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Eine wahre Geschichte

Die Nachricht, die Helmut Schmidt am Morgen des 30. August 1978 erreicht, wird dem damaligen Bundeskanzler eine schlaflose Nacht bereiten. Denn zwei bis dato unbescholtene DDR-Bürger haben ein polnisches Passagierflugzeug mit 62 Passagieren an Bord auf dem Weg von Danzig nach Schönefeld entführt und sind auf dem Flughafen in Berlin-Tempelhof gelandet.

Von Claudia Kramatschek | 30.11.2004
    Katja Siems war vierundzwanzig, als Lutz Schaper die Pistole aus dem Anorak zog und von seinem Sitz aufstand, als wollte er zum Klo. Vierundzwanzig, als sie weg ging, ausflog, flügge wurde. Ihre Geschichte ist wahr. Aber wie wollen Sie Wahrheit beweisen.

    Die Geschichte, die Antje Ravic Strubel in ihrem Roman "Tupolew 134" erzählt, ist tatsächlich eine wahre Geschichte. Eine Geschichte, die sich in ihrem Kern mit wenigen Worten zusammenfassen ließe: Ein Mann und eine Frau bringen am 30. August 1978 eine Tupolew in ihre Gewalt, nachdem ein Fluchtversuch in den Westen mit gefälschten Pässen am Bahnhof Danzig gescheitert ist. Sie landen – unter Einsatz einer Pistole, die allerdings ein Spielzeug ist – auf westlichem Boden, und bringen die Bundesrepublik, die unter Nachwirkung des Deutschen Herbstes verschärfte Sicherheitsbestimmungen zur Bekämpfung des Terrorismus eingeführt hat, innenpolitisch ins Schwitzen. Bis die Regierung auf eine elegante Notlösung verfällt und den Fall an die Amerikaner übergibt, die dafür wiederum in Tempelhof einen amerikanischen Gerichtssaal nachbauen. Schon diese wenigen Fakten aber klingen nach einer Politkomödie, wenn auch mit ernstem Hintergrund. Und Strubel ist denn auch weniger daran interessiert, den Fall noch einmal zu erzählen oder der Wahrheit in all ihren Implikationen auf die Spur zu kommen. Gereizt hat sie vielmehr die Frage, wie sich ein historisches Geschehen selbst erzählt: mit welchen Mitteln der Inszenierung die Realität an sich beschaffen ist.

    Es gibt drei Punkte in der Geschichte, die mit Inszenierung zu tun haben: Die Entführung selber funktioniert fast wie eine Komödie, könnte man sagen. Es ist eine Spielzeugpistole, die die beiden Entführer mit an Bord kriegen durch die Sicherheitssysteme, was sehr seltsam ist. Die Piloten finden relativ schnell raus, dass es eine Spielzeugpistole ist, und sind eigentlich vielleicht auch ganz dankbar, mal nach Tempelhof fliegen zu können, wo sie auch nicht so einfach hinkamen. Das andere ist, dass der Gerichtssaal originalgetreu nachgebaut wird in der Tempelhofer Flughafenhalle. Das ist auch so ein Bühneneffekt. Und das dritte ist Katja, die Hauptfigur, die sich in einen westdeutschen Ingenieur verliebt – oder auch nicht verliebt: Möglicherweise benutzt sie dieses Zeichensystem nur, .. also sie inszeniert ihre Liebe. Aber eigentlich kann man's nicht unterscheiden: also, ist es jetzt sozusagen authentisch oder gespielt.

    Tatsächlich handelt der Roman von dreierlei zugleich: von Liebe, die möglicherweise keine ist; von einer Flucht, die scheitert, weil möglicherweise Verrat mit im Spiel gewesen ist; und von den so vertrackten wie unfreiwillig komischen Verwicklungen zwischen Ost und West. Und möglicherweise auch davon, wie alles miteinander zusammen hängt: Denn Katja Siems, 1953 in Ludwigsfelde geboren und tätig in einem dort ansässigen Automobilwerk, verführt eines Tages einen westdeutschen Ingenieur namens Hans Meerkopf, den sie Monate später mit zwei gefälschten Pässen – vergeblich – in Danzig erwarten wird. An ihrer Seite aber ist auch da noch ihr Arbeitskollege Lutz Schaper, der eher wider Willen, so hat man den Eindruck, mit ihr die DDR verlässt – bis man ahnt, warum, denn vielleicht hat er – aus Eifersucht, so ist man geneigt zu glauben – den Konkurrenten aus Westdeutschland schon vorher verraten.

    Strubel lässt es bis zum Schluss des Romans bewusst auf allen Handlungsebenen offen, was Spiel, was Kalkül, was echt, was inszeniert ist. Denn die vergebliche Suche nach Wahrheit ist hier selbst formal wie ein komplexes Vexierspiel inszeniert, indem der mögliche Hergang des Geschehens aus ständig wechselnden Perspektiven und Zeitebenen immer wieder von neuem beleuchtet und damit zugleich in Frage gestellt wird:

    Der Ansatz, den Roman zu schreiben, oder vielleicht das Konzept des Romans, .. widerspricht einfach der Idee, eine gradlinige Geschichte zu erzählen. Dieses Schreiben funktioniert ja fragmentarisch. Also es gibt zentrale Szenen, auf die ich immer wieder zurück komme. Und was mich während des Schreibens interessiert hat, war dieser Moment der Konstruktion. Also man konstruiert eine Geschichte und hat unendlich viele Varianten anderer Geschichten, die man wieder dagegen setzen kann. Und damit relativiert sich natürlich die erste Geschichte und die zweite und so weiter, wie eine Kettenreaktion. So wollte ich auch diesen Text schreiben. Also eigentlich ging's darum, über Konstruktion von Geschichten zu reden, und damit auch zu sagen: dass es keinen Unterschied gibt zwischen der Konstruktion der Vergangenheit und der Konstruktion der Gegenwart.

