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Einfangen menschlicher Erfahrungen

Angeödet von seinen Eltern und vom gewalttätigen Schulalltag findet Jean Marro, Protagonist im Roman "Revolutionen", in den Erzählungen seiner blinden Tante Catherine einen Fluchtort. Das Buch gilt als der persönlichste Roman von Jean-Marie Gustave Le Clézio. Im Mittelpunkt steht das Grenzgängertum zwischen den Kulturen.

Von Christoph Vormweg | 02.07.2006
    In der Pubertät verändert sich die Wahrnehmung: die der Welt um einen herum und die der eigenen Positionierung in ihr. Das Dasein, das selbstverständlich erschien, wird plötzlich nach seinem Sinn befragt, der Alltag in seiner oft grausamen Banalität wahrgenommen. Auch das Begehren erprobt sich im oft so widersprüchlichen Liebesgefühl. Schon deshalb wird die Pubertät immer eines der großen Themen der Literatur bleiben. Doch es ist ein Thema, an dem man sich leicht verheben kann. Zahllose Erstlingsromane mit selbsttherapeutischer Nebenwirkung singen davon ein Lied. Umso interessanter, wenn sich ein gestandener Romancier jenseits der 60 noch einmal an den Stoff des Heranwachsens wagt.

    In seinem Roman "Revolutionen" macht der 1940 in Nizza geborene Jean-Marie Gustave Le Clézio aber auch die Literatur selbst zum Thema, nicht weil sein Protagonist, der 15-jährige Jean Marro, ein Bücherwurm wäre. Nein, die im Fernseh- und Computerzeitalter gänzlich aus der Mode gekommene Oral History, die mündliche Überlieferung des Vergangenen wird von Le Clézio reaktiviert. Angeödet von seinen Eltern und vom gewalttätigen Schulalltag in einer lärmenden Mittelmeerstadt der 1950er Jahre, findet Jean Marro in den Erzählungen seiner blinden Tante Catherine einen Fluchtort. Nur über sie – das ahnt er bald - wird er seiner eigenen Herkunft und Identität auf die Spur kommen.

    "Tante Catherines Gedächtnis war unerschöpflich. Jedes Mal, wenn Jean sie besuchte, nahm sie den Faden der Erzählung wieder auf, begann immer mit dergleichen Floskel: 'Früher in Rozilis, als ich so alt war wie du...' Das war vor langer Zeit. Jean hatte Mühe, die Jahre zu zählen, fünfzig, sechzig Jahre. Das war vor allen Kriegen, als die Welt noch unschuldig war. Sie sprach über die Marros, ihre Schwester Mathilde, die sie Maud nannte. Jean war der Einzige, dem sich Catherine so anvertraute. Sie hatte Jeans Vater nie etwas erzählt, dabei war er ihr leiblicher Neffe, und auch sonst niemandem. Den anderen fehlte vermutlich das Verständnis dafür. Oder sie waren es nicht wert, dass man es ihnen erzählte. Sie hatte sich für Jean entschieden, um ihre Erinnerungen an ihn weiterzugeben.

    Sie verfügte über unerschöpfliche Schätze, nicht nur Worte, sondern auch Dinge, Knochenreste, Steine, polierte Teile, Überbleibsel, die sie aus den Tiefen ihrer Schubladen hervorholte, um sie ihm Stück für Stück zu zeigen, als handele es sich dabei um Schlüssel zu den Geheimnissen der Vergangenheit. Manchmal fand sie hübsche Dinge, einen kleinen Hund aus Bronze, der ihrem Vater als Briefbeschwerer gedient hatte, ein sehr fein geschnitztes großes Samenkorn aus Indien, schwer und feuerbraun, (...) ein altes Fernrohr, das Jean Eudes Marro gehört hatte, dem Ersten aus der Familie Marro, der sich auf der Ile de France, wie Mauritius damals noch hieß, niederließ. (...) Jean nahm sie nicht gleich in die Hand, wartete ein wenig, dann berührte er sie leicht, bis er die Wärme spürte, die sie ausstrahlten, einen fernen warmen Hauch, der von der anderen Seite der wirklichen Welt kam."

