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Eintauchen in die Fiktion

Kulturpessimistische Theoretiker behaupten, dass das Internet zur Verarmung von Beziehungen führt. Jetzt sind zwei Bücher erschienen, die differenzierter mit dem Thema umgehen. Sie zeigen, dass das Internet interaktive Möglichkeiten erweitern kann und nicht nur einschränkt.

Von Thomas Kleinspehn | 02.07.2013
    Je mehr der virtuelle Körper mit mir zu tun hat, desto realer ist er für mich. Wenn das so ein konstruierter … Ich bin 1,75 groß, habe lange blonde Haare, blaue Augen, habe Körbchengröße 75 D, was weiß ich … Das ist wie so ne Puppe, die ich da hinstelle und die ich wie so ein Puppenspieler bewegen kann. Aber wirklich zu tun hat es mit mir nichts.

    So hat das Steffi dem Soziologen Arne Dekker erzählt. Der Mitarbeiter am Institut für Sexualwissenschaften der Universität Hamburg hat mit zwanzig Menschen intensive Gespräche über deren Erfahrungen mit virtuellen Sexkontakten im Internet geführt und das in einem Buch festgehalten. Es waren Nutzer, die über einen längeren Zeitraum mit anderen Menschen im Netz kommuniziert und mit ihnen überwiegend sexuelle Vorstellungen und Fantasien ausgetauscht haben. Manche haben dabei ganz eigene, neue Identitäten für sich erfunden, ihr Geschlecht oder ihre Körper bewusst anders beschrieben, als sie in der Realität sind. Manche haben sich nur in ungewöhnliche Formen von sexuellem Verhalten hineinfantasiert. Immer ging es dabei aber um das Verhältnis von virtuellen und realen Räumen. An solchen neuen Formen medialer Kommunikation entzünden sich schon seit Jahren heftige Diskussionen über die Auswirkung von Medien auf den Alltag und vor allem die Beziehung von Menschen untereinander.

    Kulturpessimistische Forscher und Theoretiker behaupten in diesen Debatten meist, dass das Internet zur Verarmung von Beziehungen führe. Jetzt sind parallel zwei Bücher erschienen, die differenzierter mit dem Thema umgehen. Dabei thematisiert der von Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto herausgegebene Sammelband "Bildwerte" das allgemein, was Arne Dekker in seiner Studie zum Online-Sex konkret untersucht hat. Alle sind davon überzeugt, dass das Internet interaktive Möglichkeiten erweitern kann und nicht nur einschränkt. Bilder sind uns wieder näher, sagt Freyermuth.

    "Wir können auf jeden Fall sehen, dass mit der Renaissance die Bilder sich von der Umwelt und den Menschen entfernten und sich nun in der augmented reality z.B. über die Umwelt legen und in 3D und Touch wieder in Kontakt, in interaktiven Kontakt mit den Betrachtern treten. Das sind zwei nachhaltige Veränderungen."

    Gundolf S. Freyermuth geht es darum, die digitale Medienkultur in den historischen Kontext zu stellen. Dafür dekonstruiert der Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der Internationalen Filmschule Köln die verschiedenen Stufen medialer Entwicklung - von dem Bilderrahmen und der Zentralperspektive in der Renaissance über die technische Reproduzierbarkeit der Bilder im 19. Jahrhundert bis hin zu ihrer Digitalisierung in den letzten dreißig Jahren. Der Sammelband "Bildwerte" versucht eine Bestandsaufnahme. Er behandelt vor allem die letzten beiden Abschnitte, zunächst mit reproduzierbaren und schließlich mit virtuellen Bildern.

    "Wir haben mit der Etablierung der Perspektive in der Renaissance einen perspektivischen Realismus bekommen, einen malerischen Realismus, und wir haben dann im zweiten großen neuzeitlichen Schub der Industrialisierung mit der Fotografie eine zweite, neue Form des Realismus bekommen, den wir Fotorealismus nennen und der sich auf den ersten Blick deutlich von dem malerischen Realismus unterscheidet, und die Fotografie zeichnet sich eben im Gegensatz zur Malerei dadurch aus, dass sie unmittelbar Lichtspuren speichert und deswegen auch als Beweis, als Dokument dienen kann. Und nun erleben wir die Durchsetzung einer dritten Form, die wir Hyperrealismus nennen, die eine fotorealistische Anmutung hat, die aber nicht mehr als Dokument dienen kann, die keine wirklichen Niesspuren mehr speichert. Das ist natürlich eine dramatische Veränderung."

