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Einer der großen französischen Geistesheroen

Der Publizist Johannes Willms macht mit seiner unterhaltsamen und dabei nüchternen Stendhal-Biografie Lust auf die erste oder erneute Lektüre von Stendhals Hauptwerken "Rot und Schwarz" und der "Kartause von Parma".

Von Helmut Mörchen | 22.07.2010
    Marie-Henry Beyle oder Stendhal: Wirklich geläufig sind heute weder Geburtsname noch Pseudonym. Geschweige denn der von seinem Namen abgeleitete "Beylismus", diese Form coolen Genießens erotischer wie künstlerischer Begegnungen. Jünger und vermutlich noch weniger bekannt ist das vom Pseudonym abgeleitete Stendhal-Syndrom, eine psychische Störung hervorgerufen durch ein exaltiertes Kunsterleben.

    Das von dem irgendwo am Weg zwischen Berlin und Braunschweig gelegenen altmärkischen Kleinstädtchen Stendal abgeleitete Pseudonym des 1783 in Grenoble geborenen und 1842 in Paris gestorbenen französischen Romanciers, dessen Romane "Rot und Schwarz" und "Die Kartause von Parma" zur Weltliteratur gehören, wird in Johannes Willms Stendhal-Biografie entmythologisiert.

    Die hartnäckig verbreitete Legende, dass die Wahl des Pseudonyms eine Hommage an den in Stendal geborenen Johann Joachim Winckelmann gewesen sei, erwähnt Willms nicht einmal: "Was den Ausschlag gab, wir wissen es nicht."

    Solch wohltuende Nüchternheit prägt das ganze Buch. Der als Frankreichkorrespondent in Paris lebende Journalist Willms entfaltet vor allem den äußeren Lebensweg Stendhals vor dem Hintergrund Frankreichs und Europas während und nach der Herrschaft Napoleons.

    Dabei stützt er sich fast ausschließlich auf die inzwischen umfassend veröffentlichten autobiografischen Quellen: die Erinnerungen des 53-jährigen Schriftstellers an Kindheit und Jugend, die posthum erst 1890 als "Vie de Henry Brulard" erschienen, die "Oevres intimes" und die "Correspondance générale".

    Die von Willms breit zitierten Berichte Stendhals über sein Liebesleben stellen den Autor als schmachtenden Verehrer unerreichbarer Frauen und gleichzeitigen Genießer derben Sexes im Rahmen von Zufallsbegegnungen durchaus augenzwinkernd vor. Aber Stendhals freimütige Bekenntnisse bleiben hinter dem Witz und der naiven Raffinesse eines Samuel Pepys doch zurück.

    Spannender ist der Bildungs- und Berufsweg des der Provinz entfliehenden und vom Ehrgeiz getriebenen Sprosses einer aufstiegsorientierten Patrizierfamilie. Stille Revolte und gleichzeitige Duldung familiärer Protektion prägen die erste Lebenshälfte. Den Vettern Pierre und Martial Daru, unter Napoleon mächtigen Männern, verdankt er eine bescheidene aber stetige Karriere als Kavallerieoffizier und später als Mitarbeiter in der Militärverwaltung. "Ich stürzte mit Napoleon im April 1814" konstatierte Stendhal lakonisch in seiner Autobiografie "Vie de Henry Brulard". Er verlor mit seiner Stelle alle Bezüge und saß auf einem Schuldenberg von beträchtlichen 37.000 Franc.

    Aufschlussreich und in vielen Passagen geradezu aufregend ist Willms Schilderung des sich an diese Pleite anschließenden Aufbaus einer Existenz als freier Schriftsteller. Unmittelbar nach der Verbannung Napoleons auf Elba setzte sich Stendhal hin und schrieb ein Buch. Nein, er schrieb es nicht, sondern diktierte es während weniger Wochen im Sommer 1814 gleich in die Feder eines Schreibers. Und scheute sich nicht, Quellen so ungeniert zu übernehmen, dass Willms die im Januar 1815 auf Kosten des Autors unter dem Pseudonym Alexandre César Bombet gedruckten "Briefe aus Wien" als "ein vollständiges Plagiat" bezeichnet.

    In diesen Briefen geht es um die Kunst, die schon den Soldaten Beyle am meisten faszinierte, die Musik. Von Haydn und Mozart schlägt er Bögen zur italienischen Musik und seinem Lieblingskomponisten Cimarosa. Das Schreiben wirft noch nicht viel ab, gibt aber seinem Leben Inhalt und Sinn. Den "Briefen aus Wien" folgt eine ebenfalls plagiierende, schnell hingehauene "Geschichte der Malerei in Italien".

