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Einstein auf dem Prüfstand (Teil 6)
1968: Die Shapiro-Verzögerung

Die allgemeine Relativitätstheorie besagt unter anderem, dass im Schwerefeld der Sonne das Licht ein bisschen langsamer läuft als anderswo. 1968 bestätigte der Astrophysiker Irwin Shapiro die Richtigkeit von Einsteins These in einer Versuchsreihe - mithilfe eines Radioteleskops und Radarimpulsen.

Von Dirk Lorenzen | 07.07.2015
    Irwin Shapiro trat als junger Astrophysiker eine Stelle am Lincoln Laboratory an, einer von der US-Luftwaffe unterstützten Einrichtung des Massachusetts Institute of Technology bei Boston. Dort beschäftigte er sich Anfang der 60er-Jahre viel mit den Bahnen der ersten Satelliten, dem exakten Lauf der Planeten und mit der noch recht neuen Radartechnik. Ende 1964 machte er dann mit einem wissenschaftlichen Paukenschlag international auf sich aufmerksam: In der Fachzeitschrift "Physical Review Letters" veröffentlichte er einen zweieinhalbseitigen Text, dessen knapper Titel klar machte, dass es dem Autor weder an Kompetenz noch an Selbstbewusstsein mangelte:
    "Vierter Test der allgemeinen Relativität"
    Shapiro kam in seinem Artikel, der längst zu den Klassikern der Physik gehört, gleich in den beiden ersten Sätzen zur Sache:
    "Die jüngsten Fortschritte in der Radarastronomie machen einen vierten Test der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie möglich. Dafür misst man die Zeitverzögerung zwischen dem Aussenden von Radarpulsen zu einem der inneren Planeten (Venus oder Merkur) und dem Empfang des Echos."
    Die Verzögerung beträgt rund 200 Mikrosekunden
    Dieser Test ist ebenso einfach wie überzeugend – und heute ein Standardverfahren, erklärt Benjamin Knispel vom Albert-Einstein-Institut für Gravitationsphysik in Hannover:
    "Man sendet ein Radarsignal zu Merkur oder Venus, während die sich auf der erdabgewandten Seite der Sonne befinden. Dann läuft dieses Radarsignal einmal an der Sonne vorbei auf dem Weg zum Merkur und auf dem Rückweg nochmal, durchläuft also zweimal sozusagen den Schwerfeldtrichter der Sonne in der Raumzeit. Und was die allgemeine Relativitätstheorie dann vorhersagt ist, dass in dem Schwerefeld, in der Nähe der Sonne sozusagen, das Licht ein bisschen langsamer läuft. Es braucht also etwas länger als wenn die Sonne nicht da wäre."
    Die Verzögerung beträgt rund 200 Mikrosekunden, hängt aber stark davon ab, wie nahe die Sichtlinie zu Merkur oder Venus an der Sonne vorbei läuft. Irwin Shapiro hat am Ende seines Artikels gleich auf vier Tage in den folgenden Jahren hingewiesen, an denen Merkur oder Venus von der Erde aus gesehen nahe genug an der Sonne stünden.
    "Shapiro hat das eben tatsächlich gemacht mit Radarmessungen. Das bedeutet, ein großes Teleskop auf der Erde, ein Radioteleskop, schickt einen Radarpuls los zur Venus oder zum Merkur. Der wird dort an der Oberfläche reflektiert, kommt zurück, ich fange ihn auf der Erde wieder auf und kann letztendlich die Laufzeit messen. Ich weiß ja, wann ich ihn losgeschickt habe, starte eine sehr genaue Stoppuhr, warte, bis er wieder ankommt und weiß, wie lange das Ganze gedauert hat."
    Eine Messung allein reicht jedoch nicht. Die Forscher interessieren sich für die Verzögerung, also für den Unterschied der Laufzeit – und müssen die Radarbeobachtungen daher mehrfach durchführen, betont Benjamin Knispel:
    "Das mache ich idealerweise einmal, wenn die Sonne eben gerade ungefähr in der Sichtlinie steht, schieße knapp an der Sonne vorbei den Radarpuls, und dann wiederhole ich das Ganze ein paar Monate später, wenn die Sonne an einer anderen Stelle steht oder der Merkur nicht mehr genau dahinter. Dann sehe ich eben, dass es im zweiten Fall schneller geht, weil eben nicht mehr die Verzögerung durch die Sonnenmasse auftritt."
    1968 hatten Irwin Shapiro und einige Kollegen genau die von der Theorie vorhergesagte Verzögerung gemessen: die Einsteinsche Idee war wieder einmal bestens bestätigt. Dass die Radarstrahlen an der Sonne vorbei länger brauchen, hat nichts damit zu tun, dass durch einen anderen relativistischen Effekt die Wegstrecke des Radarstrahls etwas gekrümmt ist.
    "Nein, es ist tatsächlich nicht der lange Weg, den es braucht, denn diese Wegabweichung ist viel kürzer sozusagen, sondern es ist ein zusätzlicher Effekt, der eben dadurch auftritt, dass in dem Schwerefeld die Zeit anders verläuft. ... Also wenn der Lichtstrahl durch das Schwerfeld läuft, läuft seine interne Uhr eben etwas anders als wenn das Schwerefeld nicht da wäre."
    Diese Zunahme der Laufzeit heißt inzwischen Shapiro-Verzögerung. Die Karriere ihres Entdeckers hat sie eher beschleunigt: Irwin Shapiro war mehr als zwei Jahrzehnte lang Direktor des renommierten Harvard-Smithsonian Centers für Astrophysik – seit 2004 lebt er im Ruhestand.