hinterzimmer, sondern auch eines mit sich selbst. Am nächsten Morgen sind die ungebetenen Gäste zwar alle weg, aber die schöne Fassade ist hin, weil die Vergangenheit von Charlotte ans Licht gezerrt worden ist.

    Sadie Jones erzählt eine verkappte moralische Geschichte, versucht sich an einem Wirbel, dessen genaue Auflösung hier nicht verraten werden soll. Und man würde dabei gerne mitlachen wie bei einer Komödie oder große Gefühle spüren wie bei Dumas oder Verdi, aber das alles wirkt leider viel zu angestrengt, um amüsant zu sein, und zu durchsichtig, um zu rühren. Viel Lärm um nichts könnte man sagen, wenn man Shakespeare durch diese Assoziation nicht ein klein bisschen Unrecht tun würde.

    Sadie Jones: "Der ungeladene Gast"
    Deutsch von Brigitte Walitzek,
    Deutsche Verlagsanstalt, München 2012,
    318 Seiten