    Sein drittes Buch "Rom, Neapel und Florenz im Jahr 1817" trägt als Erstes den Autornamen Stendhal. Dieses Reisetagebuch eines Italientouristen ist der erste in einer persönlichen Handschrift verfasste Text, der das Talent des späteren Romanciers erahnen lässt. Aber auch dieses Buch findet nur wenig Beachtung. Weil es kaum Käufer hat, interessiert sich nicht einmal der Zensor für es.

    Aber Stendhal findet im Rückblick geradezu schon modern anmutende Wege, sich "bekannt" zu machen. Den einen, sich mit einer schon berühmten Persönlichkeit ins öffentliche Interesse zu drängen, schlägt er im Herbst 1816 mit Lord Byron in Mailand ein. Dem versucht er sich mit erfundenen Geschichten über Begegnungen mit Napoleon interessant zu machen, um sich später der Öffentlichkeit als besonders häufiger und wichtiger Gesprächspartner des englischen Dichterstars präsentieren zu können.

    Ein weiterer Weg ist eine Vorwegnahme der heute die Feuilletons beherrschenden Debattenmanie. Als Kritiker und Essayist ist er Beiträger vieler französischer und englischer Zeitungen und Zeitschriften. Er verstand es – so Johannes Willms – "den Zeitgeist zu erspüren, diesen in Worte, Argumente und Thesen zu fassen und essayistisch zu propagieren." Als französische Liberale ein englisches Shakespeare-Gastspiel in Paris als Angriff auf das Andenken an Napoleon missverstanden, verteidigte er Shakespeare gegen an Racine anknüpfende neoklassizistische Tendenzen auf dem zeitgenössischen französischen Theater. Als Giacomo Rossini in den europäischen Komponistenolymp aufgestiegen war, widmete er ihm einen schnell verfassten, diverse Aspekte durcheinander quirlenden Essay, der bei den vielen Fans des Komponisten gut ankam.

    Resonanz fand Stendhal auch als Gesprächspartner in den Pariser Salons. Romantik und ein zunehmend links gerichteter politischer Liberalismus prägten die Diskurse dort. Er war regelmäßiger Besucher des "grenier litéraires", des "literarischen Speichers", mit dessen Haupt, dem Maler und Kunstkritiker Étienne-Jean Delécluse, ihn eine auf Gegenseitigkeit beruhende Abneigung verband. Aber gerade eine solche Spannung erzeugte das Klima für sprühende Dispute. Um 1825 herum war also Stendhal als 42-Jähriger ein viel gelesener, aber auch umstrittener Literat und Journalist.

    Mit seiner Zeit als französischer Konsul erst in Triest und bald darauf in Civitavecchia brachen Jahre der Langweile, des Ennui an. Zeiten, in denen endlich die Romane entstanden, denen Stendhal seinen Weltruhm verdankt. Willms geht über diese Zeit recht schnell hinweg und stellt auch "Rot und Schwarz" und "Die Kartause von Parma" nicht näher vor. Kurzum, wer diese Romane nicht gelesen hat, braucht hier um, Willms Leerstellen zu füllen, ein Literaturlexikon oder einen Romanführer.

    Auch erfahren wir nicht, welch große Wirkung Stendhals Werke hatten. Für Nietzsche gehörte schon vor Dostojewski der immer wieder von ihm mit dem Russen in einem Atemzug genannte Stendhal zu den am meisten verehrten literarischen Göttern. Und Heinrich Mann erhebt in seinem berühmten Essayband "Geist und Tat. Franzosen von 1780 bis 1930" neben Choderlos de Laclos, Victor Hugo, Gustave Flaubert und Emile Zola auch Stendhal in das Pantheon der großen französischen Geistesheroen.

    So wenig Henry Beyle alias Stendhal noch wirklich bekannt sein mag, so ungelesen sind heute, wie ich befürchte, wohl auch seine großen Romane. In seinem kurzen Nachwort begründet der Biograf Johannes Willms die Schwerpunktsetzung auf die Lebensbeschreibung des Schriftstellers Henry Beyle mit dem Vorliegen der beiden Meisterwerke Stendhals in vorzüglicher Neuübersetzung von Elisabeth Edl im Hanser Verlag, in dem auch Willms Buch erschienen ist. Willms sehr zu empfehlende informationsreiche und unterhaltsame Biografie entfaltet neben der liebevollen Vorstellung Henry Beyles ein buntes Panorama des Frankreichs und Europas unter und nach Napoleon. Und weckt Lust auf erste oder erneute Lektüre von Stendhals Hauptwerken "Rot und Schwarz" und der "Kartause von Parma".

    Johannes Willms: "Stendhal". Biografie
    Carl Hanser Verlag, München 2010. 332 Seiten, Euro 24,90.