    Führte die Malerei der Renaissance mit der Schaffung eigeständiger und für sich selbst stehender Gemälde die Bilder noch vom Menschen weg, so rücken mit der Digitalisierung Bild und Betrachter wieder sehr viel enger zusammen. Das Zeitalter unendlicher Reproduzierbarkeit von Bildern bedeutet zunächst, dass einzelne Bilder privater und individuell verfügbar wurden. Die Digitalisierung der Gegenwart sprengt in einem weiteren Schritt dann die Grenzen selbst zwischen Realität und Bild, was die Wissenschaftler "Immersion" nennen.

    "Das heißt, die Trennung von Betrachter und Bild wird aufgehoben, sowohl über die Interaktion, wie auch das mediale Eintauchen, 3D, 360-Grad-Projektionen, all diese Dinge, die wir im Augenblick entwickeln, 4D-Kino, Bewegungskino, drängen in eine große Richtung, nämlich Immersion. Das ist nicht nur Steigerung der Illusionierung, sondern das ist auch Steigerung des Eintauchens in die Fiktion, insofern als wir sie multilinear, wie sie zunehmend werden, beeinflussen können."

    Diese Tendenzen haben eine medientechnische Seite. Wichtiger ist Freyermuth jedoch die ästhetische Dimension, die den Betrachter aus passiver Kontemplation herausreißt und ihm zumindest die Möglichkeit gibt, aktiv zu gestalten. Der Mitgründer des "Cologne Game Lab" meint hier vor allem interaktive Spiele und Filme. Einzelne Autoren im Sammelband thematisieren diese fließenden Grenzen zwischen Realität und Fantasie nicht nur an solchen Beispielen, sondern auch an Google Earth oder dem Chat. Wie in vielen Sammelbänden wirken manche der Aufsätze allerdings ein wenig isoliert und sind deutlich ohne einen gemeinsamen Bezugspunkt entstanden. Sie könnten auch in einem anderen Buch stehen. Da ist Arne Dekkers Studie zu Online-Sex schon geschlossener und auf eine zentrale Frage hin zugespitzt. Ganz explizit gerät bei ihm so das Thema Immersion in den Blick, wenn er sich fragt, was virtueller Sex für Menschen bedeuten kann.

    "Im Internet, wenn man da Sex hat, dann ist die Frage, bist du eigentlich wirklich der, der du zu sein vorgibst, ganz relevant. Man muss sie dann nicht korrekt beantworten, aber trotzdem wird auf diese Weise der fiktionale Körper immer wieder an den realweltlichen zurückgebunden. Und ich würde nun sagen, dass für die Gruppe, die sich in ihren fiktionalen Körper hineinfantasiert, es tatsächlich Erlebnisse gibt, wo die sich mit ihrer sexuellen Interaktion online und mit ihrem eigenen Begehren, mit dem, was sie toll finden, sich selbst überraschen. Aus meiner Sicht gilt das nicht so sehr für diese Erzählungen, die gelegentlich als sexuelles Empowerment verkauft werden. Man kann sich erst einmal kognitiv mit seinen Rollen beschäftigen und guckt an, wie das geht, aber das kommt mit einem hohen Preis, weil man tatsächlich unterworfen wird den Mechanismen des virtuellen Markts. Und es gibt viele Befragte, die mir erzählt haben von der Enttäuschung darüber, dass die andere Seite den Kontakt abbricht, in dem Moment, wo man nicht den erwarteten Rollen als sexuelles Subjekt entspricht."

    Dekker teilt die Befragten seines Samples in zwei Gruppen auf. Sie weisen manche Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich aber vor allem darin, wie stark die einzelnen Nutzer sich selbst und ihre Körper in den virtuellen Raum integrieren. Ein Teil der von Dekker Befragten erlebt sich in der Chat-Situation als stark eingebunden und vorübergehend von der realen Welt getrennt. Das sind für ihn utopische Räume. Die andere Gruppe dagegen, die er heterotopisch nennt, wahren stets eine gewisse Distanz zu ihrer Figur und inszenieren sie ähnlich wie Steffi als Teil eines Puppenspiels.

