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Einmal jüdisch, immer jüdisch

Dem Judentum ist der Missionsgedanke fremd. Dennoch gibt es Menschen, die zum Judentum konvertieren. Grundsätzlich steht die Tür zum Judentum jedem offen. Doch die Hürden für eine Aufnahme liegen verhältnismäßig hoch.

Von Carsten Dippel | 11.07.2012
    Als Jude gilt, wer eine jüdische Mutter hat. Oder vor einem religiösen Gericht konvertiert. Die Hürden für eine Aufnahme liegen verhältnismäßig hoch.

    "Du musst schon an Gott glauben. Du musst das Gefühl haben, dass in Dir ein Sinn für Spiritualität und Religiosität steckt. Sonst kannst Du das vergessen! Das ist schließlich keine rein philosophische Sache."

    Michael ist Mitte vierzig. Er hat einmal Israelwissenschaften in Berlin studiert. Wenn Freunde am Freitagabend durch die Kneipen ziehen, geht er heute nicht mehr mit. Denn dann beginnt der Shabbat. Michael ist dabei, Jude zu werden. Für Michael, der eigentlich anders heißt und auch nicht ins Mikrofon sprechen möchte, ist das etwas sehr Intimes.

    Das Christentum kennt die Aufforderung, alle Menschen zu Christen zu machen. Und auch dem Islam ist das lautstarke Werben um die Vorzüge der eigenen Religion nicht fremd, wie jüngst die Straßenaktion von Salafisten zeigte, bei der der Koran verteilt wurde. Ganz anders im Judentum: Zwar gehören Konvertiten auch zu dessen Geschichte. Doch innerjüdisch hat es immer wieder Vorbehalte gegen Konvertiten gegeben. Kann denn jemand, der nicht in die jüdische Gemeinschaft hineingeboren wurde, wirklich dazugehören? Auf jeden Fall fremd ist dem Judentum der Missionsgedanke. Und doch gibt es Menschen, die zum Judentum konvertieren. Wie Michael.

    Als Jude gilt, wer eine jüdische Mutter hat. Oder vor einem religiösen Gericht, dem Beit Din, konvertiert. Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Am Anfang steht das Gespräch mit einem Rabbiner.

    "Die Leute kommen manchmal mit der Frage, wie kann ich jüdisch werden, und ich frage, warum müssen Sie jüdisch werden? Und wenn jemand kommt und sagt, ich bin christlich erzogen worden, ich bin getauft jetzt habe ich Interesse an den jüdischen Wurzeln des Neuen Testaments, sage ich: Super, fein, Mazel tov! Bleiben Sie so! Sie müssen nicht jüdisch werden. Und was auch immer Sie sind, Sie passen – wenn Sie natürlich ethisch-moralisch leben können – sie passen zu Gottes Wunsch. Man muss nicht jüdisch werden. Man kann Bücher lesen, das genügt."

    Walter Rothschild ist ständig auf Achse. Er betreut als Wanderrabbiner kleine liberale Gemeinden in Köln, Freiburg, Schleswig-Holstein. Dort leitet er auch Kurse für Übertrittswillige. Sechs bis sieben Interessierte kommen pro Jahr zusammen. Auch Michael hat einen seiner Kurse besucht.

    "Wir reden von einer inneren psychologischen, spirituellen Transformation. Es gibt Leute, die suchen Jahren ihre Identität, weil sie plötzlich einen jüdischen Großvater entdeckt haben in Stammbaum oder Ähnliches. Es gibt Leute, die plötzlich enthusiastisch sind, weil sie eine neue Geliebte haben. Allerlei Leute. Aber wirklich: Wir reden von einer Beziehung zu Gott, ein Bund, ein Brit mit Gott. Wir reden von einer kleinen Minderheit. Man wird eine Minderheit innerhalb der Minderheit. Wir reden von einer lebenslangen Entscheidung. Nach jüdischem Konzept: einmal jüdisch, immer jüdisch."

