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Eine verstörende Begegnung

"El Negro" von Frank Westerman beginnt wie ein Krimi. Und tatsächlich begibt sich der niederländische Autor auf Spurensuche wie ein Kommissar, auch wenn der Tote schon 1830 gestorben ist. Aber er begnügt sich nicht mit der Vergangenheit, sein Report über den Umgang mit dem Fremden am Beispiel von "El Negro" reicht bis in die Gegenwart.

Von Gaby Mayr | 22.12.2005
    Auf dem Seziertisch wird ein 170 Jahre alter Leichnam aufgeschnitten. Zwei junge Männer stehen kalt gefroren am Straßenrand und kein Autofahrer will sie mitnehmen - schließlich hält doch einer, aber der Mann bringt sie ganz woanders hin, als sie eigentlich geplant hatten.

    "El Negro" von Frank Westerman beginnt wie ein Krimi. Und tatsächlich begibt sich der niederländische Autor auf Spurensuche wie ein Kommissar, auch wenn der Tote schon 1830 gestorben ist.

    Der Tote steht als Ausstellungsstück im naturgeschichtlichen Museum des nordspanischen Städtchens Banyoles - dorthin gelangten Westerman und sein Kumpel am Ende ihrer unerquicklichen Tramptour. Die sterbliche Hülle ist auf einen Sockel montiert, mit einem Lendentuch bekleidet, in der rechten Hand trägt sie einen Speer, in der Linken ein Schild - ein ausgestopfter Mensch, zur Besichtigung freigegeben, die Attraktion des Museums.

    Der entwürdigte Tote, der in Banyoles nur "El Negro" genannt wird, lässt Westerman nicht ruhen. Jahre später - Westerman arbeitet inzwischen als Journalist - begibt er sich auf die Suche nach der Herkunft des menschlichen Ausstellungsstückes. In seinem Buch erzählt er die Geschichte seiner Recherche und die Geschichte von El Negro: Ein französischer Präparator hatte den Leichnam gleich nach der Beerdigung ausgegraben, ausgestopft und zusammen mit in Spiritus eingelegten Reptilien und konservierten Säugetieren nach Europa verschifft. Über Paris und Barcelona gelangte der tote Afrikaner nach Banyoles am Fuß der Pyrenäen.

    Es war die Zeit naturwissenschaftlichen Entdeckungseifers in Europa, als Forscher Pflanzen und Lebewesen aus allen Teilen der Welt herbeischafften, wogen, vermaßen und ordneten. Frank Westerman vermittelt einen plastischen Eindruck vom wissensdurstigen und zugleich schamlosen Forschergeist jener Zeit. Aber er begnügt sich nicht mit der Vergangenheit, sein Report über den Umgang mit dem Fremden am Beispiel von El Negro reicht bis in die Gegenwart. Ein afrikanischer Arzt, der seit langem in Spanien praktiziert, startet eine Bewegung für die Entfernung von El Negro aus dem Museum und seine Bestattung. Die weißen Spanier wollen den Toten im Museum behalten:

    "El Negro ist unser Eigentum", erklärte ein Sprecher der Gemeinde. Er ist unsere Angelegenheit, und da hat sich niemand einzumischen." Je größer der Druck von außen wurde, desto tiefer vergruben sich die Bewohner von Banyoles. Es gab Bauarbeiter, die T-Shirts mit der Aufschrift "Hände weg von El Negro" trugen und seriöse Herren, die sich El-Negro-Anstecknadeln ans Revers hefteten. In Barcelona dekorierte einer der bekanntesten Konditoren seine Osterauslage mit einem fünf Kilo schweren El Negro aus Schokolade, woraufhin schon bald überall in Katalonien Schachteln mit El-Negro-Pralinen zu finden waren."

    Welcher Umgang mit dem Toten angemessen erscheint, hängt offenbar von der eigenen Hautfarbe, von der eigenen Position im menschlichen Universum ab.

    Diesen Eindruck verstärkt Frank Westermans zweite Geschichte. Sie handelt von seinen Erfahrungen in Ländern des Südens, wo er mit seiner weißen Haut "der Fremde" ist:

    "Ich wandte den Kopf zur Seite, und mein Blick traf die Augen einer Heizölverkäuferin. Sie streckte die rosafarbene Innenfläche ihrer Hand hinter den Kanistern und Trichtern hervor. "Huhu", rief sie. "Hello whity!" Sie sprang auf und packte einen Passanten am Handgelenk. Ohne die Augen von mir abzuwenden, machte sie ihn auf mich aufmerksam: "Da, eine Weißhaut!" Langsam wurde mir klar, dass ich hier eine Attraktion darstellte. Meine weiße Haut erregte zooartiges Aufsehen, und ich wusste nicht, was man von mir erwartete. Ein Kunststückchen? Sollte ich Grimassen schneiden?... Ich wusste, das es in Kingston so genannte no-go areas für Weiße gab. Über die ganze Stadt verstreut hingen unsichtbare Schilder: "Nur für Schwarze", und wer diesen Hinweis nicht beachtete, wurde innerhalb kürzester Zeit bis auf seine weiße Haut ausgezogen."

    Voller Idealismus war der junge Niederländer angetreten, mit Hilfe seines frisch an der Universität erworbenen Wissens Gutes zu tun, die Entwicklung voranzubringen. Was ihm völlig fehlte, waren Kenntnisse über die Menschen, denen er helfen wollte, über ihre Kultur, ihre Ängste, ihre Aggressionen.

    Bei einem Aufenthalt in Peru erfüllte er mit seinem caritativen Anliegen alle Merkmale des sogenannten "Fettholers", der nach einem Volksglauben den Menschen den Speck absaugt. Der europäische Entwicklungshelfer war seines Lebens nicht mehr sicher.

    Indem Westerman die beiden Erzählstränge "El Negro in den Händen der Europäer" und "Frank Westerman im Süden" gegeneinander schneidet, erzielt er einen eindrücklichen Effekt: Das Eigene und das Fremde können überall auf der Welt zu Antipoden werden. Dank ihrer Wirtschaftsmacht haben die Weißen mehr Gelegenheit, sich rassistisch zu gebärden. Aber Menschen mit dunklerer Haut grenzen anders Aussehende ebenso aus, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet.

    Fremde als Bereicherung und nicht als Exoten oder gar als Bedrohung wahrzunehmen, ist eine kulturelle Leistung. Aber: Ist das Fremde manchmal nicht doch bedrohlich? Und welches ist der richtige Umgang mit dem Anderen? Frank Westermans Buch "El Negro" liefert wirkungsvolle Munition gegen Gewissheiten.

    Schade nur, dass er manchmal allzu breitbeinig daher kommt. Nicht wenige männliche Reporter, die in der Welt unterwegs sind, präsentieren sich und ihre Geschichte mit wichtigtuerischer Attitüde. Frank Westerman ist nicht ganz frei davon. Dabei hat er Effekthascherei wirklich nicht nötig, sein Buch ist auch so einfach gut.

    Frank Westerman: "El Negro - eine verstörende Begegnung", Übersetzung aus dem Niederländischen von Stefan Häring und Verena Kiefer, Christoph Links Verlag 2005, 240 Seiten, 22,90 Euro