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Einen Weg zwischen Folklore und Bühnenavantgarde

Etwa 60.000 Menschen zählt das westslawische Volk der Sorben, das seine Heimat in der Lausitz, im Osten Sachsens und Süden Brandenburgs hat. Wichtigstes kulturelles Aushängeschild ist das "Sorbische National-Ensemble" mit Sitz in Bautzen. Drei Sparten hat es, nämlich Chor, Orchester und Ballett.

Von Claus Fischer | 10.01.2012
    Sehnsucht nach Unabhängigkeit - das ist ein wesentliches Leitmotiv der musikalischen Revue "Nacht der Balladen". Diese Produktion des sorbischen Nationalensembles zeigt in mehreren Bildern den ewigen Kampf zwischen David und Goliath über die Jahrhunderte, zwischen der mächtigen deutschen Mehrheit und der bedrängten sorbischer Minderheit ...

    Die Unterdrückung der Sorben erreichte in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur ihren Höhepunkt. Die Musikkultur des kleinen Slawenvolkes drohte damals völlig unterzugehen, erzählte der Komponist und Musikpädagoge Jurij Winar 1985 im DDR-Rundfunk Bereits im Mai 1945 hatte er das erste sorbische Konzert nach dem Krieg organisiert ...

    "In dem damals noch sehr unheilen Stadttheater Bautzen, die Fensterscheiben klirrten - und es pfiff der Wind noch durch alle Ecken und Türen. Aber wir konnten, ohne wieder von der Bühne runtergeholt zu werden - das ist oft passiert während der Nazizeit - frei singen. Schön, laut und deutlich, so wie wir es nach den zwölf Jahren noch konnten."

    In der Folge dieses denkwürdigen Konzerts entstand die Idee, ein professionelles Ensemble zur Darstellung der, wie es damals hieß, "sorbischen Volkskultur" zu gründen mit Schwerpunkten Musik und Tanz. Jurij Winar wurde mit dessen Aufbau betraut, erzählt die heutige Intendantin Milena Vettraino. Dazu reiste er mehrere Monate durch die gesamte sorbische Lausitz.

    "Er hat sich die Schrittkombinationen der ländlichen Bevölkerung angeschaut, als sie getanzt haben, diese dann in Kunstformen entwickelt. Die sind teilweise mit Gummistiefeln aus dem Statt gekommen und auf die Bühne zur Probe! Also das sind Bilder, die haften bleiben."

    Seit den 1960er-Jahren gewann das sorbische National-Ensemble immer mehr an Professionalität. Das lag zum einen an der Persönlichkeit des damaligen Intendanten Handrij Cyz, zum anderen aber auch an der großzügigen finanziellen Förderung durch Kulturverantwortlichen der DDR. Davon profitierte auch die heutige Intendantin Milena Vettraino, denn ihre Ausbildung zur Musikerin wurde zum großen Teil durch das National-Ensemble finanziert. Dennoch sehnt sie sich nicht zurück in diese Zeit, die ja auch eine Zeit künstlerischer Unfreiheit war ...

    "Es sind Erinnerungen und Lebenswege, die einen selber mit formen. Aber man muss immer mit den Realitäten leben, die man vorfindet."

    Diese Realitäten waren bedrückend, als Milena Vettraino im Herbst 2010 ihre Intendanz begann.

    "Das Ensemble habe ich mit einem Riesenschuldenberg übernommen!"

    "Wenn man nur ein begrenztes Budget hat, und weiß, dass man in den kommenden Jahren dieses Budget nicht erweitert bekommt und mit dem begrenzten Budget heute schon nicht auskommt, dann muss man Maßnahmen ergreifen."

    Betonte damals Marko Suchy, der Direktor der Stiftung für das sorbische Volk, die das National-Ensemble heute finanziert. 27 Stellen musste Milena Vettraino einsparen, um die Existenz des Hauses zu sichern.

    "Es waren alle Sparten betroffen, Verwaltung, Schneiderei, Ballett, Orchester und Chor."

    Die Basis sämtlicher Produktionen des sorbischen National-Ensembles ist die Folklore, das betont Intendantin Milena Vettraino immer wieder. Aber auf dieser Basis entsteht auch radikal Neues. So erarbeitet man zum Beispiel derzeit gemeinsam mit der freien Bühne Senftenberg eine Tanztheaterproduktion mit dem Titel "Sorbische Freiheit". Darin geht es um eine zeitgemäße Reflexion von kultureller Identität ...

    "Wo wir die momentanen kulturpolitischen Diskussionen, "was ist ein Sorbe, was macht einen Sorben aus" auf die Bühne bringen. Ich habe mir die bekannte Choreografin Vivien Newport aus Berlin ans Haus geholt, die ist eine Wegbegleiterin von Pina Bausch. Modernes Tanztheater, das gab es bisher noch nicht am Sorbischen National-Ensemble. Es ist für mich auch eine Form der Weiterentwicklung."

    Besinnung auf die Tradition einerseits und behutsame Öffnung für Neues andererseits, mit diesem künstlerischen Konzept möchte Milena Vettraino das Sorbische National-Ensemble in die Zukunft führen, mit den finanziellen Mitteln, die sie zur Verfügung hat. Der "sorbische David" wird dabei immer vom "deutschen Goliath" als Geldgeber abhängig sein. So dürfte das jahrhundertealte Verlangen der Sorben nach völliger Unabhängigkeit bei den Auftritten des Nationalensembles immer wieder artikuliert werden.