    Die andere Seite der wirklichen Welt, damit lockt traditionell das Genre des Abenteuerromans. Doch will Jean-Marie Gustave Le Clézio den Leser keineswegs zu einer Weltflucht ins Exotische verführen. Sein literarisches Ziel ist vielmehr die Verschränkung und gegenseitige Spiegelung von Nah und Fern, von Gegenwärtigem und Vergangenem. So heißt es an einer Stelle programmatisch:

    "Die Erinnerung ist nichts Abstraktes, dachte Jean. Sie ist eine Substanz, eine lange Faser, die sich um die Wirklichkeit wickelt, sie mit Bildern aus fernen Zeiten verknüpft, deren Vibrationen verlängert und ihre Strömung bis in die verästelten Nerven des Körpers weiterleitet."

    Ein Hauptmotiv des Romans "Revolutionen" verknüpft den Aufbruch in die Ferne mit dem Krieg. Da ist zunächst der bretonische Vorfahr Jean Eudes. Sein Tagebuch entführt uns in die Zeit der Französischen Revolution, als er sich, 18-jährig, freiwillig zum Kriegsdienst meldet. Beschrieben wird die naive Euphorie des Fortgehens, die erste Begegnung des Provinzlers mit der Hauptstadt Paris, der lange Marsch im Massenheer an die Front. Dort nimmt Jean Eudes an der berühmten Kanonade von Valmy teil und tötet zum ersten Mal. In diesen Tagebuch-Passagen besticht Le Clézio durch eine ungeschminkt drastische, detailreiche Sicht von unten. Die Große Revolution wird gesehen mit den Augen des Fußsoldaten aus ärmlichen Verhältnissen. Jean Eudes wird Zeuge, wie die Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu Worthülsen verkommen und zieht die Konsequenz aus seiner Ernüchterung. Nach dem Rückzug aus der Armee setzt er sich ab: mit Frau und Kind in die verheißungsvolle Ferne der Insel Mauritius.

    Präsent ist das Motiv vom Aufbruch in den Krieg aber auch in Jean Marros Gegenwart: und zwar durch die Erzählungen eines ehemaligen Schulkameraden, den es 1955 als Wehrpflichtigen nach Algerien verschlägt. Auch hier konterkariert Le Clézio die offizielle Geschichtsschreibung, die alles aus der nationalen Überflugperspektive vereinfacht, durch die Beschreibung persönlicher Erfahrungen. Denn der 18-jährige Schulkamerad wurde Zeuge, wie das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das die Franzosen unter der deutschen Besatzungsherrschaft noch selbst reklamiert hatten, in der Kolonie mit Füßen getreten wird. Schlimmer noch: Jean Marros bewunderter Freund Santos wird in Algerien getötet und hinterlässt seine schwangere Freundin Jeanne Odile. Was in der Ferne geschieht, frisst sich als Albtraum in den französischen Alltag:

    "Santos' Tod hatte ein Loch aufgerissen, und alles, was davor lag, die Schulzeit, das Abitur, die zunehmende Bedrohung des Krieges, und zwar nicht nur in Form eines Gerüchts oder eines Themas für eine Geschichtsarbeit, nicht als Gesprächsthema in einer Schülerkneipe, sondern ein grausamer, todbringender Krieg mit Folterungen und Ermordungen, all das schien einer vergangenen Zeit anzugehören. (...) Gegen Ende des Sommers (...) heiratete Jeanne Odile. Jean hatte sie nicht wieder gesehen, der dicke Sproëcher, den er zufällig auf der Straße traf, erzählte es ihm. 'Weißt du es schon? Santos wird mit seiner Freundin verheiratet, alles ist in die Wege geleitet, sie haben die Genehmigungen, selbst der Papst hat seine Zustimmung gegeben, es ist ein Priester dabei und ein Hauptmann, der extra aus Algerien herkommt, kannst du dir das vorstellen?' Sproëcher, wie immer sehr prosaisch, fügte hinzu: 'Sie heiratet eine Leiche!'"

