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Einer, der die Welt ganz anders sah

"Milieukünstler” wird Heinrich Zille gern genannt - heute. Zu seiner Zeit bezeichnete man ihn als "Rinnsteinkünstler" oder einen, der den Leuten die Lebensfreude vermießte. Der Künstler, den viele mit humorvollen Alltagsszenen aus den Berliner Hinterhöfen verbinden, war tatsächlich mehr als der "jute Vater Zille".

Von Anette Schneider | 10.01.2008
    "Aus’m Hinterhaus kieken Kinder raus,
    blass und unjekämmt,
    mit und ohne Hemd. "

    Auf der Zeichnung: Zwei kleine Jungen. Einer zieht auf einem Wägelchen eine tote Ratte hinter sich her.
    Bildunterschrift:

    "Von wat is se denn jestorben?" - "Unse Wohnung is zu naß!"

    Einige Kinder im Schnee. Ein Mädchen fasst sich an die Brust:

    "Wenn ick will, kann ich Blut in den Schnee spucken!"

    Heinrich Zille kannte die Armut. Am 10. Januar 1858 in der Nähe von Dresden geboren, zog die Familie bald nach Berlin, wo sie die ersten Jahre in einer Kellerwohnung lebte.

    "Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genau so gut töten, wie mit einer Axt."

    Wird er 1924 schreiben. Erst einmal macht er jedoch eine Druckerlehre und arbeitet in einer Firma, die Kunstwerke reproduziert und Werbevorlagen erstellt. Abends aber besucht der leidenschaftliche Zeichner die Königliche Kunstakademie.

    "Ich wollte doch auch was für mich machen. Was Ganzes wollte ich machen, aus mir heraus. So, wie ich die Welt und die Menschen sah. Ich sah sie doch ganz anders, als die anderen."

    Zille läuft durch die Berliner Arbeiterviertel und hält fest, was er sieht. Er ist 43 Jahre alt, als seine Zeichnungen erstmals ausgestellt werden: Szenen aus Hinterhöfen, Kellerwohnungen und Kaschemmen. Dazu knappe Bildunterschriften, die das Gezeigte zuspitzen. So sieht man eine schwangere Arbeiterin, die mit einem Kind auf dem Arm auf einen Fluss zugeht, um sich zu ertränken.
    Bildunterschrift:

    "Mutta, is ooch nich kalt?" - "Lass man, de Fische leben ja immer drin!"

    Oder: Ein Arzt in einer Armenwohnung fragt die vor ihm stehenden Kinder:

    "Wo is denn euer heut verstorbenes Brüderchen?" - "Ach, Herr Doktor, Mutter is’ weggegangen und hat den Hans in die Kommode jeschlossen, wir sollen nich’ mit ihm spiel’n."

    "Rinnsteinkunst!"

    "Als ich zum ersten Mal meine Zeichnungen hingegeben hatte - Zeichnungen, die viel besser, wahrer waren als die, die ich später zum Broterwerb geleckter, frisierter bringen musste - da standen vor den Bildern viele Menschen; und ich hörte wie ein älterer Herr zu seiner Dame sagte: "Der Kerl nimmt einem ja die ganze Lebensfreude!”"

    "Rinnsteinkunst!"

    So Wilhelm II.

    "Abortkunst!"

    Die Meinung vieler Kritiker.
    Mit fast 50 Jahren wird Zille arbeitslos - und versucht als freier Künstler zu überleben. Er zeichnet für Zeitschriften wie den "Simplicissimus” und die "Lustigen Blätter”, doch:

    "Die Armut und die Wahrheit wollten die gut bürgerlichen Klattschblättchen ihren Lesern nicht zeigen!"

    Also werden seine Arbeiten humoristischer. Es entsteht der "typische” Zille: Urige Typen füllen nun seine Blätter, üppige Frauen, freche Berliner Gören. Zeichnungen, die Zille als augenzwinkernden "Milieu-Künstler” berühmt machen, der auch mit der Kabarettistin Claire Waldoff durch die Stadt zog.

    "Einmal in der Bergstraße sahen wir die kleinen Kinder, wie sie Klicker spielten. Und dann geht oben ein Fenster auf: "Emil! Sofort ruffkommen!”. Und die klickern weiter. Der hört einfach nicht. Geht wieder das Fenster auf "Emil, kannste nicht hör’n, du sollst sofort ruffkommen!” Sagt der Freund zu ihm: "Du, deine Olle hat eben gerufen, du sollst ruffkommen.” "Watt hest hier Olle”, sagt der Emil, "for dir noch immer Fräulein Lehmann!”"

    Seine kritischen Blätter zum 1. Weltkrieg landen dagegen in der Schublade.
    Heinrich Zille, befreundet mit Max Liebermann, Käthe Kollwitz, Erich Mühsam und Otto Nagel, stand immer auf der Seite der Unterdrückten...,

    "Ich zeige Menschen, die ihrem Geschick nicht entgehen können, die das Resultat der heutigen und früheren Gesellschaftsordnung sind."

    "... doch anders als Kollwitz oder Nagel hat er keine Perspektive: Politisches Bewusstsein, Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse sind seinen Protagonisten fremd. Sie halten still. Deshalb sind sie auch bis heute so beliebt, passen auf die Witzseiten bürgerlicher Zeitschriften ebenso wie an kleinbürgerliche Wohnzimmer- und Kneipenwände."

    "Bitte, keinen Besuch.
    Bin krank."

    Steht während der letzten Lebensjahre an seiner Wohnungstür. Es wird ruhig um den einst rastlosen Zille. Als er 1929 stirbt, entsteht das "Lied vom Vater Zille”, das vor allem dem "gemütlichen" Künstler ein Denkmal setzt.

    "Jede Kneipe und Destille kannt’ den juten Vater Zille.
    Jedes Droschkenpferd hat von dir jehört.
    Von N-O bis J-W-D - dat war sein Milljöh"