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Eine Zeit des Grauens

In dem Buch "Mein Name ist Victoria. Verschleppt von der Militärjunta" erzählt Victoria Donda, heute die jüngste Abgeordnete im argentinischen Parlament, von einem Familienschicksal, das sie mit vielen Altersgenossen teilt.

Von Tini von Poser | 04.10.2010
    27 Jahre lang lebt Victoria Donda ein ganz gewöhnliches Leben: Sie wächst unter dem Namen Analía in einer Familie in Buenos Aires auf. Zwar kommt es hin und wieder zu Reibereien mit ihrem politisch konservativen Vater, denn Analía engagiert sich schon früh als linke Aktivistin. Doch insgesamt ist das Verhältnis zu ihren Eltern harmonisch und liebevoll - bis vor fünf Jahren, als das Lügengerüst wie ein Kartenhaus zusammenfällt: Sie erfährt, dass sie adoptiert ist. Ihre wahren Eltern gehörten zu den rund 30.000 politischen Oppositionellen, die während der argentinischen Militärdiktatur ermordet wurden.

    In "Mein Name ist Victoria. Verschleppt von der Militärjunta" erzählt Victoria Donda, heute die jüngste Abgeordnete im argentinischen Parlament, von einem Familienschicksal, das sie mit vielen Altersgenossen teilt: eine Altlast, an der die argentinische Gesellschaft bis heute schwer trägt und wohl noch viele Jahrzehnte tragen wird.

    Rund 30.000 Menschen sind während der Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 verschwunden. Es war eine Zeit des Grauens. Militärs verhörten politische Gegner unter Folter. Schwangeren Gefangenen wurden die Babies gleich nach der Geburt entrissen und stattdessen in Familien untergebracht, die der Regierung wohl gesonnen waren. Eines dieser damals entführten Kinder ist Victoria Donda. Sie wurde 1977 im berüchtigten Folterzentrum ESMA geboren. Als Oppositionelle waren Victorias Eltern den Militärs ein Dorn im Auge. Sie wurden verschleppt, gefoltert und schließlich im Rio de la Plata versenkt. Die zwei Wochen alte Victoria kam zu Adoptiveltern. Erst vor fünf Jahren erfuhr die heute 32-Jährige von ihrer wahren Identität:

    "Ich erinnere mich, ich war in einem Café - verabredet mit einem meiner Genossen, der Yuyo heißt, einer der Verantwortlichen unserer Partei "Libres del Sur". Und er sagte zu mir: "Kleines, ich hasse es Dir sagen zu müssen, aber Du bist nicht die Tochter Deiner Eltern." Es war, wie vier Eltern auf einmal zu verlieren und mich dann auszusöhnen mit der Zeit, aber es war, puff, hart."

    In ihrem Buch schreibt sie ihre Geschichte nieder: über den Schock, den sie zu verkraften hat, dass ihr bisheriges Leben auf einer Lüge basierte. Sie erzählt von ihrer Beziehung zu den Adoptiveltern. Von ihrem frühen politischen Engagement, das dem ihrer leiblichen Eltern zufällig sehr ähnelt: Wie sie kämpft sie gegen alles, was sie als ungerecht empfindet. Sie interessiert sich für soziale Arbeit, ist überzeugt von Ideen des Kollektivs und der Solidarität. Und sie rekonstruiert das Leben ihrer ermordeten Eltern mit Hilfe von Zeitzeugen und Schriftstücken:


    "Das erste Mal, als sie meine Mutter folterten, war mein Onkel, Adolfo Donda, im gleichen Raum, wo sie die Elektroschocks verabreichten. Den Schwangeren setzten sie die elektrischen Schläge am Bauch an."

    Im Buch beschreibt sie ihre Fassungslosigkeit: ihr eigener Onkel, der leibliche Bruder ihres Vaters, hat das Leben ihrer Mutter auf dem Gewissen:

    Donda war ein Schwergewicht, und nichts geschah ohne sein vorheriges Einverständnis. Er ließ zu, dass sie in die Krankenstation kam, wo man ihr eine Dosis Pentotal verabreichte. Und er lebte mit seinem Gewissen weiter, während der Militärlaster mit den betäubten Gefangenen zum Hafen fuhr, während man sie in die Fokker verfrachtete, die in der Nacht abhob, und während man sie über dem Rio de la Plata, so lebendig und wehrlos wie sie waren, ins Leere warf.

    Onkel Adolfo nahm Victorias ältere Schwester zu sich und indoktrinierte sie so erfolgreich, dass sie noch heute ihre biologischen Eltern für Verbrecher hält. Und Victoria hieß fortan Analía, wuchs in einem konservativen Elternhaus auf, verlebte eine ganz normale Kindheit und Jugend. Als Victoria ihre wahre Identität erfuhr, kam aber auch die Wahrheit über ihren Adoptivvater Raúl ans Licht. Auch er hatte sich die Hände während der Militärdiktatur schmutzig gemacht.

    Für mich hatte Raúl nichts mit der Diktatur zu tun gehabt, für mich war er wie ein freies Elektron und hatte einfach nur einige Jahre lang seinen unschuldigen Dienst geleistet, ehe er als Zivilist ein Gemüsehändler wurde. Aber nun musste ich die unterträgliche Wahrheit hinnehmen und begreifen, dass die geliebte Person zum feindlichen Lager gehörte und ich plötzlich und rettungslos vor einem unlösbaren moralischen Dilemma stand.

    Es ist dem unermüdlichen Kampf der "Großmütter der Plaza de Mayo" zu verdanken, dass inzwischen 100 der rund 500 der damals geraubten Kinder wiedergefunden wurden. Die heute etablierte Institution begann mit ihren Nachforschungen vor über 30 Jahren. Damals schlossen sich 14 Frauen zusammen, Victorias Großmutter war eine von ihnen. Zusammen suchen sie bis heute nach ihren Enkelkindern, die während der Militärdiktatur verschwunden waren. Analía - nun Victoria - war die 78., die von ihrer wahren Identität erfuhr. Ihre politische Arbeit hilft ihr, diese Offenbarung zu verkraften.

    "Mir hat es geholfen, dass ich schon früh politisch aktiv war. Und meine Art, wie ich das Leben sehe. Ich habe das nicht geändert. Genauso wie ich meine Freunde nicht geändert habe oder meine Neigungen. Ich bin weiterhin die gleiche Person, nur mit einem anderen Namen."

    Seit zwei Jahren sitzt Victoria Donda als jüngste Abgeordnete im argentinischen Parlament, für die linke Partei "Libres del Sur". Ihr Buch ist auf jeden Fall lesenswert: es führt dem Leser ein dunkles Kapitel der argentinischen Geschichte vor Augen. Das Buch ist authentisch und locker erzählt. Allerdings nicht immer strukturiert. So wie die Autorin spricht, schreibt sie auch und konfrontiert den Leser dabei mit der Brutalität der argentinischen Militärdiktatur.

    Alles, was mir passiert ist und was ich hier erzähle, kann besser oder schlimmer sein, mehr oder weniger erträglich erscheinen, Groll oder Mitleid auslösen. Aber auf jeden Fall ist alles, was hier erzählt wird, die Wahrheit.

    Victoria Donda: "Mein Name ist Victoria. Verschleppt von der Militärjunta – Ein argentinisches Familienschicksal", Knaur, 256 Seiten, 16,95 Euro, ISBN: 978-3-42665-473-6