    Der heranwachsende Jean Marro ist ein typischer Le-Clézio-Protagonist: Er fühlt sich fremd im eigenen Land, er leidet unter der lärmenden Mittelmeerstadt, in der seine Eltern nur noch ziellos auf ihren Tod warten, er hasst die Menschenverachtung der Politiker. Daher auch seine Faszination für Tante Catherine. Denn sie hat während ihrer Kindheit auf Mauritius erlebt, was Jean bisher vergeblich sucht: das Glück inniger Verbundenheit mit einem Ort, in diesem Fall der unberührten Natur. Doch was Jean Marro auch unternimmt, ob er zum Medizinstudium nach London übersiedelt, um so der Einberufung zum Kriegsdienst nach Algerien zu entgehen, oder ob er als jobbender Französischlehrer Mexiko erkundet, nie gelingt es ihm, Nähe herzustellen - weder zur Wirklichkeit noch in der Liebe. Meist lebt Jean Marro in Zweckverhältnissen ohne emotionales Risiko. Deshalb sind es - auch auf seinen Reisen - weniger die eigenen Erfahrungen, die ihn weiter bringen, als die Erzählungen anderer. Im Grunde ist Jean Marro ein Geschichtenparasit, der sich die vergangene Lebensintensität anderer borgt, um die Kraft zu finden, weiter durch seinen tristen Alltag zu schlingern.

    "Jean wunderte sich. Wie konnte er so etwas wie Eifersucht wegen Saras Vergangenheit spüren, in eine Deutsche verliebt sein, die er nur drei- oder viermal gesehen hatte, und ein Mädchen als Geliebte haben, für das er nur ein banales, alltägliches und gleichsam hygienisches Interesse aufbrachte? Sara ahnte nichts von alledem. Sie erzählte weiter aus ihrem früheren Leben mit Frankie Schwartzen, sie hatte eine helle Stimme, lachte verschmitzt, als sei sie wieder das launenhafte junge Mädchen, das alles aufgab, ihre Familie, ihre Ausbildung, ihr gesittetes Leben, um mit einem Mann, der etwa dreimal so alt war wie sie, mit einem Segelboot auf Abenteuerfahrt zu gehen.

    Verstimmt sagte Jean: 'Ein Typ, der mit einem so jungen Mädchen ganz einfach davonläuft, muss doch eigentlich ein schrecklicher Kerl sein, oder?'

    Sie antwortete ziemlich barsch: 'Ganz im Gegenteil, er ist der netteste Mann, den ich je kennen gelernt habe, und sehr großzügig.'

    'Aber du hast ihn trotzdem irgendwann verlassen, nicht?'

    Sara dachte nach und sagte: 'Nein, so war das nicht.' Sie sprach mal Englisch, mal fast akzentfreies Französisch. 'Das kannst du nicht verstehen. Dabei habe ich gedacht, du wärst nicht so wie alle anderen. Du hättest nicht die gleichen, äh, Vorstellungen, aber letztlich bist du genauso wie alle Männer, du verklärst alles und gleichzeitig vertraust du den anderen nicht.'

    Jean schwieg. Sara glaubte, sie habe ihn gekränkt, und das brachte sie zum Lachen. Sie küsste Jean und streichelte seinen Kopf, als wäre er ein kleiner Junge."

    "Revolutionen" gilt als der persönlichste Roman von Jean-Marie Gustave Le Clézio. Zahlreiche biografische Bezugspunkte lassen sich erkennen. So sind Jean Marros Eltern - wie die Le Clézios auch - ein binationales Paar: Der Vater stammt aus England, die Mutter aus Frankreich. So haben die Vorfahren mütterlicherseits, von denen einige bereits im Roman "Ein Ort fernab der Welt" eine zentrale Rolle spielten, auf Mauritius gelebt. Und so hegen beide ein Faible für Mexiko, wo Le Clézio heute phasenweise lebt. Man könnte auch sagen: Im Mittelpunkt seines Romans "Revolutionen" steht das Grenzgängertum zwischen den Kulturen. Le Clézio versteht es, dieses Grenzgängertum vielstimmig, einfühlsam und auch eingängig zu beschreiben. Doch ist er deshalb kein leicht zu konsumierender Erzähler. Denn sein Schreiben ist nicht auf Plot-Frisierung oder Pseudo-Dramatik angelegt, sondern auf das Einfangen menschlicher Erfahrungen. Immer wieder muss der Leser zwischen verschiedenen Epochen und Standpunkten hin und her springen.

