Kinofilm: "Freies Land"

Die vielen großen und kleinen Lügen

11:50 Minuten
Filmszene aus "Freies Land" : Die Ermittler Stein (Trystan Pütter) und Bach (Felix Kramer) nehmen bei der Beerdigung derOpfer jeden ins Visier.
Eine Vermisstensuche wird zum Mordfall: Die Ermittler Stein (Trystan Pütter) und Bach (Felix Kramer) nehmen bei der Beerdigung der Opfer jeden ins Visier. © Verleih Telepool
Christian Alvart im Gespräch mit Patrick Wellinski · 04.01.2020
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Regisseur Christian Alvart verlegt sein Remake des spanischen Thrillers "La Isla Minima" nach Ostdeutschland. Ihn interessiert das Ausmaß der Umwälzungen im Zuge der Wiedervereinigung. Zwei ungleiche Kommissare ermitteln.
Patrick Wellinski: So richtig gut verstehen sich die beiden Ermittler Bach und Stein nicht. Der eine kommt aus dem Osten, der andere aus dem Westen. Beide sollen das Verschwinden zweier Mädchen in der Oderregion ermitteln, aber 1992 sind im wiedervereinigten Deutschland noch viele Hindernisse zu nehmen. Davon erzählt kühl, präzise und durchaus pessimistisch der Kinofilm "Freies Land" von Christian Alvart, der nächsten Donnerstag in unsere Kinos kommt.
Das Drehbuch basiert auf dem spanischen Genrefilm "La Isla Minima", in dem die Folgen des Franco-Regimes untersucht wurden. Alvart interessiert sich nun vor allem für die vielen kleinen und großen Lügen, die die Wiedervereinigung in der frühen Phase begleitet haben. Als ich ihn zum Interview traf, wollte ich daher von ihm wissen, warum sich gerade das Kostüm des Genrefilms besonders gut eignet, um von der deutschen Wiedervereinigung zu erzählen.