    Grundsätzlich steht die Tür zum Judentum jedem offen. Doch die Hürde für eine Aufnahme liegt vergleichsweise hoch. Rabbiner Rothschild rät lieber einmal ab, als dass er falsche Hoffnungen weckt. Denn das Judentum befreie nicht zu etwas, sondern lege jede Menge Pflichten auf.

    "Konversion zum Judentum heißt, man muss sehr viel lernen, im Sinn von einem Gottesdienst in einer Fremdsprache. Speisegesetze, neue Kalender, viele Sachen, die man vielleicht am Anfang nicht wirklich dran denkt. Dazu gibt es das Problem, das Jüdischsein ist fast immer schwerer zu leben, unterdrückt, vertrieben oder Schlimmeres. Gott sei dank nicht gerade zu diesem Zeitpunkt hier jetzt, aber die Leute müssen vorbereitet sein und wissen, dass es keine leichte Sache ist. Also, bevor wir sagen enthusiastisch "Kommt zu uns, kommt zu uns, alles ist wunderbar!" muss man die Leute ein bisschen warnen. Denken Sie darüber nach: Ist es wirklich das, was Sie brauchen? Müssen Sie es tun? Und wir machen es also nicht zu einfach. Nicht unmöglich, aber nicht einfach."

    In intensiven Gesprächen werden die Übertrittswilligen vom Rabbiner nach ihren Motiven befragt. Was folgt ist ein einjähriger Kurs, in dem alle wesentlichen Grundlagen zur jüdischen Religion vermittelt werden. Bevor es zur Aufnahmeprüfung vor dem Beit Din kommt, werden noch Papiere geprüft. Für Männer steht schließlich noch die Beschneidung an.

    "Es gab keinen plötzlichen Entschluss, so, jetzt will ich Jude werden. Das war ein Herantasten. Eine Art Lernprozess über das Judentum, der lange vor der Idee zu konvertieren begann. Du lernst die Vitalität, die Offenheit, die Spiritualität kennen durch Israel-Besuche. Durch Gottesdienste, Familienfeiern, jüdische Freunde. Und irgendwann hat sich bei mir der Wunsch entwickelt, dazuzugehören - zu genau dieser Religionsgemeinschaft."

    Michael stammt aus Dresden, ist groß geworden im protestantischen Milieu. Christenlehre, Konfirmation, zu DDR-Zeiten immer auch ein Zeichen der Auflehnung gegen den Staat. Später ging Michael für einige Monate in einen Kibbuz. Seit dieser Erfahrung zog es ihn Jahr für Jahr aufs Neue nach Israel. Einen ähnlichen Weg hat auch Anemone Nitzan Stein-Kokin beschritten. Sie wuchs in Baden-Württemberg auf. Auch sie wurde christlich erzogen und fand schließlich über das Studium in Israel zum jüdischen Glauben.

    "Ich glaube, es war weniger ein Schritt, dem Christentum ade zu sagen. Die Ganzheitlichkeit hat mich sehr am Judentum angesprochen. Ich finde, dass gerade das Shabbathalten die Art, sich wirklich aus dem Alltag herauszunehmen, und zum Beispiel den Computer nicht anzuschalten und keine Email zu checken, einfach authentischer ist wie Gott ruhte am siebten Tag von der Schöpfung."

    Sie selbst trat 1999 in Israel über. Inzwischen ist sie mit einem amerikanischen Juden verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Berlin. Dort gibt sie an einer Grundschule jüdischen Religionsunterricht. Und einmal wöchentlich leitet sie einen Konversionskurs für einen liberalen Rabbiner. Dass sich die Teilnehmer Zeit dafür nehmen, ist ihr wichtig.