    Nirgends gibt es die Sicherheit einer distanzierten, allwissenden Perspektive. Was zählt, ist allein die individuelle Sicht, sei es die der geraubten Kiambé, die 1817 als Sklavin ins mittlerweile englisch besetzte Mauritius verschleppt wird, wo sie an einem Aufstand teilnimmt; sei es die des Franzosen Le Pelletier, dessen Ehe mit einer Farbigen von den Behörden für ungültig erklärt und der obendrein zur Strafe für seinen Bruch der Kolonialgesetze zwangsdeportiert wird. Durch die Vielzahl von Figuren – nicht nur der Opfer sondern auch der Täter - erreicht Le Clézio ein hohes Maß an Differenzierung: So treten Sklaven nicht nur als Hilflose auf, sondern auch als Kollaborateure der Machthabenden; und Kolonialisten nicht nur als zynische Ausbeuter, sondern auch als Vorkämpfer für Toleranz und Gleichberechtigung.

    Kein Wunder also, dass Jean Marro, der aufgebrochen war, um sich selbst zu finden, von der Vielstimmigkeit der eigenen Familiengeschichte bald überfordert scheint:

    "Es ist ein seltsames Gefühl, hier und zugleich anderswo zu sein, mehreren Geschichten anzugehören. (...) Er muss diese Suche fortsetzen, sie zu Ende führen. Aber gibt es eine Antwort auf dieses Sich-im-Kreis-Drehen, oder liegt die Antwort nicht eher in ihm, ist schon bereit, sodass er sie nur noch zu entziffern braucht?"

    In seinen frühen Romanen ist Le Clézio oft als engagierter Zivilisationskritiker aufgetreten, als Botschafter eines vermeintlich wahreren, naturnahen Lebens. Diese Pose hat er abgelegt - und damit auch den Leser emanzipiert, der seine eigenen Schlüsse ziehen soll. Man könnte auch sagen: Le Clézio hat sich immer mehr auf seine literarischen Stärken besonnen, auf die Poesie der Momente, die das Diffuse, das Unentschiedene und Zufällige der menschlichen Existenz in den Vordergrund rücken. Nicht von ungefähr ist sein Roman "Revolutionen" so zu einem Plädoyer für die Geduld geworden - vor allem in Sachen Liebe. Denn erst die Ferne von Mexiko, wo Jean Marro Zeuge des 1968 brutal niedergeschlagenen Volksaufstandes wird, verschafft ihm die Gewissheit, dass er für die Liebe der Algerierin Mariam kämpfen will, dass die Nähe zu ihr eine ganz andere Dimension hat als die bisher erlebte Triebabfuhr in undefinierten Verhältnissen. Das Verschmelzungsgefühl, das er in ihren Armen erlebt, gleicht einem Durchbruch. Es macht aus "Revolutionen" auch einen Initiationsroman in punkto Liebe.

    "Es ist ein Feuer und ein Licht aller Sinne, dem Ursprung nah, ganz nah, aus weiter Ferne gekommen, aus den Anfängen, den Urzeiten, von der ersten Zellteilung, der ersten Geburt. Das Pochen des Herzens tief in der Brust, im Bauch, in der Kehle, ein Pochen, das auf der Netzhaut bebt, in den Drüsen pulsiert.

    Und im Kopf: Alles löst sich, wird entwirrt, entknotet, die Hindernisse, die Gewohnheiten, die Erinnerungen. Keine Leere, sondern eine Lösung. Ein leichter Lufthauch, reinigendes Wasser. Ergreifende Träume. Die Flut. Und dann fühlte sich Jean freier. Die falschen Häute, die Hüllen, die Kleider, in denen man sich versteckt, all das war gefallen, er war nackt, sein Haar und seine Glieder hingen nicht mehr an Fäden. Das war es also. Letztlich war alles so einfach. Einen Augenblick, nur einen Augenblick im Leben, um frei zu sein. Um lebendig zu sein, jeden Nerv zu spüren, schnell wie ein rennendes Tier zu sein. Fliegen zu können. Sich der Liebe hinzugeben. In der Gegenwart, in der Wirklichkeit zu sein."