    Drei Zeitebenen bestimmen daher zugleich auch den Roman: da ist die Vorgeschichte der Flucht, Katjas Kindheit als ein wohl exemplarisches Leben in der DDR; wir erleben die Gerichtsverhandlung im Jahre 1978, die das Geschehen selbst Revue passieren lässt; und Katja und Lutz erinnern sich 25 Jahre danach an die einstige Tat – zu einer Zeit also, da die Mauer schon lange gefallen ist und Ost und West keinen Unterschied mehr machen sollten. Im Roman heißen diese drei Ebenen oben, unten und ganz unten – und Strubel hat sie angelegt als eine Art Schacht, in dem wir als Leser zwischen Zeiten und Perspektiven beständig springen – bis klar ist, dass von der Wahrheit nichts übrig bleibt als ihre vielfache Variation. Man kann Wahrheit nicht beweisen. Man kann eigentlich nur immer Lügen entlarven, aber man hat damit immer noch nicht die Wahrheit, man hat nur den Vorgang der Entlarvung bewiesen.

    Leitmotivisch orchestriert daher auch ein Satz den Roman bis an sein Ende, wenn Katja und Lutz vom Vorwurf der Flugzeugentführung freigesprochen werden: "So könnte es jedenfalls gewesen sein." Die Realität aber, sie erscheint hier als eine fragile Erfindung, die, so heißt es im Roman, "funktioniert, weil wir daran glauben." Daher aber ist auch entscheidend, wer das Sagen über diese Erfindung hat: sprich, wer die "Hoheit des Erzählens hat", wie es Strubel im Roman formuliert. Und erst ganz zum Schluss stellt sich heraus, dass die Stimme, die quasi von ganz oben zu uns spricht und alles wie von unsichtbarer Hand dirigiert, Katjas gehört. Strubel aber verleiht ihr bewusst eine so kühle wie ironisch-distanzierte Stimme. Denn Katja entrichtet gerade nicht die Klagesuada der an den Realien des Lebens Gescheiterten, wie sie das Klischee wohl noch immer vom ehemaligen Osten suggeriert. Diese gängige Lesart wird vielmehr von ihr produktiv konterkariert, indem sie erfindet, was alles gewesen sein könnte.

    Die Idee ist eigentlich, dass mit dem Erzählen neue Möglichkeiten entstehen. Also dass sie eigentlich eine Gegenwart schafft, indem sie über diese so genannte Vergangenheit redet. Eigentlich reagiert sie mit dem Erzählen mehr auf die Gegenwart, in der sie das, was mal gewesen ist, neu schafft, als auf eine Vergangenheit, die sie irgendwie nacherzählt.

    So selbstbewusst wie Katja, zeigt sich auch Antje Ravis Strubel mit diesem Roman als eine ausgefeilte Könnerin ihres Fachs. Gekonnt und stilistisch sicher wechselt sie die einzelnen stimmlichen Register, die den drei Ebenen ihres Romans zu eigen sind, vom coolen Understatement bis hin zum bodenständigen Arbeitersjargon. Auffallend aber ist vor allem dieser Ton, der ständig mit am Klingen ist und der das einstige Sprachgefühl der untergegangenen Welt namens DDR einzufangen weiß. Strubel hat dafür aufwändig recherchiert – wie sich überhaupt dieser Roman ausgiebig aus dem Fundus ihrer einstigen Heimat speist und anschaulich und unaufdringlich zugleich eine Welt beleuchtet, die schon den eigenen Nachgeborenen als fremder Orbit erscheint.

    Diese Sachen aus heutiger Perspektive anzugucken, ist schon ziemlich strange. Allein ... dieser Sprachgestus der Leute ist einfach völlig anders. Die Mimik ist eine andere. Man kann das nur original angucken und dann weiß man ungefähr, wie es ausgesehen hat. Aber vielleicht weiß man nicht mal mehr, was es bedeutet hat. ... Es ist einfach eine völlig andere Welt. Und das war für mich einfach sehr interessant.

    Tatsächlich spürt man eine Art Forscherblick. Denn Strubel operiert mit einer Art Zoom: blendet auf, und verwischt im nächsten Bild die Sicht, und hält dabei doch ihre zappelnden Figuren in sicherer Entfernung vor die Linse des Lesers. Das ist vielleicht die einzige Falle dieser Anordnung namens Konstruktion: dass die Menschen in ihr keinen wirklichen Spielraum haben und manchmal wie Puppen in einem ihnen fremden Stück wirken. Doch vielleicht ist gerade dies der traurigste Ausdruck jener Vergeblichkeit, mit der diese Vertreter der Menschheit den eigenen Fiktionen zu entkommen suchen, in denen sie selbst gefangen sind.

    Titel: Antje Ravic Strubel: Tupolew 134. CH Beck 2004. 318 S., 19,90 Euro