    "Es ist für den Sex ein großer Unterschied, ob man sich hineinbegibt in die Fantasie und da etwas erlebt mit einem erzählten Körper, wo das Subjekt mit einem anderen Körper unterwegs ist, oder ob man von außen drauf guckt. Und mein Eindruck war – das ist vielleicht auch eines der Motive für diese Untersuchung gewesen –, dass viele Theorien zu Online-Sex oder Online-Interaktion insgesamt, sich sehr konzentriert haben auf dieses Von-Außen-Drauf-Gucken, auf das Internet als elektronische Probebühne. Diese Erzählungen, man kann da hineingehen und man kann Erlebnisse haben in anderen Rollen. Und mein Eindruck ist, erstens gilt das eben nur dann, wenn man von außen drauf guckt, nicht wenn man sich hineinfantasiert, und zum anderen gibt es das Phänomen, das man immer wieder auf seinen realweltlichen Körper zurückgeworfen wird."

    Deshalb ist das entscheidende Ergebnis dieser empirischen Untersuchung, dass die Befragten sich durchaus alle intensiv in virtuelle sexuelle Welten begeben und dort auch weitreichende Erfahrungen machen. Die reale Welt jedoch bleibt dabei nicht durchgehend außen vor. Nach Dekkers Beobachtung sind es nicht zwei Welten, sondern die reale Welt öffnet sich zum Internet, sodass immer die inszenierte Welt im Netz deutliche Spuren der Realität enthält. Der Sexualwissenschaftler spricht hier deshalb von der Verdopplung der Körper in realen und virtuellen Räumen.

    "Ich glaube, dass der Einfluss dieser virtuellen Praktiken auf die realweltlichen oft überschätzt wird. Was man sich klarmachen muss, ist, dass ne sexuelle Fantasie, auch das Kennenlernen einer neuen sexuellen Fantasie, selbst das Erregtwerden erst mal überhaupt noch nicht bedeutet, dass man die dann in der Praxis umsetzt. Abgesehen davon, dass ich sagen würde, dass insbesondere bei jüngeren Menschen, die aufgewachsen sind mit einer großen Selbstverständlichkeit sozialer Netzwerke, für die ist die Vorstellung einer Alternativwelt sowieso vollkommen absurd. Die verbringen selbstverständlich Teile ihrer Tage im Netz und einen anderen Teil ihres Alltags verbringen sie realweltlich mit denselben Leuten zusammen. Die Vorstellung, dass es sich da um zwei Welten handelt, die mit sehr unterschiedlichen Regeln funktionieren, die leuchtet mir nicht ein."

    Damit setzt sich Dekker deutlich von einer kulturpessimistischen Haltung ab, die Menschen in virtuellen Welten und Chats geradezu autistische Züge gibt. Mit vielen Zitaten aus den Interviews belegt er vielmehr seine These, dass Online-Sex eine Erweiterung von Erfahrungsräumen ist und nur in seltenen Fällen zur völligen Isolierung führt. Reduzierten Sex und Formen von Sucht gibt es natürlich. Nach Dekkers Buch kann man aber mit guten Gründen daran zweifeln, dass die neuen Formen medialer Vernetzung die Ursache davon sind. Hier trifft er sich auch mit den Autoren, die sich in dem Band "Bildwerte" äußern. Sie alle bemühen sich darum, die neuen technischen Entwicklungen und ihre Folgen für Menschen konkret in all ihren Ambivalenzen zu betrachten. Manche abstrakten Theorien stehen ihnen dabei jedoch auch im Weg. Vor allem Dekker mit seinen ambitionierten Diskussionen vorwiegend französischer Raum- und Körpertheorien, aber auch manche Autoren des zweiten Bandes machen es so dem Leser nicht leicht, zum Kern der Aussagen zu kommen. Schade, denn sie sind durchaus spannend und weiterführend.

    Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gott (Hg.): Bildwerte.
    Visualität in der digitalen Medienkultur.
    transcript Verlag, Bielefeld, 2012; 338 Seiten, 32,80 Euro

    Arno Dekker: Online-Sex.
    Körperliche Subjektivierungsformen in virtuellen Räumen.
    transcript Verlag, Bielefeld 2012; 322 Seiten, 33,80 Euro