    Es ist schon immer erklärtes Ziel von Jean-Marie Gustave Le Clézio gewesen, den Worten ihre Magie zurückzugeben. Immer wieder verdichtet sich seine Roman-Prosa zu visionären Bildern von momenthaftem Ankommen. Dem Kitsch entgeht er dabei schon deshalb, weil er immer beide Seiten der Medaille im Blick hat: in der Liebe nicht nur das im Einssein euphorisch Abhebende, sondern auch das nagende Leiden an der Vereinzelung; im Krieg nicht nur die nackte Todesangst, sondern auch das adrenalinübersteuerte Hochgefühl im Gemetzel. Man könnte es auch ganz banal sagen: Le Clézio führt uns das Leben vor, wie es ist: in seiner Zwiespältigkeit, in seinen Widersprüchen, in seinen Auf-und-Abs, in seinen oft tragischen Schlusssequenzen.

    Zur Unterhaltungsliteratur lässt sich Le Clézios Roman "Revolutionen" jedenfalls nicht zählen. Dafür sperren sich seine Protagonisten zu sehr gegen jede platte Identifikation. Dafür gibt es auch zu viele Materialzitate - seien es Zeitungsmeldungen vom Algerienkrieg, Notizen über die in den Hafen von Mauritius einfahrenden Schiffe oder Behörden-Berichte zum Sklavenaufstand. Auch das Genre des exotischen Romans kann man nicht bemühen. Denn die Exotik von Mauritius, wie Le Clézio sie beschreibt, ist schon zu Jean Eudes Zeiten, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine zerbrechende Exotik. Wie zerstörerisch sich der Ausbeutungsfuror der Kolonialisten auswirkte, zeigt sich am Ende des Romans, als Jean Marro seine Flitterwochen mit Mariam auf der Insel der Ahnen verbringt und den Glücksort seiner Tante Catherine kaum wiedererkennt. Nicht das aufreizend Exotische bestimmt also die Grundreflexion von Le Clézios Schreiben, sondern die Konfrontation mit der Fremde als Herausforderung, als Selbstinfragestellung, als Reizfläche, um mehr über sich und die eigenen Möglichkeiten zu erfahren. Denn die westliche Kultur - so Le Clézios These - habe "zu großes Gewicht auf die Rationalität gelegt", habe das Archaische und Mystische zusammen mit der Naturverbundenheit der Menschen allzu leichtfertig über Bord geworfen.

    Bleibt die koloniale Vergangenheit, die Le Clézio in fast allen seinen Romanen thematisiert. Gerade sie macht "Revolutionen" für uns interessant. Denn die deutsche Literatur ist in diesem Punkt unterbelichtet: sei es, weil die deutsche Kolonialgeschichte - im Vergleich zur französischen - von der barbarischen Intensität her leichtgewichtiger war; sei es, weil die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit bei uns immer Vorrang hatte. Jedenfalls spielen - meines Wissens - nur Uwe Timms in Deutsch-Südwestafrika angesiedelter Roman "Morenga" und die Karibik-Romane von Hans-Christoph Buch in der gleichen literarischen Liga wie Le Clézios "Revolutionen".

    Revolution bedeutet Umsturz, Umwälzung, Umbruch. Jean-Marie Gustave Le Clézio zeigt in seinem Roman, dass es Revolutionen auf allen Ebenen gibt: auf der großen politischen bis hinunter zur individuellen Ebene. Mal sind diese Revolutionen gewaltsam erkämpft, mal zäh ersessen, mal per Zufall vom Himmel gefallen. Welche Revolutionen die wichtigeren sind, das - so die Botschaft des Romans, wenn es denn eine gibt - muss letztlich immer der Einzelne für sich entscheiden. Ein weites Feld, würde Günter Grass wahrscheinlich raunen. Le Clézio, der Sinnlichkeitssucher, hat dieses Feld bestellt - mit sehr konkreten Bildern aus ganz unterschiedlichen Epochen, mit Reflexionen, die der Zeit der vermeintlichen Großlösungen abschwören, mit dem Zickzack einer Familiensaga, dessen Ende zwangsläufig offen bleibt.