    "Die Hebräische Sprache, der Umgang mit dem Gebetsbuch, mit der Liturgie, ist sehr umfangreich. Das kennen zu lernen, da nen guten Einblick zu bekommen, das ist wichtig, daran kann man viel Grundsätzliches schon verstehen."

    Mit dem Eintritt in die jüdische Gemeinschaft ändert sich Grundlegendes im Leben. Zunächst ganz praktisch in kleinen, alltäglichen Dingen:

    "Jeder jüdische Familienhaushalt braucht eine kleine Bibliothek: Gebetbücher, Bibel, Kochbücher, Geschichtsbücher. Was auch immer. Man braucht ein paar rituelle Sachen: die Kerzenleuchter, die besonderen für die Chanukkafest, die anderen für den Shabbat am Tisch, bestimmte Teller oder Brett für den Shabbatbrot, einen Becher für den Kiddusch, den Weinsegen. Man braucht diese Sachen, man muss wissen, wie sie zu benutzen sind. Es nicht so furchtbar kompliziert, aber es ist komplizierter, als viele denken."

    Eine Konversion bedeutet immer auch aus der vertrauten Welt herauszutreten, in der man groß geworden ist. Freunde, Familie, das persönliche Umfeld. Andere Rituale, Festtage warten. Das Leben bekommt einen ganz neuen Rhythmus.

    "Das große Umfeld ist nicht involviert. Ein paar Freunde sind eingeweiht. Sie haben überwiegend verständnisvoll reagiert. Keiner hat mir abgeraten. Allerdings hielt sich die Neugier, was ich da treibe, in Grenzen. Meine Familie zeigte sich jedoch betroffen. Hofft wohl auch, dass ich es mir noch anders überlege. An sich ist sie jüdischen Themen und Juden gegenüber aufgeschlossen. Sie ist aber auch sehr konservativ-protestantisch. Und wenn ein Protestant zum Judentum "überläuft", na ja, dann gilt er ja als verloren. Ich muss dazu sagen: Ich bin vor zwei Jahren aus der Kirche ausgetreten. Ich möchte daher nicht als Überläufer angesehen werden. Sowohl das Annähern ans Judentum als auch das Abnabeln vom Christentum war für mich ein Prozess, der Zeit braucht."

    So wichtig Gebote und Vorschriften über den rituellen Alltag im Judentum sind: Ganz oben stehen Familie und Gemeinschaft. Ein Jude soll Mitglied in einer jüdischen Gemeinde werden. Eine Familie gründen und das Jüdischsein weitergeben. Rabbiner Rothschild:

    "Jude allein geht nicht. Die Gebete sind alle in Wirform: Unser Gott, hilf uns. Es geht nicht um mich allein. Das wäre die reine Egoismus. Man muss einige Sachen kaufen ab und zu. Nicht jeder fromme Jude möchte jeden Tag nur koscher Sachen kaufen, aber für bestimmte Jahreszeiten gibt es bestimmte Lebensmittel, die sind nur in einer begrenzten Zahl von Läden zu finden. Man kann nicht alles per Amazon bestellen. Man wird einsam. Es braucht eine Gemeinschaft. Wo findet man die Leute, mit denen man reden kann, mit denen man schimpfen kann. Wo findet man die Zeitungen, die man kaufen möchte. Wo findet man Freunde für die Kinder. Gemeinschaft ist wichtig."

    Für Michael ist der Weg ins Judentum noch längst nicht zu Ende.

    "Es wird ein anderes Gefühl sein, eine Synagoge regelmäßig zu besuchen. Eben nicht als interessierter Zaungast, sondern als Teil des Ganzen. Ich habe den Kurs für ein Jahr besucht, war aber eben noch nicht so weit zu sagen: Jetzt geht’s zum Beit Din. Ich glaube, fast der ganze Kurs war noch nicht so weit. Einige Teilnehmer haben das dann aber schon wenige Monate später durchgezogen - und, wenn ich es richtig verfolge, haben sie es wohl nicht bereut."