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Einseitige Parteinahme deutscher Politik ist "nicht zielführend"

Die Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf die Eskalation im Gazastreifen sei zu undifferenziert, meint der Nahost-Experte Michael Lüders. Bei der Beurteilung der Lage müssten die Gründe für die Raketenangriffe der Hamas betrachtet werden. Wenn man die Radikalen schwächen wolle, müsse man den Menschen im Gazastreifen eine Perspektive geben.

Michael Lüders im Gespräch mit Mario Dobovisek | 21.11.2012
    Bettina Klein: Den ganzen Abend über wurde gewartet auf eine Waffenruhe in Nahost, die angeblich schon so gut wie vereinbart gewesen sei, wenigstens eine Erklärung über eine Feuerpause, die um Mitternacht in Kraft treten sollte. Doch dann nichts: Israel flog weiter Angriffe auf den Gazastreifen, die Hamas feuerte in die andere Richtung. Nun übernimmt US-Außenministerin Clinton ihre Vermittlungsmission. Ob ihr mehr Erfolg vergönnt sein wird als den Europäern und der UNO?

    Mein Kollege Mario Dobovisek hat gestern Abend mit dem Nahost-Experten Michael Lüders gesprochen und ihn zunächst gefragt, was eine Waffenruhe in Nahost im Moment eigentlich bewirken kann.

    Michael Lüders: Politik ist manchmal sehr zynisch und natürlich wird auch für den Fall, dass es zu einem Waffenstillstand kommt, nicht die Krise beseitigt sein. Es ist ja doch etwas schlicht zu sagen, dass die Krise allein dadurch ausgelöst würde, dass radikale Palästinenser Raketen auf Israel schießen, wie der Bundesaußenminister gesagt hat. Natürlich sind solche Raketenangriffe völlig inakzeptabel und natürlich hat Israel das Recht, sich dagegen zu verteidigen. Aber es bleibt doch zu fragen: warum kommen diese Geschosse immer wieder aus dem Gazastreifen? Handelt es sich hier allein um fanatischen Islam, oder haben nicht auch die furchtbaren Lebensbedingungen im Gazastreifen ihren Anteil daran? Die Menschen im Gazastreifen leiden fürchterlich, sie haben keine Perspektive, sie leben in einem Freiluftgefängnis. Wenn man die Radikalen schwächen will, sollte man idealerweise Lebensbedingungen schaffen, die eine Zukunft für die Mehrheit der Palästinenser dort ermöglichen.

    Mario Dobovisek: In Israel wird im Januar gewählt. Steckt in Israels starken Luftschlägen auch ein Stück weit Wahlkampf?

    Lüders: In gewisser Weise schon. Es gab einen interessanten Beitrag in der israelischen Zeitung "Haaretz". Der Autor argumentiert, dass Benjamin Netanjahu diesen Krieg im Gazastreifen nicht allein führt, um die israelische Bevölkerung vor Raketenangriffen zu schützen, sondern vor allem auch, um Waffensysteme zu testen und die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft auf sich wirken zu lassen. Demzufolge sei dieser Krieg in Gaza eine Übung für ein Ziel, das er im nächsten Jahr in Angriff nehmen wolle, nämlich die Überlegung, gegebenenfalls das Projekt, den Iran anzugreifen, wieder aufzunehmen. Gemäß dieser Auffassung würde auch noch ein Angriff auf die Hisbollah im Libanon bevorstehen, so die israelische Zeitung "Haaretz". Sollte das tatsächlich das Ziel von Benjamin Netanjahu sein, hat er aber in diesem Jahr zweimal einen politischen Rückschlag erlebt. Die Amerikaner haben ihm nicht erlaubt, Krieg zu führen gegen den Iran, nicht in diesem Jahr, und dieser Krieg, der jetzt geführt wird im Gazastreifen, auch wenn die Menschen dort einen furchtbaren Preis bezahlen, hat die Hamas massiv gestärkt und hat die Muslim-Bruder-Regierung in Ägypten ebenfalls sehr stark aufgewertet. Also die Gegner der Politik Benjamin Netanjahus sind jetzt stärker denn je.

    Dobovisek: Blicken wir doch noch einmal auf die Rolle der Vermittler. Wie bedeutend ist da der deutsche Beitrag, der ja kein wirklicher Vermittlungsversuch sein soll?

    Lüders: Na ja, ich denke, dass die deutsche Haltung zur Kenntnis genommen wird in der Region. Natürlich wissen die Araber, dass die Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheit ein besonderes Verhältnis haben zu Israel. Dennoch ist die sehr einseitige Parteinahme deutscher Politik durch den Außenminister und durch die Kanzlerin sicherlich nicht zielführend. Der französische Außenminister Fabius erklärte mit Blick auf die Ereignisse, dass natürlich Israel ein Recht habe, in Frieden zu leben, aber dass dieser Friede nicht erreicht werde durch dieses massive Bombardement des Gazastreifens, es bedürfe einer politischen Lösung, so Fabius. Ich denke, dass dieser Ansatz doch sehr viel mehr Differenzierung enthält als der Standpunkt des Bundesaußenministers.

    Dobovisek: Was bedeutet die jüngste Eskalation für das Erreichen der Zwei-Staaten-Lösung? ist die jetzt in weite, unerreichbare Ferne gerückt?

    Lüders: Sie war auch schon vor dem Angriff in unerreichbarer Ferne. Die israelische Regierung, die sehr stark geprägt wird von Ultranationalisten, von Vertretern der Siedlungsbewegung und von Ultraorthodoxen, denkt ja nicht im Ernst daran, die besetzten Gebiete zu räumen für die Gründung eines palästinensischen Staates. 60 Prozent des Westjordanlandes sind mittlerweile im Besitz israelischer Siedler. Am 29. November wird die palästinensische Autonomiebehörde vor den Vereinten Nationen ihre Aufwertung beantragen und einen Sitz beantragen als ständiger Beobachter, was ihr erlauben würde, auch Resolutionen einzubringen in die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Sowohl Israel wie auch die USA haben gedroht, für diesen Fall die Autonomiebehörde wirtschaftlich massiv unter Druck zu setzen und die Kontakte zu ihr einzustellen. Also auch die gemäßigten Palästinenser – Mahmud Abbas ist so gemäßigt, einen besseren Verhandlungspartner werden die Israelis nie wieder bekommen -, aber auch er bekommt nichts, was er den Palästinensern als Erfolg verkaufen könnte, und das Ergebnis ist, dass er immer mehr geschwächt wird und die Hamas immer stärker wird.

    Klein: Der Nahost-Experte und Publizist Michael Lüders gestern Abend im Deutschlandfunk. Die Fragen stellte mein Kollege Mario Dobovisek.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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