Film über Gefühle

Christian Alvart: Mein Mitproduzent Sigi Kamml und ich haben uns schon lange darüber unterhalten Siggi Kamml – bevor dieses Angebot, "La Isla Minima" zu remaken, zu uns kam – dass es eigentlich interessant ist, dass es so eine Riesenumwälzung gab in unserem Land und da vor allen Dingen der Freudentaumel, die historische Einmaligkeit, also diese ganzen positiven Aspekte beleuchtet wurden und dann natürlich die Aufarbeitung des Unrechtsstaats. Ich fand es aber total spannend, dass so eine Riesenumwälzung, also jede Umwälzung auch Ängste auslöst.
Da Angst nun mal ein Metier des Thrillers und so ein bisschen mein Genre ist, fand ich das eine spannende Zeit, vor allen Dingen, weil wir uns ja heute die ganze Zeit fragen, wo wir eigentlich in unserem Land sind und warum es immer noch, 30 Jahre später, diese Spannungen gibt? Warum ist immer noch nicht alles eins und alles Friede, Freude, Eierkuchen? Ich glaube, dass es in dieser Zeit, in diesen Umwälzungen gar nicht möglich ist, weil das in so einem rasenden Tempo ging und so viele Gefühle dabei eine Rolle spielen. Das gab es schon, so historisch akkurate Dramen, die Akten gewälzt haben und alles ganz genau aufgearbeitet haben. Das ist jetzt eher ein Film über Gefühle, Ängste, Neurosen, die Ereignisse, denen man machtlos gegenübersteht, fast ins Mystische überhöhen.
Wellinski: Es ist ja ein Kriminalfall, und die Vereinigung von BRD und DDR, die findet sehr konkret im Plot statt, in dem Sie nämlich ein Ermittlerduo zusammenführen, das vor dem Mauerfall ja gar nicht zusammen ermittelt hätte. Also wir haben den westdeutschen Patrick Stein und den ostdeutschen Markus Bach, die das Verschwinden zweier Schwestern in der ostdeutschen Provinz ermitteln sollen. Was passiert bei der Konfrontation dieser Lebensläufe? Worauf haben Sie es da abgesehen?
Filmszene aus "Freies Land": Die Kommissare Patrick Stein (Trystan Pütter) und Michael Bach (Felix Kramer) stellen einen "neugierigen" Dorfbewohner zur Rede.
Die Kommissare ermitteln gemeinsam, sind aber ein schwieriges Duo © Verleih Telepool
Alvart: Für mich war zunächst mal wichtig, dass sie nicht nur Chiffren sind für die jeweiligen Länder, sondern auch Individuen. Deswegen habe ich nach den Schauspielern gesucht, die da so eine Physis reinbringen und die sehr individualisieren. Für mich als westdeutsch geborenen Jungen war es ganz wichtig, nicht in irgendwelche Klischeefallen zu tappen.
Deshalb habe ich versucht, für alle ostdeutschen Rollen ostdeutsche Schauspieler zu besetzen, die vielleicht ihre eigenen Lebensläufe mitbringen und ihre eigenen Geschichten und uns auch ein bisschen checken und auf die Finger gucken. Das ist auch tatsächlich passiert in dem einen oder anderen Fall. Dann war es mir wichtig, auch gerade aus der westdeutschen Perspektive, nicht zu urteilen. Ich habe versucht, einen Film zu machen, der keinerlei Urteile ausspricht, sich mit großer Empathie diesen Figuren nähert und versucht, die Reibungen zu analysieren: Wie schauen die aufeinander, was für Vorurteile haben sie? Was lernen sie vielleicht voneinander und wo sind sie viel gleicher als sie sich eingestehen möchten? Deswegen endet der Film auch so, wie er endet, was das Verhältnis von den beiden angeht – auf eine Art zwiegespalten und nicht eindeutig.
Wellinski: Wir gehen ja auch mit dem Westdeutschen in den Film rein. Also wir kommen mit ihm an, es gibt einen Unfall, die Straße ist vereist, es ist überhaupt so ein ekelhafter, fieser Winter. Es liegt zwar kein Schnee, aber man sieht, es ist kalt. In was für eine Gegend kommt dieser Patrick da?

