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Einfachheit der Mittel und die Vielfalt der Ideen

Wenn einen "Olga" anschaut, 1930 von Francis Picabia mit Bleistift und Kohle auf Papier gezeichnet, dann sehen den Betrachter gleich mehrere Frauen an, manchmal auch nur eine Art zyklopisches Auge, eine Art wunderschöner Medusenkopf. In der New Yorker Morgan Library widmet man sich der Zeichnung im Surrealismus.

Von Sacha Verna | 01.02.2013
    Die surrealistischen Künstler träumten mit den Händen. Max Ernst, Salvador Dalí und René Magritte brachten ihr Unbewusstes auf Leinwände oder in die Form von Skulpturen, vor allem aber verliehen sie ihren fantastischen Paralleluniversen auf Papier Ausdruck:

    "Zeichnungen seien für die Surrealisten so wichtig gewesen, weil sie auf Papier experimentiert hätten, sagt Isabelle Dervaux. Außerdem sind Bleistift und Papier auch die Werkzeuge von Dichtern. Der Surrealismus wurde ja von Dichtern gegründet. Und sowohl die Dichter als auch die bildenden Künstler interessierten sich für die Beziehung zwischen Poesie und Zeichnung."

    Isabelle Dervaux hat die Ausstellung über die Rolle der Zeichnung im Surrealismus für die Pierpont Morgan Library organisiert. Hundertsechzig Werke von siebzig Künstlern sind darin versammelt, von einem Mandolinen-Nelken-Bambus-Strauss aus Worten von Guillaume Apollinaire bis zu einem Kopf mit mehreren Nasen wie Tentakeln von Wols.

    Er glaube an die Auflösung der scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, schrieb André Breton in seinem ersten Manifest des Surrealismus 1924. Um diese Auflösung in der Unmittelbarkeit der Zeichnung zu erreichen, erfanden die Surrealisten neue Techniken. Zum Beispiel den Automatismus. "Die vom Gehirn befreite Hand bewegt sich, wohin die Feder sie führt", so lautete die Definition dafür. Das Ergebnis waren Kleckse und Kritzeleien, die Künstler wie Yves Tanguy und Joan Miró dann bei vollem Bewusstsein bearbeiteten.

    Sie mochten auch Spiele mit dem Zufall wie "cadavre exquis". Dabei wird ein Blatt Papier mehrmals gefaltet, und jeder Teilnehmer setzt die Zeichnung seines Vorgängers fort, ohne sie zu kennen:

    "Dabei entstanden diese merkwürdigen Figuren, die einen großen Einfluss auf die Ästhetik der Surrealisten hatten und in den Werken einzelner Künstler wieder auftauchen."

    Figuren mit Mondhimmelköpfen und Schwimmflossen etwa oder Kompositionen aus Schiffsrümpfen und Bügeleisen.

    Ob Décalcomanie, wo Muster wie Landschaften entstehen, indem zwischen zwei Blätter Tinte oder Farbe gegeben wird, oder Frottage, wo dasselbe durch Abreiben von Grafit auf unregelmäßige Oberflächen geschieht: Die surrealistischen Künstler schöpften die Möglichkeiten der Zeichnung und des Papiers aus wie nur wenige andere.

    Diese umfangreiche, im Einzelnen jedoch konzentrierte Ausstellung zeigt, dass der Surrealismus in der bildenden Kunst mehr hinterlassen hat als schmelzende Uhren. Die Einfachheit der Mittel und die Vielfalt der Ideen enthüllen Fratzen, Masken und Gesichter, die man der Zeichnung nie zugetraut hätte. Denn wo Hände träumen und das Unbewusste überwirklich wird, ist mit allem zu rechnen.