Entlegende Gegenden

Alvart: Auch das funktioniert rein historisch bei uns irgendwie noch besser als in der Vorlage, weil es hier tatsächlich so ein Riesenthema ist, die Landflucht der Bevölkerung. Die Leute vor der Wende haben angefangen, zu fliehen, aber sie haben ja nicht aufgehört, als die Wende kam und haben diese Landstriche verlassen. Das ist eigentlich die ideale Voraussetzung für eine Thrillergeschichte von verschwundenen Leuten, Menschen, Mädchen.
Deswegen gehen wir auch nicht in die Großstadt mit dieser Geschichte, sondern, wie die Vorlage, auch aufs Land, in die entlegenen Gegenden, dahin, wo es keine unmittelbar sichtbare Zukunft gibt, dahin, wo die jungen Mädchen sagen, überall ist es besser als hier. In so eine Gegend, die in erster Linie diesen Eindruck erweckt, dass man da nicht länger bleiben möchte. Ich weiß, dass, wenn man da lebt, man auch andere Perspektiven hat, dass man im Sommer schöne Tage hat. All das ist natürlich auch wahr, aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir von Anfang nachvollziehen wollen, warum man da weg möchte.
Wellinski: Wir können nicht so sehr über den Plot sprechen, weil es die ganze Spannung ist, jede Szene deckt etwas Neues auf, es gibt Bewegungen, die uns irritieren. Was spannend ist: Die Menschen, die befragt werden, diese Landbevölkerung, das sind stumme Menschen, sehr misstrauische Menschen; oder vielleicht, wenn ich mir Ihre Aussage vom Anfang noch mal durch den Kopf gehen lasse, Menschen, die Angst haben?
Alvart: Zunächst mal auch starke Menschen, das war uns wichtig. Ich glaube, das haben wir in der Besetzung auch geschafft, das rüberzubringen. Die Leute, die sich entscheiden, dazubleiben, die sind vielleicht gestählt auch von der Gegend und von der Kargheit. Sie haben vielleicht auch einiges schon erlebt. Es sind ja oft Ältere, die da sind, sie haben noch ganz andere Erinnerungen, teilweise noch aus dem Zweiten Weltkrieg. Es sollte auch nicht so eine Eindeutigkeit in der Darstellung dieser Landbevölkerung geben. Deswegen gibt es so viele Gespräche; deswegen haben die so unterschiedliche Schattierungen; deswegen gibt es Leute, die Vorwürfe in sich tragen. Sie sagen, seit der Wende bekommen wir keine Arbeitsplätze mehr, die Polen machen alles noch billiger, meine ganzen Kinder leben in westdeutschen Städten. Sie tragen so einen Vorwurf in sich, vielleicht sogar einen ganz kleinen Kern von Fremdenfeindlichkeit.
Es gibt aber auch Leute, wie zum Beispiel die Darstellerin, die diese Fischfarm betreut, die einfach die Hoffnung nicht aufgegeben hat und einfach eine Art pragmatischen Zweckoptimismus vor sich herträgt wie eine Rüstung. Es gibt ganz unterschiedliche Menschen, und es war ein Anliegen, dass sie nicht als schwach und Opfer dargestellt werden. Ich habe vorhin davon geredet, dass viele Gefühle und Verletzungen stattgefunden haben. Diese Verletzungen haben auch in der Darstellung in den Medien stattgefunden, also auch die Filme, die aus dieser Zeit stammen, haben sehr viele Menschen in ihrem Ehrempfinden verletzt, gerade die westdeutschen Filme, und das wollten wir nicht wiederholen. Also, es wird immer passieren: Man wird immer irgendwem auf die Füße treten. Ich habe auch schon Leute gehört, die gesagt haben, wir haben die falsche Tapete benutzt, und die Tapete zeige die Arroganz in der Darstellung. Man kann es nicht jedem recht machen, aber es war zumindest nicht unser Anliegen.

Umgang mit Authentizität

Wellinski: Die Frage ist auch, wie authentisch oder historisch akkurat muss es sein. Der Weg, den Sie gehen zur Wahrheit, ist ja einer über die Fiktion, über die Lüge, sagen wir es ganz klar: über das Genre.
Alvart: Genau, für mich gar nicht. Ich bin ja eh kein authentischer Filmemacher. Das kommt und geht in Wellen, wie sehr das gewünscht wird. Momentan ist es sehr gewünscht. Bei jedem zweiten Interview gibt es die Frage, wie authentisch sind Dinge. Aber für mich müssen die Gefühle, Charaktere, Wahrheiten, die dahinterliegen, die müssen authentisch sein.
Für mich muss nicht jedes Fahrzeug oder jedes Flugzeug oder jedes Detail stimmen, um eine Authentizität zu erreichen von dem, was wir erzählen wollen. Es gibt Stoffe, die brauchen das. Es ist nicht so, dass man das gar nicht braucht. Die Art und Weise, wie ich mich den Stoffen nähere, ist eigentlich sehr oft über die Überhöhung und die Verdichtung. Wenn ich einen Stoff mache, der im Jahr 2019 oder 2020 spielt, der nicht politisch aufgeladen ist, dann stört es auch keinen. Es stört immer dann, wenn jemand eigentlich eine Agenda selber hat und sich da dann schon wieder selber drin spiegelt.
Wellinski: Aber ist das nicht auch eine sehr deutsche Nachfrage? Ich finde, es ist schon augenöffnend, dass wir sagen, Ihr Spielfilm ist letztendlich ein Remake von "La Isla Minima", denn dieses Kino gibt es, das sich durch das Genre mit der Vergangenheit eines Landes auseinandersetzt. Aber ehrlich gesagt, "Freies Land", das könnte auch ein Film sein, der irgendwie in Tennessee spielt, es könnte auch so ein Südstaatenthriller sein, mit den Menschen, die stumm sind, in ihren Hütten wohnen, dann kommen irgendwelche Polizisten. Das ist eine Filmtradition, die es in Deutschland in der Form gar nicht gibt.
Alvart: Genau.
Wellinski: Warum eigentlich nicht?
Der Regisseur Christian Alvart
Der Regisseur Christian Alvart hat zahlreiche Tatorte gedreht, betont aber den Unterschied zum Kino. © picture-alliance/dpa/Daniel Reinhardt
Alvart: Das weiß ich nicht. Ich versuche seit 21 Jahren das zu ändern. Ich finde es ein bisschen bizarr für mich als jemand, der selber ins Kino geht und dort Filme aus allen Ländern schaut, warum ich jetzt hier irgendwelche Barrieren oder Einschränkungen in den Filmen, die wir machen, empfinden soll oder befolgen soll. Ich habe mich schon immer dem internationalen Kino genähert, mit der internationalen Filmsprache, und es wird teilweise positiv aufgenommen.
Wenn man dann einen "Tatort" macht und der, sage ich mal, bisschen internationaler aufhört, kriegt man ganz tolle Kritiken, weil man so einen Flair in den "Tatort" bringt. Aber sehr oft heißt es auch, man macht amerikanische Filme. Dabei ist das Quatsch, weil Hollywood ist ja die Welthauptstadt des Kinos, nicht die US-Hauptstadt. Da haben schon immer Migrationen nach Hollywood stattgefunden und das hat eigentlich die internationale Champions League der Filmemacher abgebildet. Zu sagen, man versucht Hollywood zu sein, bedeutet, man versucht, gut zu sein.

Zeit nehmen für Atmosphäre und Figuren

Wellinski: Aber es ist ja interessant, dass Sie den "Tatort" erwähnt haben. Sie haben ja sehr erfolgreiche "Tatorte" gedreht. Wie würden Sie sagen, was unterscheidet denn einen deutschen Kinothriller wie "Freies Land" von einer klassischen "Tatort"-Folge? Die Zutaten sind ja die gleichen: ein Ermittlerduo, es gibt einen Fall, es gibt eine Region. Dennoch ist das Kino und das andere ist Fernsehen. Liegt das vielleicht daran, dass der Erfolg vom "Tatort" auch so ein bisschen Filmemacher zwingt, in die Richtung zu gehen, also stärker Fernseh-Ästhetik zu bedienen, auch im Kino?
Alvart: Ich habe bei meinen "Tatorten" das große Glück gehabt, dass vom Sender aus nicht gefragt wurde, die typischen "Tatorte" zu machen. Ich habe jetzt zwei Borowskis gemacht, gleich der erste war eine Henning-Mankell-Verfilmung, der zweite war "Der stille Gast" mit einer sehr außergewöhnlichen Geschichte; und dann die Action-"Tatorte" von Til Schweiger. Deswegen habe ich, obwohl ich sechs "Tatorte" gemacht habe, tatsächlich noch keinen typischen gemacht. Ich glaube, was "Freies Land" massiv unterscheidet von einem "Tatort", ist die Ambivalenz der Ermittler, die historische Geschichte, aber vor allen Dingen die absolute Möglichkeit, die Laufzeit über 90 Minuten anzuheben und sich Zeit zu nehmen für Atmosphäre und Figuren.
Wenn man das beim "Tatort" machen will, muss man das auf jeden Fall auf Kosten des Plots machen, weil 90 Minuten einfach eine sehr enge Plotstruktur brauchen. Und wenn man da mehr auf die Atmosphäre gehen will, dann wird die Geschichte sofort dünn. Hier haben wir zwei Stunden Zeit, wir können große Bilder machen, wir können in der Musik schwelgen, wir können in den Gesichtern schwelgen. Das ist etwas, das man im Kino machen kann. Es ist auch dialogärmer. Im Fernsehen wird immer noch erwartet, dass man Bitteschön alles auch im Dialog noch mal anspricht, weil es einfach von einem abgelenkten Zuschauer ausgeht. Im Kino geht es vom konzentrierten Zuschauer aus, das ist der Hauptunterschied.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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